Der Neuköllner Artspace „Apartment Project“ ist selbst von Istanbul nach Berlin gekommen. Dort erzählen jetzt Autorinnen über die emotionale Seite von Migration
„All my memory is and was built in Istanbul. Sound, smell, taste, touch shaped there. I am full with Istanbul“. Erst weiß man nicht genau, woher die Stimme kommt. Bis man die kleinen Lautsprecher an der Decke bemerkt, aus denen Satzfetzen wie diese dringen. Ein Gefühl von Heimat, Erinnerung und Wehmut wird den ergreifen, der durch den cineastisch anmutenden Parcours illuminierter Leinwände in dem kleinen Artspace „Apartment Project“ an der Sonnenallee streift. 2021 jährte sich das 1961 geschlossene deutsch-türkische Anwerbeabkommen zum sechzigsten Mal. Anders als viele Ausstellungen derzeit, greift das Projekt „Akis“, zu sehen im Apartment Project, die sozialen und materiellen Folgen dieser Wanderungsbewegung auf. Es geht um die immaterielle Seite dieser bis heute andauernden Wanderung: Gefühle, Gedanken, Gemütszustände. Das türkisch-arabische Wort, das den Titel für die Ausstellung hergibt, bedeutet nämlich Echo oder Schatten. So flüchtig und schemenhaft wie diese Gefühle sind, so kommt auch dieses emotionale Mapping daher.
Transparente Folien
Zwischen stählerne Baugerüste sind transparente Folien gespannt, auf denen in Großaufnahme die Künstlerinnen der Schau projiziert sind, während sie Texte lesen, deklamieren oder performen. Mal wirken sie wie Gespenster oder aufblitzende Schatten, mal sind sie wie hinter Milchglasscheiben oder durch einen Nebel zu erkennen. Dann wieder stehen sie mahnend wie griechische Statuen. Vom Eingang des Artspace oder durch die großen Schaufenster von der Straße aus gesehen, überlappen sich alle Sequenzen zu einer Videocollage. Subtil audiovisuell unterfüttert, ergibt sich der faszinierende Effekt, einen Raum sich überlappender Empfindungen zu durchschreiten.

Apartment Project ist das Kind von Selda Asal. In Istanbul avancierte die Videokünstlerin aus Izmir mit ihrem 1999 gegründeten Kunstraum und seinem prozesshaften, interdisziplinären Teamwork zu einer Pionierin der zeitgenössischen Kunstszene.

2013 gehörte sie zu den Unterzeichnerinnen der Soli-Adresse türkischer Künst­le­r:in­nen für die Gezi-Bewegung. Als danach künstlerisches Arbeiten in der Türkei immer schwerer wurde, verlegte sie ihr schon seit 2012 auch in Berlin präsentes Projekt komplett an die Spree.

Seither ist Apartment Project zu einer Anlaufstelle nicht nur der türkischen Künstler:innen-Diaspora geworden, sondern auch zu einem Ort interdisziplinärer Begegnungen über die bildende Kunst hinaus. In dem jüngsten Projekt begegnen sich Kunst, Literatur und Musik. Die 1978 in Istanbul geborene Künstlerin Ceren Oykut ist genauso dabei wie die in Berlin geborene Musikerin Dilek Ölcüm oder die 1986 in Istanbul geborene ­Poetin Dilek Mayatürk. Deren Texte fächern die ganze Gefühls­palette auf. „Die frisch angeschaffte Bettdecke mit Kopfkissen, der Bettüberwurf und die Bezüge, all das hatte die Fahrt unwiderruflich zu einer Reise ohne Wiederkehr gemacht“, erinnert sich die Schriftstellerin Menekşe Toprak an den Tag der Ausreise nach Deutschland.

„What did I leave in Istanbul. It is all about landing. Once I am here, is there a way back?“, fragt sich dann wieder die Künstlerin Seçil Yersel. Sie wird das Gefühl nicht los, „always being at the moment of arriving“, immer im Ankunftsmoment zu sein. Wenn sie in Berlin sei, laufe sie stets, mit den Erinnerungen an Istanbul im Gepäck, wie durch zwei Städte. Die Malerin Ceren Oykut beginnt Zypressen zu zeichnen, seit Kindertagen das Symbol ihrer Heimatstadt. Die Vielzahl widerstreitender Emotionen täglich zu managen, vermittelt allen das Gefühl: „Migration is a full-time job.“

„Normalerweise arbeiten wir kollektiv“, erklärt Selda Asal die für Apartment Project charakteristische Produktionsweise. Ihre oft Wochen dauernden Workshops waren schon in Istanbul Legende. Wegen der Pandemie musste sie die Performances diesmal einzeln mit den beteiligten Künstlerinnen erarbeiten und aufzeichnen.

„Akis“ erschöpft sich nicht darin, die emotionale Zerrissenheit, die alle Generationen von Mi­gran­t:in­nen aus der Türkei verbindet, bloß zu beklagen. Auch wenn es mitunter schwerfällt, damit umzugehen. „I breathe in and breathe out feeling like an outsider everywhere, including the land I was born in, since I had known myself“ heißt es einmal melancholisch bei Ezgi Kılınçaslan.

Doch manchmal schlägt das Pendel dann doch in eine Richtung aus: „Du gehörst hierher, sagt eine Stimme in mir und ich wundere mich, dass ich das zum ersten Mal bemerke“, fuhr es der Autorin Menekşe Toprak eines Tages durch den Kopf.

„Akis“ im Apartment Project Space. Hertzbergstraße 13, Neukölln. Noch bis 4. 1. 2022. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).