Worum es im Ukrainekrieg in diesem Moment geht

Es könnte sein, dass Russland im Ukrainekrieg nach seinen vielen Fehlern, die es bereits begangen hat, nun, in relativ unscheinbarer Weise, gerade den allergrößten begeht – nämlich jetzt, in diesem Moment, keine Verhandlungen anzubieten. Denn in diesem Moment sieht alles noch „pari“ aus. Das gäbe Russland die Möglichkeit, die eigene Position in Verhandlungen zu konsolidieren.

Dieses „pari“ könnte sich in wenigen Wochen schon aufgelöst haben. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, dass die Ukraine ab ca. Ende April, wenn die Böden wieder fest sind, mit den Waffen, die sie geliefert bekommen hat, und mit den Reserven, die sie aufgespart hat, einen heftigen Gegenangriff starten wird.

Dieser Angriff dürfte gar nicht so sehr auf riesige Landgewinne gehen, sondern hauptsächlich darauf, den russischen Landweg hin zur Krim zu durchschneiden. Konkret hieße das, an einer mehrere hundert Kilometer langen, für die russische Seite reichlich überdehnten Front, wenige Dutzend Kilometer zum Asowschen Meer durchzustoßen. Das wäre eine überschaubare und bei entsprechender Konzentration der Kräfte erfolgversprechende Aktion.

Eine solche Wendung wäre fatal für die russische Position insgesamt. Denn es würde den Nachschub für die Krim empfindlich bis tödlich treffen! Die von den Russen gebaute Brücke auf die Krim fällt aus, sie ist angeknockt und wird mit neuer präziser Artilleriemunition, die der Ukraine nun zur Verfügung steht, noch weiter unterminiert werden. Dieselbe Munition wird auch die Versorgung via Schiff unterbrechen. Und über Luft geht auch wenig bis nichts. Die Krim wäre tatsächlich strategisch abgeschnitten, falls die ukrainische Armee das Asowsche Meer erreicht. Und die russische Verhandlungsposition wäre entscheidend geschwächt.

Das einzige, was Russland dagegen eingefallen ist, sind seine BlöMaZ-Aktionen rund um Vuhledar und Bachmut. Diese Aktionen haben alle Chancen, unter der Rubrik „Blödeste Militäraktionen aller Zeiten“ ins „Guiness“-Book einzugehen. Die Russen verheizen dort in menschlich grausamster und militärisch dümmster Weise ihre Menschen und ihr Material, mit dem einzigen Zweck, dort ukrainische Reserven zu binden, damit diese nicht für die beschriebene strategische Aktion zur Verfügung stehen.

Wir werden sehen, wie es kommt. Falls die Ukraine an dieser Stelle Erfolg hat, dann wäre aus meiner Sicht erstmals so etwas wie eine Chance auf einen Waffenstillstand und Verhandlungslösungen erreicht.

Es wäre deshalb gut, wenn die vielen Forderungen nach Verhandlungen, die es heute gibt – und die so lange unrealistisch sind, wie sie für die Ukraine am Verhandlungstisch nur einen Unterwerfungsfrieden ermöglichen – von einer solchen auf dem Papier kleinen, aber in ihren Auswirkungen großen Positionsverschiebung zugunsten der Ukraine unterfüttert würden. Das ist es, worum es m. E. in diesem Krieg in diesem Moment geht. Hier könnte sich tatsächlich der Weg zu einer friedlichen Lösung eröffnen.

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Über Reinhard Olschanski / Gastautor:

Geboren 1960, Studium der Philosophie, Musik, Politik und Germanistik in Berlin, Frankfurt und Urbino (Italien). Promotion zum Dr. phil. bei Axel Honneth. Diverse Lehrtätigkeiten. Langjährige Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Referent im Bundestag, im Landtag NRW und im Staatsministerium Baden-Württemberg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Politik, Philosophie, Musik und Kultur. Mehr über und von Reinhard Olschanski finden sie auf seiner Homepage.