Es ist schon bezeichnend, dass in den letzten beiden Wochen nicht etwa die zweifelhaften und menschenrechtsverletzenden  Folgen des “historischen Asylkompromisses” (Nancy Faeser, SPD) in der Presse breit diskutiert wurden, sondern ob sich die “Grünen spalten” oder “in der Asylfrage uneins” wären, Die Berliner Journalist*innen sind wohl weder mit der Geschichte der Aufweichung des Asylrechts vertraut, noch haben sie bis auf wenige Ausnahmen wie Heribert Prantl irgendwelche Skrupel, die Folgen der Einigung auf menschenrechtsverletzendem Niveau auch noch für vernünftig und geboten zu bezeichnen. Obwohl ich mich seit Jahrzehnten mit Flüchtlingspolitik und Migration befasse, 1993 die menschenverachtenden Lügen und den inhumanen Zynismus und Rassismus der Asyldebatte verfolgt habe, bin ich von der Steigerung der Unmenschlichkeit und Ignoranz der Debatte überrascht.

Seit Jahren versuchen AfD-nahe Rassisten und Anhänger der faschistischen Umvolkungslüge in Diskussionen und Medien, den Diskurs über Migration und Flucht immer weiter nach rechts zu verschieben.  Und die Politiksimulationen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und Fernsehens bieten Alice Weidel, Timo Chrupalla und anderen AfD-Funktionären wie dem Rechtsextremisten Bernd Höcke Öffentlichkeit und machen sich zu ihren Komplizen, indem nicht mehr die menschenrechtlichen Konsequenzen der unsäglichen EU-Beschlüsse zur Asylprüfung von inhaftierten Familien inklusive ihrer Kinder thematisiert werden, sondern wichtiger die Frage ist, ob sich denn die Grünen, die als einzige immer für das Grundrecht auf Asyl eingestanden sind, sich nun in dieser Frage zerstreiten würden.

Was für ein Diskurs, was für ein Selbstverständnis?

Was bitte ist das für ein Diskurs – ist er noch demokratisch oder nur noch anti-ethisch und voyeuristisch? Das beginnt bei Markus Lanz, der Jürgen Trittin minutenlang dazu zwingen will, dass er auf das Märchen von den “offenen Grenzen” einsteigt, die angeblich Grüne wollen. Was bringt die Mehrheit der Journalist*innen in den öffentlich-rechtlichen Leitmedien dazu, weniger nach den Auswirkungen einer politischen Kursbestimmung oder EU-Gesetzgebung unter dem Aspekt der Folgen für die Menschen- und Bürgerrechte der Betroffenen und der liberalen Gesellschaft zu fragen, als danach, ob sich die Grünen darüber zerlegen? Was unterschiedet diese Einstellung von den Zaungästen einer Straßenschlägerei?  Gibt es ein traurigeres Niveau für die Sicht auf Grundgesetz und Demokratie? Die Grünen haben ihnen den Gefallen nicht getan. Zwar wurde deutliche Kritik an der Zustimmung Deutschlands auch durch die Außenministerin zum EU-Kompromiss deutlich, aber auch, dass Deutschland und Luxemburg am Ende die letzten waren, die auf eine Herausnahme der Familien mit Kindern aus dem Grenzgefängnisverfahren gedrungen haben. Sie werden weiterkämpfen, im EU-Parlament und auf allen Ebenen, das ist gut so. Sie werden sich also nicht zerlegen.  Die Rede von Aminata Touré, Migrationsministerin in Schleswig-Holstein gehört zum besten, was in den letzten Wochen in dieser Angelegenheit gehalten und zu Protokoll gegeben wurde.

Es geht um die Meinungsführerschaft bei den Menschenrechten

Aber der Kampf um eine humane Migrationspolitik wird nicht allein im Parlament und nicht allein in den EU-Gremien, sondern in der Mitte der Gesellschaft geführt.  Es ist ökonomisch erwiesen, dass Migration der Gesellschaft nicht schadet, sondern hilft, dass Staat und Gesellschaft von Flüchtlingen profitieren, dass sie letztlich immer einen menschlichen Gewinn bedeuten. Viele Forscher wie das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsinstitut haben das mit Zahlen gehärtet und belegt. Bewiesen ist auch, dass Rechtsextremismus und rassistische Vorurteile instrumentalisiert und zur Waffe gegen die demokratische, offene Gesellschaft eingesetzt werden und diese Gefahr immer von Rechts kommt. Dass sie aber dann am erfolgreichsten ist, wenn ihr aus der bürgerlichen Mitte – damals verkörpert von Teilen der CDU/CSU und Teilen der SPD – heute von der AfD, Neonazis, Schwurblern und Verschwörungsgläubigen – nachgegeben wird. An beiden Erkenntnissen und Fakten hat sich prinzipiell bis heute nichts geändert.

Merz, die CDU und Teile der SPD haben aus dem Asylrechtsirrtum  nichts gelernt

Grüne, Teile der SPD und FDP, Bürgerrechtler und Flüchtlingsinitiativen konnten damals die Aushöhlung des Asylrechts nicht verhindern, aber haben gemeinsam alles getan, was in ihrer Macht stand, um Schlimmeres zu verhindern. 30 Jahre nach dem Brandanschlag in Solingen, nach Hünxe, Rostock, Hanau oder Halle und vielem anderen Orten der Schande wird heute wieder die Realität umgedeutet, werden die Flüchtenden und Opfer zu Tätern und Schmarotzern gemacht, wird der Umgang mit Geflüchteten, mit Minderheiten, die vor Krieg, Hunger, Umweltkatastrophen oder von uns verschuldeter Armut zur Prüfung des Gewissens der Demokratie. Das hat die AfD-Hetzerin Alice Weidel heute wieder im Bundestag gezeigt. Aber auch Olaf Scholz hat weiter am Märchen gestrickt, der sogenannte EU-Asylkompromiss würde an Zuwanderung und Flucht irgendetwas substanziell ändern. Und Friedrich Merz hat sich das latent rassistische Gestammel der Bundespolizistin Claudia Pechstein (GdP-Jargon: “Bei Bundespolizei 110 wählen und warten, bis richtige Polizei kommt”) “brillant” schöngeredet. Wie war das nochmal: Die Rechtsextremisten haben um so mehr Erfolg, als die bürgerliche Mitte sich ihre Kategorien zu eigen macht…

Nicht nur die Politik, die Gesellschaft muss sich ehrlich machen!

Die Aushöhlung des Asylrechts vor 30 Jahren hat ebenso wenig Flucht- und Migrationsursachen und die soziale Ungleichheit zwischen Nord und Süd beseitigt, wie es der aktuelle und erneute europäische Asylrechtsabbau 2023 tun wird. Die Krise wird dadurch nicht gelöst, sondern verschärft. Illegalität, Schleppertum und Menschenhandel sowie der tausendfache Tod im Mittelmeer werden nicht beseitigt, sondern nur vertuscht. Im Gegenteil, die Hintermänner der internationalen Schlepperbanden freuen sich in ihren Hauptquartieren schon über die neue Rechtslage. Dabei führt keine Erkenntnis daran vorbei, dass die Nordhälfte Afrikas und der Nahe Osten einen echten Marshall-Plan brauchen, einen Plan, der ebenso Arbeit und Perspektiven schafft, Investitionen der Industrieländer und der Ölstaaten benötigt und die Region befriedet. Der – um ein Beispiel zu nennen – aus Solarenergie den Wasserstoff herstellt, den Europa dringend braucht und der dort Perspektiven und Millionen von Arbeitsplätzen schaffen könnte. Solange sich all dies nicht substanziell ändert, wird dieser Asylbeschuss nichts, aber auch gar nichts ändern.

 

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net