mit Update nachmittags
Die Lauten und die Leisen unterscheiden lernen
Im Medienstrom wächst die Dominanz der von Konzernmonopolen algorithmisch getakteten asozialen Medien. Der Takt wird bestimmt von den Lauten, den Spektakulären. Der freie, gleiche und geheime Wahlakt ist die Gegenwehrchance der Leisen. Das wissen die Lauten ganz genau, und versuchen sie zwischen den Wahlen dahin zu treiben, wo sie sie haben wollen. Das wird öffentlicher Diskurs und gelegentlich Wahlkampf genannt. Das ist nicht frei, gleich und geheim, sondern das Gegenteil. Demokratien müssen das aushalten. Sie können es, wenn es gut läuft, regulieren. Der gestrige Wahl- und Abstimmungstag brachte dazu wichtige Erkenntnisse.
Zuerst die Schlechten. Die BRD hat jetzt wie die USA ihre “Südstaaten”. Das erkennen Sie an der Landkarte der Direktwahlkreise. Wie immer sind die Bilder und ihre Farbgebung beeindruckend. Die Konservativen werden sich in den nächsten Monaten quälend zerlegen. Die Lauten werden obsiegen. Die Konservativen werden sich in der Opposition nicht “regenerieren”, sondern radikalisieren. Sie sind keine fairen Verlierer. Dazu fehlt ihnen jede Fähigkeit. Sie werden im Bündnis mit den ihnen noch nahestehenden Medien, insbesondere dem kommerziell durch seine erfolgreiche Digitalisierung prosperierenden Springerkonzern und Teilen der FAZ-Verlagsgesellschaft (abzuwarten bleibt die Strategie des TV-Konzerns Pro7Sat1, dessen grösster Aktionär der Berlusconi-Clan ist), eine lautstarke rechte Fundamentalopposition gegen eine Ampelkoalition (“Klimaregierung”???) unter Olaf Scholz formieren. Die FDP wird in dieser Koalition versuchen, den Brückenkopf zu bilden. Ob sie das stärkt oder schwächen wird, bleibt angesichts ihrer dazugewonnenen jungen FDP-Wähler*innen abzuwarten.
Olaf Scholz wird seine Freude haben. Er weiss: die Rechten verlieren so jede Fähigkeit zur Mehrheitsbildung. Er bleibt für das Grosskapital alternativlos. Die ökonomisch Herrschenden müssen sich mit ihm arrangieren. Die schaffen das, nur wenige schmerzt es.
Und nun das Gute
Die Klimaaktivistin Carla Reemtsma war der leuchtende Morgenstern der gestrigen TV-Düsternis. Als Repräsentantin einer starken gesellschaftlichen Bewegung brachte sie über die Rampe, dass eine sich so proklamierende “Klimaregierung” kein leichtes Leben erwartet. Der Blick der Öffentlichkeit wird strenger werden. Das setzt die Grünen unter Leistungsdruck. Den brauchen sie, um nicht in eine ihrer zahllosen Selbstreferenzialitäten zu verfallen. Die lauten Forderungen von Fridays For Future müssen die isolierte Hauptstadtblase kontinuierlich beschallen. Dass das möglich ist, ist schon bewiesen. Diese Wahl war nur ein Zwischenschritt.
Das erfreulichste Ergebnis war gestern das klare Ergebnis des Berliner Volksentscheides zur Enteignung grosser Wohnungskonzerne (56:39). Selbstverständlich wird das Ergebnis von seinen mächtigen Gegnern angegriffen werden. Ich glaube auch nicht, dass die entscheidenden Siege vor deutschen Richtern zu erringen sind, wenngleich der eine oder andere auch nicht komplett auszuschliessen ist. In diesem Feld wird es darauf ankommen, die lokale Begrenzung auf das Hauptstadtdorf zu sprengen. Wenn das Rheinland schlau ist, formiert es ein ähnliches Basisbündnis bis hinein ins Ruhrgebiet. Ja selbst Westfalen, mit seinen sog. “Metropolen” Münster und Bielefeld, ist von diesem sozialen Sprengstoff betroffen.
Die Baupolitik und die mit ihr verbundene Machtfrage ist gleichzeitig einer der wichtigsten klimarelevanten Sektoren. Es liegt also nahe, hier die Bemühungen um soziale und politische Bündnisse zu intensivieren. Diese Bemühungen werden nicht von den gesellschaftlich immer schwächeren Parteien ausgehen. Um so leichter werden sie zu beeindrucken sein. Darauf kommt es nun an, wenn sie sich mit giffeyartigem “Prüfen” herauszuwinden versuchen. Eine intelligente Linkspartei – welche auch immer, wär’ mir egal – würde jetzt schon mit Blick auf die NRW-Landtagswahl im Frühjahr an einem Entwurf für ein Landes- oder noch besser Bundesgesetz arbeiten, um Enteignungen am Gemeineigentum Grund und Boden möglich zu machen.
Und übrigens: das nach Einschätzung meines alten Freundes Georg Hundt “reaktionärste Land in Europa”, die Schweiz, stimmte gestern mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für die “Ehe für alle”. Natürlich nur für die, die überhaupt eine Ehe wollen. Nach dem Frauenwahlrecht (1971) der nächste Schritt. Fortschritt.
Update nachmittags
Die (allzu) Leisen
Die “den Laden am Laufen halten” haben gestern schätzungsweise mehrheitlich wieder nicht gewählt. Zu meiner positiven Überraschung ist die Wahlbeteiligung nicht wieder gesunken, sondern stagniert. 24% waren nicht dabei. Weitere Millionen mit Migrationsgeschichte hatten kein Wahlrecht. Ich hatte gestern schon auf das DLF-Gespräch mit dem Soziologen Oliver Nachtwey hingewiesen, von dem es jetzt eine stark geraffte Textfassung gibt. Hören Sie es sich lieber an (12 min), es lohnt sich. Nachtwey analysiert kühl, er verzichtet auf Eiferertum und Agitation. Ähnlich der linke Genosse Horst Kahrs/bruchstuecke mit seiner Wahlanalyse.
Ich bin jetzt 64, Hinter mir kommen noch sieben weitere anwachsende Jahrgänge, die, bevor sie wegsterben, mehrheitlich noch krank und pflegebedürftig werden. Die “den Laden am Laufen halten” vermehren sich dagegen nicht. Niemand bewirbt sich für ihre Jobs: harte Arbeit, schlechte Bezahlung. Den Job machen nur die, die keine andere Chance haben. Junge Menschen von heute wissen nicht, was nächstes Jahr ist, geschweige in den nächsten 5-10 Jahren. Der real existierende Kapitalismus, ob klimakatastrophal oder demnächst “grün”, bietet keine Planungssicherheit. Wer macht unter diesen Umständen Kinder? Wenige, und von denen noch viele ohne Absicht. Das “System” macht keine Anstalten sich sozial zu transformieren. Warum sollte ein Professor lieber Erzieher werden? Lieber kleine Kinder als doofe Erwachsene zu lehren, könnte schöner sein – wenn er (oder sie) sein Gehalt mitnehmen könnte. (Haha, war’n Scherz – keine Angst!) Es gibt tausende, ja Millionen Menschen, die würden solche Jobs gerne machen. Sie müssten die Sprache lernen, ihre schwarzen Haare blondieren, ihre Haut weiss anmalen und ihre Religion da lassen, wo sie ist. Dann gäbe es evtl. unter bestimmten Assimilationsumständen eine Mehrheit der Deutschen von Söder bis Wagenknecht, die bereit wäre sie reinzulassen.
Oder, die “den Laden am Laufen halten” bekommen ihr Gehalt verdoppelt bis verdreifacht und ihre Arbeitszeit verkürzt. Oder beides? Wer will das bezahlen? Bitte einmal aufzeigen! Sie meinen: wieder ein Scherz? Gestern Abend in der Glotze war niemand dabei. Was wäre denn die realistische systemkonforme Alternative? Wüsste ich wirklich gerne …

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net