Es gibt sie, diese Mehrheit – aber wo ist sie hin?
mit Update 1.9.
Willy Brandt hatte den Begriff einst in einer Bonner TV-Runde geprägt. Das empörte Aufheulen von rechts bestätigte ihn in der Cleverness dieser Begriffsprägung. Allein: eine inhaltliche und strategische Füllung des Begriffs stand aus – bis heute. Die Leere ist noch leerer geworden, bis hin zum Verschwinden einer Opposition links der CDU/CSU. Stattdessen ist es mit Hilfe des Game-Changers Corona gelungen, alles so weit nach rechts zu verschieben, dass hier die CDU/CSU-geführte Regierung ist, und dort die rechten Verschwörungsliebhaber.
Die Angst und das Bedürfnis nach Sicherheit ist in der prekären Schicht politische Klasse weit mehr ausgeprägt, als in der Zivilgesellschaft hier draussen. Vieles spielt da zusammen. Materialistische Analysen sind ausgestorben, politische Zusammenhänge brüchig. Die Parteien lassen sich von Marktforschungsfirmen und Medienkonzernen anleiten, und sehen heute aus, wie die Autos nach dem Test im Windkanal: ziemlich ähnlich. Die Politiker*innen bewegen sich in selbstreferentiellen Blasen – die Bundespolitik auf einer Insel Berlin mit Null Urbanität drumrum. Das Ich bestimmt die Richtung. In der eigenen Partei, sogar in der eigenen Parteiseilschaft, werden die “schärfsten” Konkurrent*inn*en verortet. Solidaritäten schmilzen mit “politischen Gemeinsamkeiten” schneller dahin, als Alpengletscher und Arktiseis. Strategische gesellschaftliche Arbeitsteilung, wie sie Willy Brandt und die alten Volksparteien noch kannten, ist auf dieser Grundlage unmöglich.
Das rächt sich gegenwärtig fürchterlich. Über das Corona-Virus ist uns gegenwärtig mehr unbekannt als bekannt. Seriöse Wissenschaftler*innen gestehen das offen. Wenn es nicht so wäre, gäbe es längst einen Impfstoff. Auf dieser seifigen Grundlage ist in der Praxis Vorsicht besser als Nachsicht. Darum trage ich Maske und halte Abstand – aus Einsicht. Dennoch muss Streit nicht nur erlaubt sein, sondern auch öffentlich ausgetragen werden. Wird er aber nicht, auch ein fatales Versagen der meisten Medien hierzulande, der angeblichen “vierten Gewalt”.
Stattdessen dominiert binäres Denken und Streiten – ebenfalls weil Medien, kommerzielle haben dafür ein materielles Motiv, öffentlich-rechtliche scheinen “nur” zu doof, das so lieben: Duelle, X gegen Y, “Wir” gegen “Die”. Dass sich alle demokratischen Parteien da willig einspannen lassen, ist das eigentliche Versagen der gegenwärtigen bürgerlichen Demokratie.
Das Virus muss nicht geleugnet werden, um die Corona-Politik der Regierung zu kritisieren und gegebenenfalls zu korrigieren. Regelrechte Panik brach unter Linken und Grünen aus, als Bodo Ramelow mal seinen Kopf aus dem Fenster der Burg reckte. Es entstand ein öffentlich tolerierter Rahmen, dessen Enden von Armin Laschet und Markus Söder bestimmt und bespielt wurden. Personen, die ihrerseits derzeit nichts anderes im Sinn haben, als ihre von Marktforschungskonzernen ermittelten Sympathiewerte.
Allein nach Lektüre der “Schule digital”-Reihe bei heise-online müssten diese Kerle, die das als Ministerpräsidenten zu verantworten haben, politisch komplett erledigt sein; stattdessen schwimmen sie ganz oben.
Dann gibt es noch Soloselbstständige wie Karl Lauterbach und Boris Palmer. Sie rahmen sich selbst, indem sie sich individuell bewusst von ihrem scheinbaren Kollektiv (SPD bzw. Grüne) absetzen – sie wollen “unkontrollierbar” und damit “mutig” erscheinen – beide aber rechts konnotiert. Lauterbach, weil ihm Einschränkungen noch nicht weit genug gehen; Palmer, weil er framte, dass Alte und Kranke ja sowieso irgendwann sterben.
Im öffentlichen Diskurs nicht repräsentiert sind Menschen, die zu Nonkonformismus, Ungläubigkeit, Misstrauen gegen “die da oben” neigen, und nicht alles glauben, nur weil es in der Zeitung steht oder “im Fernsehen” kam. Zur Weiterentwicklung einer guten Demokratie sind das vorteilhafte Charaktereigenschaften. Welcher Klammerbeutel mag die demokratischen Parteien nur gepudert haben, dass sie solche Menschen den Rechten zutreiben? Sie lassen ein diskursives Vakuum entstehen, das die Rechten intelligent erkennen, und darin Mao-artig zu schwimmen beginnen.
Die Kritik von Claudia Roth oder Heribert Prantl ist richtig. Wer keinen Abstand zu Faschist*innen hält, ist demokratisch nicht kreditwürdig. Antifaschistischer Konsens ist aber noch nie vom Himmel (auch nicht aus dem Palast der Republik oder gar dem Staatsratsgebäude) gefallen. Er musste und muss immer erkämpft werden. Das gelingt nicht durch Proklamationen in Talkshows und Interviews, sondern nur durch gesellschaftliche Praxis – hier ein kluger Mann, der das genau weiss. In den USA, schon in den Trump-Brunnen gefallen, muss es mühselig und kämpferisch eingeübt werden. Wo ist die gesellschaftliche Praxis der deutschen, demokratischen Parteien?
Lesen Sie zur Einordnung des Berliner Geschehens auch dieses Interview der Berliner Zeitung mit dem TU-Professor Peter Ullrich, sowie das DLF-Interview mit Johannes Hillje (Audio 5 min).
Update 1.9.: eine ausgezeichnete, sehr informative und ideologische Tiefenströme reflektierende Reportage von der Berliner Demo liefert Gerhard Hanloser/telepolis.
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