Die Regierung will ein „modernes Staatsangehörigkeitsrecht“ schaffen. Die dazu im Koaliti­onsvertrag niedergelegten Ziele sind in der Tat ambitioniert: So soll „die Mehrfachstaatsan­gehörigkeit ermöglicht“ und der Weg zum „Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit ver­einfacht“ werden. Eine Einbürgerung soll in der Regel nach fünf Jahren möglich sein, bei besonderen Integrationsleistungen nach drei Jahren. In Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern werden mit ihrer Geburt deutsche Staatsbürger/innen, wenn ein El­ternteil seit fünf Jahren einen rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.

Auch den Angehörigen der sogenannten Gastarbeitergeneration soll die Einbürgerung er­leichtert werden. Das Erfordernis der „Einordnung in die deutschen Lebensverhältnisse“ soll durch klare Kriterien ersetzt werden. Die Regierung will sogar für die Möglichkeit zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit werben. Und „Einbürgerungsfeiern werden ausdrücklich begrüßt.“

Die Staatsangehörigkeit ist das rechtliche Band, das Bürger/in und Staat verbindet. Sie be­gründet verschiedene individuel­le Rechte wie Wahlrecht, Reisefreiheit und Ausliefe­rungsverbot, und sie gewährt im Ausland konsula­rischen Schutz. Erwartet wird die Re­spektierung der nationalen Rechtsordnung und die Zahlung von Steuern, ggf. die Ableis­tung der Wehrpflicht oder (wie gerade von der CDU gefordert) eines „Sozialen Jahres“. In einigen Staaten besteht Wahlpflicht.

Doppelte Staatsangehörigkeit kann doppelte Rechte und Pflichten bewirken. So können sich Doppelstaatler durch Wechsel in ihre andere „Heimat“ der Wehrpflicht oder einer Aus­lieferung entziehen; sie können im Kriegsfall dorthin wechseln, wo Frieden herrscht; sie dürfen in beiden Ländern an Wahlen teilnehmen; und sie können im Ausland von zwei Staaten diplomatischen Schutz erwarten. Vermutet wird, dass eine doppelte Staatsange­hörigkeit die Integration verlängert oder schwächer ausprägt, weil die Bindung an den „Erststaat“ erhalten bleibt, und dass deshalb keine volle Loyalität gegenüber dem zweiten Staat entsteht. Bei Inhaber/innen öffentlicher Ämter kann dies bedenklich sein.

Vor allem der Umstand, dass Personen mit doppelter Staatsangehörigkeit in zwei Ländern wählen dürfen, ist umstritten. Teilweise wird darin sogar ein Verstoß gegen den Gleich­heitsgrundsatz gesehen. Beim Verfassungsreferendum 2017 in der Türkei erzielte Erdog­an in einer von Wahlbetrug begleiteten Volksabstimmung die knappe Mehrheit von 51,4 %. Damit wurde das Präsidial­system eingeführt, das die Kompetenzen von Erdogan erheblich erweiterte. Seitdem kann er mit sogenannten Dekreten Politik machen. Bei die­sem Refe­rendum waren auch die im Ausland lebenden türkischen Bürger/in­nen stimmbe­rechtigt. In Deutschland votierten 63 % von ihnen für Erdogan und unterstützten damit ei­nen Despo­ten und seine Re­pression. In der Türkei waren es nur 49 %.

Erdogan hatte in Deutschland eine aufwändige Wahlkampftournee gemacht. Es ist nicht abwegig, zu vermuten, dass das Votum der hiesigen Türkinnen und Türken das Ergeb­nis maßgeblich beeinflusste. Statistiken besagen, dass in Deutschland rund 3 Mio. Menschen türki­scher Herkunft leben (einschl. Kurden/Kurdinnen), davon die Hälfte mit deutscher und rund 600.000 mit doppelter Staatsangehörigkeit. Das zweifache Wahlrecht erzeugt also zu Recht ein ungutes Gefühl. Man sollte einmal prüfen, ob im Rahmen des Erwerbs der zweiten Staatsbürgerschaft eine Option auf eines der beiden Wahlrechte verlangt wer­den kann.

Bundeskanzler Scholz begründet die Regierungspläne mit dem Hinweis, dass 50 Prozent der Einbürgerungen mit Hinnahme der Mehrstaatlichkeit stattfänden und es schwer zu er­klären sei, warum es bei den anderen nicht so sei. Es sei eben oft schwierig, die letzte Verbindung zum Herkunftsland zu kappen. Die Loyalität müsse aus einem selbst erwach­sen. Einen Gesetzentwurf gibt es noch nicht, doch soll noch in diesem Jahr ein Kabinetts­beschluss gefasst werden, so das im ersten Quartal 2023 ein Gesetz eingebracht werden kann.

Die Koalition sieht in der Doppelstaatsangehörigkeit keine Probleme, sondern (so ein SPD-Ab­geordneter) eine Frage der demokratischen Teilhabe und „ein Zeichen von Offen­heit und Zusammengehörigkeit zwischen allen Menschen, die in Deutschland ihre Heimat haben – für hier geborene Menschen und für Menschen, die sich im Laufe ihres Lebens für den deutschen Pass entscheiden.“ Deshalb sei es richtig, das deutsche Staatsange­hörigkeitsrecht mit dieser Perspektive zu modernisieren.

Schon im Mai 2020 hatte es im Bundestag eine Debatte über eine Reform des Staatsan­gehörigkeitsrechts gegeben. Dabei wurde ein Antrag der AfD abgelehnt, während An­träge der drei (damaligen) Oppositionsparteien an den Fachausschuss überwiesen wur­den. Die AfD bezog sich darauf, dass seit 2000 hier geborene Kindern ausländischer El­tern ein Anrecht auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben und nach Erreichen der Voll­jährigkeit wählen können. Dieses als befristete Ausnahme konzipierte Angebot habe sich seit 2014 als Dauerlösung etabliert, was zu einer großen und wachsenden Anzahl doppel­staatiger Personen geführt habe. Die AfD wollte daher eine Rückkehr zur Optionspflicht.

Die FDP forderte eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes vorlegen und „ein begleit­endes Gesamtkonzept zur Stärkung und Unterstützung der Integration von Einwan­derern als Voraussetzung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit“. Die Verleihung der deut­schen Staatsangehörigkeit soll dabei „konsequent von einer bereits erfolgten und ge­lungenen Integration“ abhängig gemacht werden, wobei „stärker auf die Rechte und Pflich­ten hinzuweisen ist, die mit einer Staatsangehörigkeit einhergehen“.

Die Grünen forderten, die Staatsangehörigkeit solle fortan auch durch Geburt im Inland erworben werden, wenn ein Elternteil rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im In­land hat. Den Optionszwang im Staatsangehörigkeitsrecht, nach welchem sich junge Men­schen mit doppelter Staatsbürgerschaft im Alter zwischen 18 und 23 Jahren zwischen dem deutschen und dem ausländischen Pass entscheiden müssen, will die Fraktion abschaf­fen. Die Mindestaufenthaltsdauer solle auf fünf Jahre herabgesetzt werden, für anerkannte Flüchtlinge auf drei Jahre.

Nach Ansicht der Linken soll die Mehrfachstaatsangehörigkeit künftig akzeptiert werden und die Pflicht zur Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit bei der Einbürgerung ent­fallen. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt soll erleichtert werden. Einbürgerungsberechtigt sollten all diejenigen sein, „die seit mindestens fünf Jahren ihren tatsächlichen Lebensmittelpunkt in Deutschland haben, sofern sie zum Zeitpunkt der An­tragstellung über einen rechtmäßigen Aufenthaltstitel verfügen“.

Diese Darlegungen belegen die Breite der Handlungsmöglichkeiten bei einer Rechtsre­form. Ein Großteil davon wird sich wohl in dem von der Koalition angekün­digten „moder­nes Staatsbürgerschaftsrecht“ wiederfinden. Die derzeitige Rechtslage bei Kindern in Deutschland ist wie folgt: Im Inland geborene Kinder mit mindestens einem Elternteil mit deutscher Staatsbürgerschaft werden automatisch deutsche Staatsbürger. Ein hier gebo­renes Kind kann auch dann die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, wenn mindes­tens ein Elternteil schon acht Jahre lang in Deutschland lebt und einen unbe­fristeten Auf­enthaltsstatus genießt.

Trifft dies nicht zu, kann sich das Kind einbürgern lassen, allerdings frühestens nach acht­jährigem legalen Aufenthalt, Sprachtest und Einbürgerungstest. Eigentlich muss dann ei­gentlich die alte Staatsbürgerschaft aufgegeben werden. Seit 2014 müssen sich Angehöri­ge von Drittstaaten jedoch nicht mehr zwingend zwischen eigener und deutscher Staats­bürgerschaft entscheiden. Im Jahr 2016 haben etwas mehr als die Hälfte (57,8 Prozent) aller in Deutschland Eingebürgerten von dieser Option Gebrauch gemacht und ihre alte Staatsbürgerschaft behalten.

Ein Blick in andere Länder zeigt, dass es vielfältige Methoden für den Erwerb der Staats­angehörigkeit gibt. Das Völkerrecht besagt, dass „jeder Staat nach seinem eigenen Recht bestimmt, wer seine Staatsangehörigen sind.“

# Da ist zunächst der Erwerb der Staatsbürgerschaft durch Abstammung. Ein Kind be­kommt die Staatsbürgerschaft der Eltern, unabhängig von dem Land, in dem es geboren wird. In Deutschland ist dies die vorherrschende Praxis.

# Beim Geburtsortprinzip erhält das Kind die Staatsangehörigkeit des Staates, in dem es geboren wird. Diese Regelung gilt z.B. in den USA und in Frankreich (ab Erreichen der Volljährigkeit). Sie wird vor allem von Einwanderungs­ländern praktiziert.

# Der dritte Weg ist die (freiwillige) Einbürgerung. Die Erfordernisse werden von dem je­weiligen Staat festgelegt. In wenigen Staaten sind die Bedingungen recht gering, z.B. aus ethnischen Gründen oder aufgrund der Überlegung, dass Steuerzahlenden der Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtert werden soll. Manchmal genügt dann eine schriftliche Er­klärung.

Neben diesen üblichen Verfahren gibt es Besonderheiten: In manchen Ländern kann die Staatsbürgerschaft durch finanzielle Leistungen (Investitionen) erworben, also gekauft werden. Dazu zählen z.B. Australien, Bulgarien, Malta, Neuseeland, die Türkei und Zy­pern. Hier trifft man dann die sogenannten Oligarchen. Das EU-Parlament hat im Frühjahr 2022 Maßnahmen für ein Verbot der Vergabe solcher „Goldenen Pässe” durch EU-Staaten eingeleitet. Die Familien solcher Einbürgerungsinteressent/innen und die Herkunft ihres Vermögens müssten streng überprüft werden.

Einige wenige Staaten vergeben Ehrenstaatsbürgerschaften für besondere Verdienste (auch militärischer Art), zumeist frei von Verpflichtungen. Frankreich, Großbritannien und die Niederlande haben während und nach ihrer Kolonialzeit Einheimischen den Erwerb der Staatsbürgerschaft ermöglicht bzw. erleichtert. Großbritannien bietet diese derzeit den Ein­wohner/innen von Hongkong an. # Die aus religiösen Gründen aus Frankreich geflüchte­ten Hugenotten wurden 1700 per Gesetz preußische Staatsbürger/innen.

Wenn Regionen – aus welchen Gründen auch immer – einem anderen Staat zugeordnet werden, wechselt i.d.R. auch die Staatsangehörigkeit der Einwohner/innen. In El­sass-Lothringen mussten sich die Bürger/innen 1871 nach der Eindeutschung entscheiden, ob sie Deutsche werden oder das Land verlassen wollten. Russland vergibt/verordnet jenen Ukrainer/innen, die im Krieg nach Russland gingen/gebracht wurden, die russische Staats­angehörigkeit und bietet sie allen Ukrainer/innen an.

Manche Staaten verlangen, beim Erlangen ihrer Staatsangehörigkeit eine frühere aufzuge­ben. Eine Staatsangehörigkeit kann also auch verlustig gehen. Es gibt noch weitere Gründe: So war es früher vielfach üblich, dass eine Frau, die einen ausländischen Mann heiratete, ihre originäre Staatsbürgerschaft verliert.  In manchen Staaten kann man auf die Staatsbürgerschaft verzichten, jedoch nicht, um dem Wehrdienst zu entgehen.  Totali­täre Regierungen missbrauchen die Aberkennung der Staatsbürgerschaft, um politisch misslie­bige Bürger zu entrechten oder loszuwerden. Der belarussische Präsident Luka­schenko plant, allen Staatsangehörigen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, die sich im Ausland aufhalten und denen eine Verurteilung wegen extremistischer Tätigkeiten oder Verletzung staatlicher Interessen droht.

Auch in Deutschland gibt es Überlegungen, die Staatsangehörigkeit als Instrument einzu­setzen. So beschloss der Petitionsausschuss des deutschen Bundestages im Februar 2021, eine Petition mit der Forderung, dass kriminellen Clan-Mitgliedern die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen werden kann, wenn sie noch eine zweite besitzen, “als Ma­terial” an den Bundesinnenminister weiterzuleiten..

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.