Zur Debatte um den Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg: Stellungnahme der VDW auf der Basis der Arbeit der Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“
Ein Nuklearwaffeneinsatz ist seit 77 Jahren ein Tabu, das jetzt wieder in Frage gestellt wird. Wie bei der Kuba-Krise von 1962 stehen wir erneut vor einem gefährlichen Risiko eines Atomwaffeneinsatzes. Heute ist Europa sogar unmittelbar betroffen. In der Kuba-Krise konnte die nukleare Katastrophe durch eine Kombination von öffentlich kommunizierter Standfestigkeit auf der einen Seite, der Nutzung persönlicher Gesprächskanäle bei gleichzeitig signalisierter Verhandlungsbereitschaft der Parteien auf der anderen abgewendet werden. Auch heute ist beides notwendig.
Präsident Putin hat seit Kriegsbeginn mehrfach und zuletzt eindringlich mit dem Einsatz russischer Atomwaffen gedroht. Diese russische Rhetorik bezweckt vermutlich, den Westen von einer wirkungsvollen Unterstützung der Ukraine abzuschrecken, die Ukraine von entschiedener militärischer Gegenwehr abzuhalten und nationalistische Extremisten in Russland zu beschwichtigen. Mittlerweile hat sich die wechselseitige Drohrhetorik nach oben geschraubt. US-Präsident Biden warnt Russland massiv vor einem Armageddon und der ukrainische Präsident Selenskyj bringt Präventivschläge ins Spiel, um einen Atomwaffeneinsatz Russlands unmöglich zu machen.
Militärisch mussten die russischen Streitkräfte zuletzt Rückschläge in den von ihnen besetzten Gebieten hinnehmen. Die reale Gefahr besteht, dass aufgrund von Fehlkalkulationen oder absichtlich Nuklearwaffen von Russland eingesetzt werden, um kriegsentscheidende militärische Rückschläge zu verhindern.
Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die gefährliche Lage um das von russischen Streitkräften besetzte größte ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja, dessen Areal wiederholt von Raketen beschossen wurde. Die kämpfenden Seiten tragen hier die Verantwortung für die Verhinderung eines Nuklearunfalls.
Ein Abrücken des Westens von einer verantwortungsbewussten Unterstützung der Ukraine als dem Opfer eines völkerrechtswidrigen Angriffskrieges verbietet sich, weil das nuklearer Erpressung weiteren Aufwind geben würde. Die unbekümmerte Auffassung einiger Befürworter unbegrenzter Waffenlieferungen, Putins Rhetorik sei „ein Bluff“, ist gefährlich. Es ist nicht auszuschließen, dass Putin (auch unter dem Druck seiner politisch-militärischen Umgebung) taktische Nuklearwaffen als letzte Zuflucht vor einer Niederlage der russischen Streitkräfte in der Ukraine oder als Stoppsignal an den Westen einsetzen könnte, um diesen von seiner militärischen Unterstützung der Ukraine abzubringen. Der Westen könnte sich genötigt sehen, in irgendeiner Weise auf einen russischen Atomwaffeneinsatz zu reagieren. Ein Atomwaffeneinsatz der NATO würde aber eine unkontrollierbare Eskalation nach sich ziehen. Die Biden-Administration scheint ihre Überlegungen auf massive konventionelle Gegenschläge gegen russische Streitkräfte zu konzentrieren, die länger andauern würden. Dadurch würde die NATO allerdings unmittelbar in den Krieg mit hineingezogen. Putin bliebe dann angesichts der westlichen konventionellen Überlegenheit möglicherweise nur noch die Wahl zwischen Niederlage und weiterer nuklearer Eskalation. Ein möglicher Atomkrieg in Europa würde nicht nur Millionen Tote kosten, sondern auch große Teile Europas langfristig unbewohnbar machen. Atomwaffeneinsätze hätten zudem unkalkulierbare Wirkungen auf das weltweite Wetter-, Öko- und Klimasystem.
Beginn und Verlauf des russischen Einmarschs in die Ukraine lassen erkennen, dass solche Zusammenhänge in der russischen Entscheidungsfindung bisher offenbar eine geringe Rolle spielen. Umso mehr müssen sie in der westlichen Politik zur Geltung kommen. Das Vorsichtsprinzip gebietet, eine Eskalation des Ukraine-Krieges hin zum Nuklearkrieg unbedingt zu verhindern. Das Eskalationsrisiko muss Anstoß sein, die Kampfhandlungen schnellstmöglich zu beenden und diplomatische Lösungen für die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine auf den Weg zu bringen.
Dies wird Zeit in Anspruch nehmen. Ohne die Grenzen der Vergleichbarkeit der Kuba-Krise mit der gegenwärtigen Situation zu ignorieren, lässt sich festhalten, dass es in der Kuba-Krise, also in einer an Gefährlichkeit kaum zu überbietenden Konfrontation, möglich war, nicht nur eine weitere Eskalation des Konflikts zu verhindern, sondern auch ein Instrumentarium für eine über die unmittelbare Krise hinausgehende Vertrauensbildung und Verständigung der Konfliktparteien zu entwickeln. Die Kuba-Krise beförderte in erheblichem Maße die Bemühungen um Stabilität mittels nuklearer Rüstungskontrolle. Ein zentrales Element ist die Begrenzung des Risikos eines Atomkrieges auch aufgrund von Fehlwahrnehmungen und Fehlkalkulationen.
Unter dieser Perspektive ergeben sich die folgenden Anforderungen an einen verantwortbaren Umgang mit der gegenwärtigen Konfrontation:
– Aufbau und Intensivierung einer direkten Krisenkommunikation zwischen den Atomwaffenstaaten, insbesondere zwischen Russland, den USA und der NATO, um die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes auszuschließen. In diesem Sinne sollte die Bundesregierung auf Washington einwirken.
– Entschiedenes Hinwirken auf eine rasche Beendigung der Kriegshandlungen durch Russland. Hierzu kommt den USA eine besondere Rolle und Verantwortung zu, da Russland auf Augenhöhe mit den USA wahrgenommen werden will. Die Ukraine ist bei allen Schritten einzubinden.
– Die Verstärkung internationaler Bemühungen um eine diplomatische Beendigung des Krieges in der Ukraine unter Wahrung der Souveränität der Ukraine. Die Bundesregierung sollte ihre Bereitschaft zur zielführenden Unterstützung einer solchen Initiative erklären.
– Wiederaufnahme des amerikanisch-russischen Dialogs über strategische Stabilität und zur kooperativen Sicherheit mit Russland (u.a. auch im Hinblick auf das Auslaufen des New-START Vertrags 2026). Hierzu gehören der Verzicht auf die Stationierung neuer nuklearer und nuklearfähiger Trägersysteme in Europa als Verhandlungsangebot und ein sofortiger Verzicht auf die Stationierung neuer INF-Systeme (landgestützter Mittelstrecken) und Aushandlung eines Stationierungsverbots von Kurzstreckensystemen.
– Die Zusammenarbeit zur globalen Nichtverbreitung von Nuklearwaffen ist entschlossen fortzusetzen, insbesondere durch Hinwirken auf eine Wiederbelebung des Atomabkommens mit Iran (Joint Comprehensive Plan of Action) zur Verhinderung eines iranischen Atomwaffenprogramms, das erhebliche, auch für die europäische Sicherheit relevante Proliferationswirkungen im Nahen Osten und darüber hinaus entfalten würde. Zudem muss die Situation in Ostasien durch Einhegung und Zurückdrängung der Atomwaffenprogramme und Nuklearambitionen Nordkoreas entschärft werden.
Erarbeitet von der VDW-Studiengruppe „Europäische Sicherheit und Frieden“:
Prof. Dr. Lothar Brock, Frankfurt; Prof. Dr. Michael Brzoska, Hamburg; Dr. Hans-Georg Ehrhart, Bonn; Dr. Miriam Engel, Darmstadt; Dr. Ute Finckh-Krämer, Berlin; Brigadegeneral a.D. Helmut W. Ganser, Hamburg; Prof. Dr. rer. nat. Hartmut Graßl, Hamburg; Botschafter a.D. Rüdiger Lüdeking, Tangermünde; Dr. rer. pol. Hans-Jochen Luhmann, Wuppertal; Parl. Staatssekretär a.D. Dr. Hans Misselwitz, Berlin; Prof. Dr. rer. nat. Götz Neuneck, Wuppertal; Prof. Dr. Konrad Raiser, Berlin; Prof. Dr. Michael Staack, Hamburg; Prof. Dr. Jürgen Scheffran, Hamburg
Letzte Kommentare