Die Deutsch-Türken wählen Erdogan als Antwort auf den anti-muslimischen Rassismus in Deutschland – In Deutschland mögen sich Intellektuelle wundern über den Erfolg von Erdogan unter Deutsch-Türken. Doch die Gründe liegen auf der Hand.
Wir sind als Gesellschaft nahezu obsessiv mit der Frage befasst, Erdogan-Wählerinnen und -Wähler in Deutschland verstehen zu wollen. Besessen von der Idee, eine vermeintliche Paradoxie aufzudecken, das Leben in einer liberalen Demokratie auf der einen Seite und die leidenschaftliche Unterstützung für eine rechtsradikale Illiberalisierung der Demokratie in der Türkei auf der anderen. Sie zu verstehen und oft genug auch zu verurteilen.
Dabei blenden wir Oppositionelle in Deutschland weitestgehend aus. Diese Schieflage macht die hiesigen Oppositionellen kleiner, als sie sind. Wir kennen die Wahlpräferenzen der Türkeistämmigen nicht, die hier aus diversen Gründen nicht an der Wahl teilgenommen haben. Auch die Darstellung einer zutiefst polarisierten Wählerinnenschaft ist kaum haltbar. Der Polarisierungstalk ist größer als die tatsächliche Polarisierung. Der Diskurs zwischen Erdogan-Kritikerinnen und Erdogan-Verstehern findet statt. Nicht überall und unter allen, klar, aber in vielen Räumen existiert er.
Die vielen Gründe für Erdogans Erfolg
Fahrlässig stolpern wir in Realitätsverzerrungen. Klar ist nämlich: Keineswegs sind alle in Deutschland lebenden Türkeistämmigen in der Türkei wahlberechtigt. Nur die Hälfte ist es. Und lediglich etwas weniger als die Hälfte dieser Hälfte hat sich in 2018 dazu bewegt, überhaupt an der Wahl teilzunehmen. Diesmal waren es fast 49 Prozent, also circa 730.000 Türkeistämmige von etwa 3,8 Millionen. Wenn wir also fragen, wen die Deutsch-Türkinnen in der Türkei wählen, wissen wir belastbar eigentlich nur, dass etwa zwei Drittel von der Hälfte der Hälfte, also von circa 730.000 Türkeistämmigen, den Stempel an der Wahlurne für Erdogan setzten.
Folglich ist es schlicht falsch, von der Hälfte der Wahlberechtigten auf alle Deutsch-Türken und Deutsch-Türkinnen zu schließen. Und das große Mysterium hier ist doch, ob sich hinter den unterschiedlichen Status, wahlberechtigt versus nicht-wahlberechtigt, eine Selbstselektion versteckt: Hält eine bestimmte Gruppe der Deutsch-Türkinnen mehr an der Wahlberechtigung, also der türkischen Staatsbürgerschaft, fest als eine andere? Beispielsweise wegen stärkerer Identifikation mit der „neo-osmanischen“ Ausrichtung der Türkei unter Erdogan nach den Gezi-Protesten?
Sind Oppositionelle in der Diaspora eher bereit, ihre türkische Staatsbürgerschaft abzugeben – damit sie unbeschwerter in die Türkei ein- und ausreisen können? Diese und weitere Faktoren prägen die Gruppe der etwa 50 Prozent Wahlberechtigten bzw. der 49 Prozent tatsächlich an der Wahl Teilnehmenden unter ihnen und führen womöglich zu einer politisch gefärbten Ausrichtung.
Antitürkische und antimuslimische Realitäten in Deutschland
Ein wesentlicher Faktor für die hiesigen Wahlpräferenzen für Erdogan ist der antimuslimische Rassismus in Deutschland. Die antitürkische Rhetorik der 1980er- und 1990er-Jahre hat sich in den 2000er-Jahren in eine antimuslimische transformiert. Die rechtsterroristischen NSU-Morde, die zwielichtige Rolle von Behörden bei der Aufklärung, das rechtsterroristische Attentat in Hanau, weitere davor, die ständig anhaltenden, physischen Attacken auf Asylunterkünfte und muslimische Gemeindehäuser flankiert von unsäglichen medialen Debatten darüber, ob der Islam zu Deutschland gehört. Neuere Studien beispielsweise des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors und der Bertelsmann-Stiftung zeigen, dass eine überwältigende Mehrheit dieser Gesellschaft Rassismus als Realität wahrnimmt und anerkennt.
Auch der Fall Mesut Özil hallt für viele nach. Hier lautete der Abwehrreflex: Es gibt bei uns keinen Rassismus. Basta. Diskussionskultur klingt anders. Bis heute ist die Antirassismusarbeit des DFB schwerfällig. Vorausschauende Gesellschaftspolitik scheint Lichtjahre entfernt zu sein, es wird stets auf Krisen reagiert, statt ihnen vorzubeugen. Diese und weitere antimuslimische Realitäten sind ein Gift in dieser Gesellschaft, umso dringender bedarf es für die kommenden Jahre eines Detox-Programms.
Die Pervertierung antitürkischer und antimuslimischer Realitäten
Wahr ist auch, dass jene antimuslimischen Realitäten vom türkischen Präsidenten Erdogan ausgeschlachtet werden. Legitime Kritik an antitürkischen und -muslimischen Realitäten wird pervertiert. Erdogans Identitätsangebot vermittelt ein geschlossenes Weltbild, das gegen „den Westen“ auflehnt und einen nationalen Aufschwung romantisiert. Symbolisiert durch eine neo-osmanische Wiedergeburt der Türkei, die innenpolitisch in restriktive Identitätspolitik gegenüber kurdischen und alevitischen Minderheiten gegossen wird.
Der Wahlkampf 2023 war mit Blick auf die Deutschland-Türkei-Beziehungen vergleichsweise ruhig. Vorher war Angela Merkel eine willkommene Projektionsfläche für die zelebrierte Anti-Westen- und Anti-EU-Rhetorik des türkischen Präsidenten.
Dieses selbstverherrlichende Narrativ zeitigt deutsch-türkische Effekte. Zum Beispiel in Moscheegemeinden, die trotz ihrer Verdienste als zivilgesellschaftliche Community-Institutionen weiterhin pauschal als Gefahrenherde und demokratieferne bis -feindliche Milieus gezeichnet werden. Einige Moscheegemeinden erfüllen den Extremismusvorwurf, viele hingegen nicht. Für nahezu alle gilt, dass ihnen das Aufbegehren aus der Türkei zumindest schmeichelt – und einige wenige darunter schlachten Erdogans Aufbegehren gegenüber dem Westen für eigene rechtsextreme Pervertierungen gegen oben genannte Minderheiten und Geflüchtete aus Syrien aus.
Festzuhalten ist jedoch: Die muslimische Zivilgesellschaft, zu der auch Moscheegemeinden zählen, leistet in Deutschland wertvolle Community-Arbeit nahezu überall, wo der Staat sozialpolitisch unzulänglich ist – für muslimische und nicht-muslimische Menschen.
Ein Gegenangebot der CHP in Deutschland?
Welche Programmatik nun präsentierte die Opposition in der Türkei, insbesondere Kemal Kilicdaroglu von der CHP, der einzig wirkliche Gegenkandidat? Keine. Die Diaspora-Programmatik der CHP glänzte durch Abwesenheit. Ja, manches in Deutschland begünstigt eine Stimmabgabe für Erdogan. Die regionale Verteilung in den Provinzen in der Türkei zum Beispiel, die sich auch in der Diaspora abbildet. Dass ein großer Anteil der Türkeistämmigen aus diesen Regionen eingewandert ist, ist somit ein Faktor. Den Kampf um das deutsch-türkische Wählerinnenpotenzial aber – die größte wahlberechtigte Diaspora immerhin – erst gar nicht aufzunehmen, ist erschreckend.
Jenes Desinteresse befördert den ewigen Vorwurf, die CHP sei abgehoben und dogmatisch säkular-kemalistisch. Auch für Abwertungsgefühle von Deutsch-Türkinnen und Deutsch-Türken in der Türkei als sogenannte Almancıs, die in der Türkei oft genug als hinterwäldlerische Proleten dargestellt werden, ist sie anschlussfähig. Wir werden uns doch nicht um diese Erdogan-Wähler und -Wählerinnen bemühen. Diesen Vorwürfen ließe sich mit eigenen Auftritten in und einer eigenen Programmatik für Deutschland proaktiv der Wind aus den Segeln nehmen. Ist aber nicht passiert.
Ein Profil durch rechte Parolen
Und das programmatische Angebot der CHP in der Türkei ist ein Abklatsch nationalistischer Rhetorik von rechts außen. Eine Verlierer-Strategie für sozialdemokratische Parteien, weil Menschen dann doch lieber das Original wählen. Das Original lautet: 65 Prozent der Mandate im Parlament werden von Abgeordneten von Rechts-außen-Parteien besetzt.
In der besonders hitzigen Migrationsdebatte erfolgt ein Überbietungswettbewerb der Das-Boot-ist-voll-Rhetorik. Beim Auftakt des Wahlkampfs für die Stichwahl schärft Kilicdaroglu seine Law-and-Order Rhetorik. Er werde alle Syrerinnen und Syrer zurückschicken und warnt, dass unter Erdogan weitere zehn Millionen Menschen aus Syrien kämen. Sicherlich gedacht als nationalistische Antwort darauf, dass er durch die HDP unterstützt wird und auch wegen des Bündnisses mit ultranationalistischen Parteien. Dennoch: Eine enorme Konsolidierung von rechts außen im politischen System versucht die CHP rechts zu überholen, statt sich mutig über Umverteilungsfragen während extrem hoher Inflationsraten und einer kriselnden Wirtschaft und einer menschenrechtsbasierten Minderheiten- und Einwanderungspolitik zu profilieren.
Die Türkei im Strudel reaktionärer Identitätspolitik
In der Türkei wird das internationale Playbook populistischer Regierung von rechts außen Schritt für Schritt umgesetzt. Einschränkung von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit, ausgehöhlter Schutz von Minderheiten. Eine Illiberalisierung der Demokratie, die gequält auf die Drohgebärden der Autoritarisierung blickt.
Präsident Erdogans reaktionäre Identitätspolitik erzeugt bei Anhängern das Gefühl, mit ihm auf dem richtigen Pfad der neo-osmanischen Wiedergeburt zu sein. Ein Gefühl, das zur Nicht-Beschäftigung mit den Komplexitäten und Ambiguitäten von Sachfragen verleitet. Reis, wie Erdogan von seinen Anhängerinnen und Anhängern gerufen wird, wird es schon für die Türkei richten, der Rest ist Makulatur. Diese Symbolpolitik untergräbt Lösungsfindung durch Aushandlung. Politische Streitkultur wird ausgehöhlt.
Die Wahlen sind nicht fair
Für viele Erdogan unterstützende Deutsch-Türkinnen und Deutsch-Türken steht seine Illiberalisierung der Demokratie aber für ein „vorübergehendes Aufräumen“. Sie sehen selektiv die Megabauten, seinen Einsatz für sie und die im vergangenen Jahrzehnt florierende Wirtschaft, aber eben nicht den Einbruch der Währung. Wenn wir uns die illiberalen Einschränkungen in der Türkei vor Augen führen, wirkt die Annahme über ein temporäres Aufräumen gutgläubig. Denn dies hat längst einen Strudel reaktionären Ordnungswahns entfaltet, welcher in einer Hypersensibilität im „Kulturkampf“ ausARTEt: Jede Abweichung fällt und stößt auf, erscheint als existenzielle Bedrohung für die Nation.
So sind etwa die Wahlen in der Türkei zwar weitestgehend frei – aber nicht fair. Ein Großteil der Medien in der Türkei ist regierungsnah. Die Unterschiede in der Sendezeit der Präsidentschaftskandidaten beim staatlichen Sender TRT sprechen Bände: 32 Stunden Erdogan versus 32 Minuten Kilicdaroglu. Mehrfach wurden Bürgermeister der HDP wegen Terrorverdachts abgesetzt. Im Wahlkampf wurde vor Homophobie gewarnt, wenn die CHP gewinnt. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt und viele weitere Vorstöße gegen den Schutz von vulnerablen Gruppen. Hinzu kommen Androhungen physischer Gewalt gegenüber Oppositionsführer im Wahlkampf.
Progressive Allianzen wider dem Polarisierungstalk?
Für die Deutsch-Türkinnen gilt wie gesagt, dass der Polarisierungstalk größer als die tatsächliche Polarisierung ist. Wir dürfen nicht in die Falle tappen, Muslimisch- und Progressivsein polarisiert zu deuten. In diesem Zwischenraum formieren sich Allianzen, die bei antimuslimischen Realitäten andocken, sie aber nicht identitär, z.B. neo-osmanisch, schließen. Der Dialog zwischen dem Verstehen einer Erdogan-Wahl und der Erdogan-Kritik funktioniert hier auch besser. Nicht überall und wenn, dann nicht unbedingt harmonisch, klar, aber an vielen Orten funktioniert der Streit. Das sind die positiven Signale in Deutschland, die unter dem Polarisierungsradar laufen.
In diesen Zwischenräumen lassen sich gewiss nicht alle Konflikte auflösen. Die Narben sind für Communitys, die als Minderheiten in der Türkei von den Einschränkungen stark betroffen sind, verständlicherweise zu frisch. Dennoch sind die Potenziale dieser Räume in Deutschland weit unterschätzt – insbesondere mit Blick auf Allianzen zwischen Menschen aus dem gesamten Nahen Osten. In der Region und in ihrer Diaspora formieren sich progressive Schulterschlüsse.
Transnationale Wahlpräferenzen als Zukunftsaussicht
Transnationale Wahlpräferenzen lassen sich nicht auf simple Erklärungen herunterbrechen. So schafft die Unterrepräsentation von oppositionellen Wählerinnen und Wählern in der Öffentlichkeit verzerrte und dadurch simplifizierte Annahmen über deutsch-türkische Präferenzen. Warum sind transnationale Präferenzen überhaupt so relevant?
In einer global vernetzten Welt erscheinen Reflexe à la „Menschen sollten nur dort wählen dürfen, wo sie leben“ reaktionär. Gerade wenn der Reflex aus oppositionellen Kreisen kommt, keimt der Verdacht ergebnisabhängigen Kalküls auf. Für Präsident Erdogan eine Steilvorlage, um ein politisches Projekt gegen „den Volkswillen“ der Opposition zu demaskieren. Ob in einer international vielschichtig verflochtenen Welt, die nationale Schließung beim Wahlrecht der Königsweg ist, ist ohnehin zu hinterfragen. Türkeigerichtete Politik aus dem Ausland ist zudem deutlich mehr als der reine Diaspora-Wahlakt. Dazu zählen internationale Handelsbeziehungen, internationale Diplomatie, transnational agierende NGOs und vieles mehr.
Wir müssen attraktiver für Einwanderung werden
Was verspricht uns ein Blick in die Glaskugel? Unter den 20-Jährigen haben nahezu 40 Prozent dieser Gesellschaft einen Migrationshintergrund. Die Rekorde beim Fachkräftemangel steigern nicht bloß das gesellschaftliche Problembewusstsein für den demografischen Wandel, sie verschieben unser nationales Interesse: Wir müssen attraktiver für Einwanderung werden. Der Einwanderungsbedarf bedeutet auch, dass bald die Hälfte dieser Gesellschaft migrantisch sein wird – vorausgesetzt, wir sind ein attraktives Einwanderungsland.
Unsere Attraktivität als Einwanderungsland hängt auch davon ab, wie wir unsere liberal-demokratischen Prämissen einhalten. Dazu gehören der Abbau von rassistischen sowie die Anerkennung von transnationalen Realitäten. Es wird Zeit, dass wir uns ernsthaft und kontinuierlich mit transnationalen Wahlpräferenzen beschäftigen, statt nur reaktiv und verurteilend von Wahl zu Wahl. Es ist auch ein Blick in die Zukunftsgesellschaft: Er lehrt uns viel über die Demokratie in der postnationalen Konstellation, zum Beispiel lehrt er, davon abzukommen, reflexartig und oberlehrerhaft vermeintliche Demokratiedefizite „anderer“ abzufragen.
Dr. Özgür Özvatan ist Politischer Soziologe mit Fokus auf die Felder Integration, Extremismus, Ökologie, Migration und Demokratie. Er leitet am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung der Humboldt-Universität zu Berlin die Abteilung Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik, in der er zudem die Nachwuchsgruppe „D:ISLAM: ‚Deutscher Islam‘ als Alternative zum Islamismus?“ leitet. Özvatan studierte Interdisziplinäre Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte an der Berlin Graduate School of Social Sciences (BGSS), war Visiting Fellow an der University of Melbourne und Gastprofessor an der University of Toronto.
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