Lula zum dritten Mal zum Präsidenten Brasiliens gewählt
Erleichterung war wohl das Gefühl, das sehr viele Leute empfanden, als am 30. Oktober gegen 21.30 Uhr brasilianischer Zeit feststand, dass Lula da Silva von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei PT die Stichwahl um das Amt des Staatspräsidenten gegen Jair Bolsonaro gewonnen hatte. Außer bei der extremen Rechten in Lateinamerika und weltweit wurde die Nachricht von Lulas Sieg fast überall mit großer Erleichterung zur Kenntnis genommen: von den sozialen Bewegungen in Brasilien über die kritischen Intellektuellen und progressiven Kräfte in ganz Lateinamerika bis zu den Regierungen in Washington, Paris und Berlin. Denn die Sorge, dass die Stichwahl hätte anders ausgehen können, war bis zuallerletzt groß gewesen.
Eigentlich hätte es ganz eindeutig sein müssen. Im ersten Wahlgang der brasilianischen Präsidentschaftswahlen am 2. Oktober hatte Lula da Silva 48,43 Prozent der Stimmen erhalten, der rechtsextreme Amtsinhaber Bolsonaro war auf 43,20 Prozent gekommen. Deutlich dahinter lagen Simone Tebet von der eher konservativen, aber ideologisch wenig festgelegten MDB mit 4,16 Prozent und Ciro Gomes von der sozialreformerischen PDT, für den 3,04 Prozent der Wähler*innen gestimmt hatten. Da Ciro Gomes umgehend und Simone Tebet nach wenigen Tagen erklärten, im zweiten Wahlgang für Lula votieren zu wollen, hätte dieser rein rechnerisch in der Stichwahl deutlich vor Bolsonaro liegen müssen.
Doch am Ende war es sehr knapp. Dank der elektronischen Stimmabgabe konnte jede*r auf der Website der Wahlbehörde TSE die Auszählung live verfolgen. Als gegen 22 Uhr mitteleuropäischer Zeit fast die Hälfte der Ergebnisse eingetroffen war, lag Bolsonaro noch wenig vor Lula. Erst als etwa 60 Prozent der Resultate vorlagen, zog Lula am Amtsinhaber vorbei und konnte seinen Vorsprung nach und nach etwas ausbauen. Am Ende hatte Lula 60.345.999 Stimmen (50,9%) bekommen, Bolsonaro mit 58.206.354 (49,1%) knapp zwei Millionen weniger. Gegenüber dem ersten Wahlgang waren das für Lula gut drei Millionen Stimmen mehr, während Bolsonaro rund sieben Millionen zulegte. Die Mehrheit der zusammen 8,5 Millionen Wähler*innen von Tebet und Gomes hatte also in der zweiten Runde für Bolsonaro gestimmt, der zudem noch Wähler*innen mobilisieren konnte, die im ersten Wahlgang zuhause geblieben waren.
Bereits im ersten Wahlgang hatte Bolsonaro besser abgeschnitten als von den Umfrageinstituten vorausgesagt. Während für Lula knapp 50 Prozent prognostiziert worden waren, die er auch erhielt, hatte man für Bolsonaro kaum mehr als 35 Prozent erwartet. Offensichtlich war es dem Rechtsextremisten gelungen, die große Mehrheit des liberalen und konservativen Lagers für sich zu mobilisieren und die meisten anderen bürgerlichen Kandidat*innen, denen immerhin Achtungserfolge (und damit gute Ausgangsbedingungen für künftige Urnengänge) zugetraut worden waren, zu deklassieren.
Dabei kam ihm zugute, dass in Brasilien bei der Frage, ob jemand rechts oder links wählt, die eigene ökonomische Situation und die Frage der sozialen Gerechtigkeit eine weniger große Rolle spielen als in anderen lateinamerikanischen Ländern. Klar, es gibt in Brasilien die ultrareaktionären Ober- und Mittelschichten, die mit Verachtung auf alle Armen hinuntersehen und jegliche Politik, die auf mehr sozialen Ausgleich zielt, verdammen. Die unterstützten vorbehaltlos Bolsonaro, viele nicht trotz seines faschistischen Auftretens, sondern gerade deswegen.
Sexistische und homophobe Ressentiments
Aber es gibt auch viele arme Brasilianer*innen, die die grassierende Alltagskriminalität, die Gewalt der die Favelas kontrollierenden Drogengangs und einen allgemeinen Sittenverfall (zumindest sehen sie es so) für die größten Probleme ihres Landes halten. Diese Leute fühlen sich in den evangelikalen Kirchen mit ihren strikten Moralvorstellungen und ihrer Betonung traditionell patriarchaler Familienideologien am wohlsten und unterstützen Politiker*innen, die lautstark erklären, sie würden mit harter Hand gegen das Verbrechen vorgehen. Dafür war und ist Bolsonaro die optimale Besetzung, denn er versteht sich bestens mit den evangelikalen Kirchenführern, bedient sexistische und homophobe Ressentiments und präsentiert sich als harter Hund im Kampf gegen Kriminelle.
Das wollen viele Leute hören, und es stört sie auch nicht, dass die Erfolge der Regierung Bolsonaro im Bereich öffentlicher Sicherheit mehr als bescheiden waren. In den Favelas regieren weiterhin die Mafiagangs. Zugenommen hat nur die Gewalt der Polizei vor allem gegen schwarze Jugendliche in den Armenvierteln.
Zudem konnte Bolsonaro auf einige Unterstützung aus der Unterhaltungsindustrie zählen. Während die meisten ernstzunehmenden Künstler*innen einen Bogen um ihn machten, sind viele Prominente aus den seichten Unterhaltungsshows, Endlosserien und auch dem Fußball auf seiner Seite. Bekanntestes Beispiel ist der im Dienst von Paris St. Germain stehende Fußballer Neymar. Als er 2019 von einer Frau der Vergewaltigung bezichtigt wurde, stellte sich Bolsonaro umgehend auf Neymars Seite und beteiligte sich am Versuch des Fußballers, die Glaubwürdigkeit der Frau zu untergraben. Neymar revanchierte sich, indem er nun im Wahlkampf für Bolsonaro die Werbetrommel rührte. Ziemlich beste Freunde eben.
Um neue Wähler*innen zu mobilisieren, verteilte Bolsonaro in der Zeit zwischen beiden Wahlgängen noch ein paar Geschenke. So wurden einige Sozialleistungen befristet erhöht und deren Auszahlung um eine Woche vorgezogen, damit sie noch vor der Stichwahl bei den Empfänger*innen ankamen.
Doch am Ende hat das alles nicht gereicht, um das Ruder aus Sicht des rechtsextremen Präsidenten herumzureißen und wie seine Vorgänger*innen Fernando Henrique Cardoso, Lula und Dilma Rousseff für eine zweite Amtszeit gewählt zu werden. Die Strategie Lulas, ein möglichst breites Bündnis zu schmieden, dem auch konservative, ja reaktionäre Leute angehören (vgl. Beitrag von Günther Schulz), ist aufgegangen, auch wenn es in den sozialen Bewegungen und seiner eigenen Partei umstritten war.
Was ganz anderes als Begeisterung – keine Neuausrichtung
Wenn ich im Vorspann dieses Beitrags die „Erleichterung“ bei den progressiven Bewegungen in Brasilien und Lateinamerika über den Wahlsieg Lulas erwähnte habe, drückt der Begriff auch aus, dass etwas ganz anderes als Begeisterung oder gar eine Aufbruchsstimmung bei Lulas Wähler*innen herrschen, wie sie bei seinem erstem Wahlsieg 2002 spürbar waren. Mehr als 13 Jahre PT-geführte Regierungen, die zweifellos soziale Verbesserungen für viele Brasilianer*innen bedeuteten, aber auch viele Enttäuschungen hinterließen, haben die Erwartungen an die neue Amtszeit Lulas deutlich heruntergeschraubt.
Ähnlich wie von Joe Biden erwarten viele von Lula, dass er einige reaktionäre Maßnahmen seines Vorgängers korrigiert und den ein oder anderen positiven Akzent setzt, aber mit einer grundsätzlichen Neuausrichtung der brasilianischen Politik rechnet niemand. Auch, weil der neugewählte Kongress in Brasilia noch weitaus reaktionärer zusammengesetzt ist als das auch schon konservativ dominierte Parlament in den ersten beiden Regierungsperioden Lulas. Und auch – dass müssen wir leider zur Kenntnis nehmen – weil die ohnehin im nationalen Maßstab nicht allzu starken sozialen Bewegungen Brasiliens heute eher noch schwächer agieren als vor zwei Jahrzehnten. Ein Ende der Entwaldungsorgie in der Amazonasregion und des Cerrado, das hoffen dennoch viele im In- und Ausland.
Normalerweise lassen sich US-Regierungen bei einem linken Wahlsieg reichlich Zeit, bis sie gratulieren und damit signalisieren, dass sie das Wahlergebnis anerkennen. Im Fall von Brasilien hat Joe Biden umgehend dem Wahlsieger seine Gratulation ausgesprochen und zugleich betont, dass die Wahlen korrekt und sauber waren. Das war vor allem an Bolsonaro und die brasilianischen Militärs gerichtet, um klarzumachen, dass die USA keinen Putsch akzeptieren. Es zeigt aber auch, dass die Regierung Biden von Lula nichts befürchtet. Auch der französische Präsident Macron und die deutsche Außenministerin Baerbock haben Lula umgehend gratuliert und betont, nun könne ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Europa und Brasilien beginnen. Damit drückten sie ihre Erwartung aus, dass es mit der neuen PT-Regierung bald zum Abschluss des von ihnen angestrebten Freihandelsabkommens zwischen der EU und dem Mercosur kommt, auch wenn sie sich in der jüngeren Vergangenheit öffentlich skeptisch im Hinblick auf dessen Folgen äußerten. Ein klares Bekenntnis zum Abkommen war nicht möglich, solange der Paria Bolsonaro Präsident Brasiliens war. Da alle Soligruppen und kritischen NRO schon seit Langem darauf hinweisen, dass ein solches Abkommen für die Umwelt und Menschen in Brasilien, den übrigen drei Ländern des Mercosur und in der Europäischen Union einen Rückschritt bedeuten wird, weil demokratische Entscheidungsprozesse ausgehebelt werden und den Geschäftsinteressen international agierender Unternehmen erste Priorität eingeräumt werden, werden wir hier sehr aufpassen und auf der Hut sein müssen.
Die Wahlniederlage Bolsonaros ist zweifellos ein Grund zum Aufatmen. Aber keineswegs zur Entwarnung. Auch wenn sie einen Rückschlag erlitten haben, sind die ultrarechten Kräfte, die auf die Mobilisierung rassistischer und sexistischer Ressentiments setzen und damit eine in jeder Hinsicht destruktive neoliberale Wirtschaftspolitik absichern wollen, weiterhin fast überall in der Offensive, während eine sozial und ökologisch orientierte Politik, die auch gesellschaftliche Mehrheiten erreichen kann, erst noch entwickelt werden muss. In Brasilien und weltweit!
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 460 Nov. 2022, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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