Die Ergebnisse der Bundestagswahl sind zum ersten mal seit langer Zeit auch gegen 1.00 des Folgetags noch offen. Deshalb sind Prognosen über die künftigen Konstellationen nur mit großem Vorbehalt möglich. Gleichwohl lassen sich an den aktuellen Trends und möglichen Ergebnissen schon einige Tendenzen ablesen und interpretieren. Schauen wir uns die Ergebnisse der Parteien an:
Die SPD
und allen voran Olaf Scholz sind der deutliche Wahlsieger. Scholz ist es gelungen, die SPD aus einem Jammertal von 15 auf 25,8 Prozent zu bringen. Egal, ob er am Ende die Nase vorn hat – und danach sieht es derzeit aus – hat er die SPD aus dem Abseits des politischen Niedergangs wieder in die erste Liga zurück gebracht. Dabei fällt auf, dass die Union die meisten Stimmen an die SPD verloren hat. Die SPD hat also eine strukturkonservative, auf Sicherheit bedachte Wählerschaft gewonnen. Seine Strategie, wer die beste und verlässlichste Merkel-Kopie stellt, ist voll aufgegangen. Das bedeutet nicht, dass er von vornherein einen natürlichen Anspruch hätte, zu Koalitionsgesprächen einzuladen, denn die herkömmlichen Muster der Koalitionsbildung sind aufgebrochen. Das könnte auch die SPD intern überraschen, denn sowohl Kevin Kühnert, als auch Saskia Esken und NoWaBo scheinen bisher zu glauben, dass sich die bevorstehenden Koalitionsverhandlungen in den eingefahrenen Bahnen früherer Gespräche bewegen würden – der Vorsitzende der größten Partei oder die amtierende Kanzlerin lädt ein und hält Hof. So wird es 2021 nicht laufen.
CDU/CSU
Krachende Verlierer der Wahl sind eindeutig die CDU und CSU mit ihrem Spitzenkandidaten Armin Laschet. Selbst wenn es die Union bis zum amtlichen Endergebnis noch schaffen sollte, mehr als 24,5 % zu bekommen, ist sie als Volkspartei, ähnlich wie die SPD bereits vor vier Jahren, gescheitert und fährt das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Dass Armin Laschet in dieser Situation fordert, Verhandlungen mit Grünen und FDP um eine Regierung mit ihm als zukünftigem Bundeskanzler zu führen ist schon Chuzpe. Wie ausgeliefert er dem Erfolg ist, zeigt seine einzige Chance auf eine Jamaika-Koalition, an der sein persönliches politisches Schicksal hängt. Denn es ist nicht einmal gesichert, dass er überhaupt ein Bundestagsmandat bekommt. Zwar steht er auf Platz eins der NRW-Landesliste der CDU, aber ob die überhaupt zieht, steht völlig in den Sternen. Er könnte also nicht einmal Fraktionsvorsitzender einer CDU/CSU Opposition werden, weshalb er schon vorgebaut hat, die Koalitionsgespräche “als CDU-Parteivorsitzender” führen zu wollen. Diese katastrophale Ausgangssituation für Verhandlungen könnten wiederum Grüne und FDP ausnutzen, um in ihm einen windelweichen Verhandlungspartner zu finden, der nichts zu verlieren hat, als die eigene Karriere. Verdient hätte es die CDU/CSU nicht, zu regieren, denn sie hat nicht zuletzt mit der dummen “gegen Links” Kampagne ihre Ideen- und Zukunftslosigkeit unter Beweis gestellt.
Bündnis 90/Die Grünen
Mit 14 Prozent sind die Grünen der zweite Sieger dieser Bundestagswahl. Das ist ein realistisches, ein gutes Ergebnis und es wäre ein Fehler, sich vor den blendenden Umfragen des Frühjahrs täuschen zu lassen, als die Union tief im Streit lag und die Grünen souverän ihre Spitzenkandidatur in Harmonie ausmachten. Sicher hat Baerbock Fehler gemacht, aber sie hatte es auch mit einer beispiellosen Kampagne von Industrieverbänden, konservativen Publizistenkreisen bis hin zu persönlichen Diffamierungskampagnen in den (a)sozialen Netzwerken und deutlich überbewerteten Umfragen.
Direktmandate für Sven Lehmann in Köln, Katrin Uhlig in Bonn, Cem Özdemir in Stuttgart stehen für die eigenständige Stärke der Ökopartei. Ohne die Grünen wird nichts gehen, aber schon auf der Siegesfeier am Wahlabend ließ die Körpersprache der beiden Parteivorsitzenden Habeck und Baerbock künftige Konflikte erahnen, als Robert Habeck seine Co-Vorsitzende dominant umarmte, zeigte sie deutliche Abwehrreflexe. Sie und die Grünen Frauen tun gut daran, wachsam zu sein, damit nicht Habeck, der sie zwar nicht öffentlich kritisiert, nun zu einsamen Entschlüssen neigen und seine Männerfreundschaft zu Christian Lindner nutzen könnte. Denn schon einmal, in Schleswig-Holstein kam ein Jamaica-Bündnis zustande, indem damals Wolfgang Kubicki mit Robert Habeck gemeinsame Positionen ausgelotet haben, bevor es zum Dreierbündnis mit der CDU kam. Bereits in den Wahlrunden wurde klar, dass sich Grüne und FDP bald im Vorfeld treffen werden und als Überraschungscoup tauchte neben Robert Habeck auch Johannes Vogel (FDP) in den Tagestheman bei Karen Miosga auf. Sicher kann es nur sinnvoll sein, wenn die beiden kleineren Koalitionspartner eines Dreierbündnisses eventuelle Gemeinsamkeiten ausloten und Trennendes isolieren. Aber den Grünen sollte dabei klar sein, dass sich FDP und CDU als natürliche Bündnispartner betrachten und nahezu zwei Drittel der grünen Wähler*innen Rot-Grün oder gar Rot-Grün-Rot präferieren.
Die FDP
Die FDP ist nach den derzeitigen Hochrechnungen mit 11,6% ungefähr dort gelandet, wo sie von den Umfragen vermutet wurde. Sie ist nach den Grünen quasi der dritte Wahlsieger. Weil sie nun weit über ihre 11% hinaus glaubt, dass sie Einfluss in der nächsten Bundesregierung haben wird, egal, ob unter SPD- oder CDU-Führung, wird sie ein schwieriger Koalitionspartner. Anders als die Grünen, die trotz hervorragendem Ergebnis zur übertriebenen Selbstkritik neigen, können Lindner und co. nach diesem Ergebnis vor Kraft kaum laufen. Zumal nach dem schlechten Ergebnis der Linken wohl eine disziplinierende Drohung der Rot-Grün-Rote Koalition rein arithmetisch ausgeschlossen sein dürfte. Interessant, dass sich am Wahlabend keine einzige liberale Frau zu sehen war. Strack-Zimmermann fehlte, Suding hat sich zurückgezogen und Teuteberg wurde abgesägt … der Männerclub FDP agierte recht einsam. Die Grünen werden offensichtlich mit einer Boygroup koalieren müssen. Aber es ist ein Fortschritt gegenüber 2017, dass Grüne und FDP geloben, die Koalitionsverhandlungen anders als damals zu führen und dass dies auf gleicher Augenhöhe angelegt ist. Einer Augenhöhe, bei der hinter den Grünen vor allem die gesellschaftliche Macht von “Fridays for Future”, hinter der FDP die geballten Interessen des Kapitals und der Berliner Lobbyisten stehen.
Die Linke
Das Ergebnis war – der parlamentarische Geschäftsführer hat es richtig beschrieben: Scheiße. Die Linke hat erschreckend schlecht abgeschnitten und kann nur dank der Tatsache, dass sie wieder drei Direktmandate erobert hat, als Fraktion in den Bundestag einziehen, obwohl sie insgesamt unter 5% der Zweitstimmen gefallen ist. Der jahrelange Flügelstreit und Zweifel an der Kompromissfähigkeit der pragmatischen Linken haben der Partei trotz des soliden Kurses der “Realos” um Bodo Ramelow und Fraktionschef Dietmar Bartsch und einer eloquenten und erfrischend präzise formulierenden Vorsitzenden Janine Wissler dramatisch verloren. Ihre Rolle als Protestpartei ist angesichts der vielfältigen Rechten und linken, querdenkenden und sonstigen Spinnern und Sektierern ausgespielt. Das schlechte Ergebnis wird, das ist zu hoffen, zu einer längst überfälligen und ehrlichen innerparteilichen Diskussion führen, wo die Linie einer linken, kritischen, menschenrechtlichen, sozialen und zur Regierungsteilhabe entschlossenen Linkspartei liegen wird.
AfD
Die faschistische AfD hat sich auf dem Niveau von 10 Prozent plus stabilisiert. Dass ihre Frontfrau Weidel die Wahlverluste gar in Gewinne umzudeuten versuchte, indem sie die Wahlergebnisse des irrlichternden Söder-Koalitionspartners Aiwanger und die Ergebnisse der Schwurbler und Corona-Leugner der “Basis” für die AfD in Anspruch nahm, macht das Ergebnis nicht weniger erschreckend. Offensichtlich kann sich der braune Sumpf in Deutschland auf ein stabiles Potenzial von 10% stützen. Ein Problem für das politische System und ein Problem der Politik auf allen Ebenen.
Nichts wird, wie es war
Es war von Anfang an klar, dass Merkels Amtsende die Republik vor eine ganz neue Situation stellen wird. Zwei Parteien um 25%, die fast gleichauf liegen, zwei Parteien, die zwar kleiner, aber zusammen auch um 25% groß sind als Koalitionspartner, und eine Regierungsbildung, bei der Termine von außen – G7-Gipfel, Europa, den Verhandlungen um die Bekämpfung der Klimakrise auf internetionaler Ebene als Handlungstreiber von außen wirken – die Bürger*innen dürfen gespannt sein, wie die neuen Berliner Akteur*innen das lösen. Eins scheint zumindest sicher zu sein: Die nächste Bundesregierung wurd nach neuen Regeln zustandekommen – ohne Druck von außen etwa durch Klimaaktivist*innen und Bürgerrechtler*innen wird es nicht gehen.
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