Hühnerzucht unter Tage zum Glück nicht mehr

Ich hole etwas aus, keine Angst, ich schweife nicht ab. Seit vielen Jahrzehnten bin ich Stammhörer von “Essay&Diskurs”, sonntags 9.30 h DLF. Eine Audioperle, die den Horizont weitet. In der Amtszeit von Norbert Seitz, den ich in seiner Jugend als Juso-Hochschulgrüppler kennen gelernt hatte, hat sie nach meiner Meinung etwas gelitten. Unter Barbara Schäfers Agendasetting blühte sie wieder auf. Sie scheint diese Aufgabe nun an Thorsten Jantschek übergeben zu haben, der mal seinen Wikipedia-Eintrag aktualisieren sollte. Eine Mitteilung des Senders über solcherart Personalveränderungen – eine, die mir wichtig ist – konnte ich nicht entdecken.

Jantschek jedenfalls war auch für das heute erleuchtende Produkt redaktionell verantwortlich, das ich Ihnen ans Herz legen möchte. Es ist eine Nachhilfehalbestunde über die Nachwirkungen des realen Sozialismus auf deutschem Boden auf heute. Und – verraten Sie es bitte den deutschen Zeitungsverleger*inne*n und DLF-Programmdirektorin Jona Teichmann nicht – Sie müssen es nicht hören (30 min), Sie können es sogar lesen.

Zwei Lockstoffe vorab: die DDR liess in Morsleben Hühner für die Broilerproduktion züchten. Es muss für Mensch und Tier die Hölle gewesen sein, so dass die allseitig gebildeten Anführer des realen Sozialismus 1984 selbst ein Einsehen hatten. Davon wusste ich nichts. Ich will auch keine Bilder davon sehen.

Die DDR lieferte der BRD mit ihrer Einverleibung ein rechtsgültiges Atommüll-Endlager, also etwas, worüber es in der BRD ständig Widerstand und Strassenkämpfe gab. Da hat sich anschliessend die Bundesumweltministerin Angela Merkel aber dann mal richtig gefreut …

Ich verwende im Folgenden den ausführlichen Trailertext von der DLF-Programmseite.

Hühner, Kohle, Kernkraftwerke: Gibt es ein ostdeutsches Anthropozän? – Von Elisabeth Heyne und Alexander Wagner

Dass man vom Klimawandel stets sagt, er sei vom Menschen gemacht, zeigt, wie sehr sich unser Handeln in den Planeten Erde eingeschrieben hat. Was bedeutet das konkret? Welche Spuren hat etwa die Energiepolitik der ehemaligen DDR hinterlassen?

Die meisten Analysen zum Anthropozän stützen sich auf westliche Kapitalismustheorien, aber es bleibt offen, welche lokal unterschiedlichen Ausprägungen sich hinter dem Großkonzept verbergen und welche Rolle dabei eigentlich Regionen einnehmen, die bis vor gut 30 Jahren noch gar nicht zu jenem „Westen“ gehörten. Gerade Ostdeutschland bietet sich zur Erkundung anthropozäner Existenzweisen besonders an, weil es Schauplatz eines – für europäische Verhältnisse – Extrem-Extraktivismus war und ist, von Chemie- und Umweltkatastrophen bis zur postfossilen Transformation und dem politischen Systemwandel. Weil hier in kurzer Zeit und auf kleinem Raum ein rasanter ökologischer, politischer und gesellschaftlicher Wandel passiert ist, lässt sich daran Entscheidendes für die Mensch-Umwelt-Interaktionen der Gegenwart ablesen. Insbesondere lässt sich das Ostdeutsche Anthropozän anhand einzelner Orte und ihrer Rohstoffextraktion und Stoffproduktion betrachten, das Ganze also nach Stoffen sortieren: Kohle, Uran, aber auch Erdöl und die Produktion exemplarischer synthetischer Materialien und Stoffe.

Als Literaturwissenschaftlerin leitet Elisabeth Heyne am Naturkundemuseum das Projekt „Natur der Dinge – Eine partizipative Sammlung des Anthropozäns“. Sie promovierte mit einer Arbeit zu „Wissenschaften dies Imaginären. Sammeln, Sehen, Lesen und Experimentieren bei Roger Caillois und Elias Canetti“ (2020) und beschäftigt sich mit der Amazonassehnsucht, dem Sammeln imaginärer Objekte sowie mit der Verarbeitung von Verletzbarkeit und Krankheit in der Gegenwartsliteratur.

Alexander Wagner forscht und lehrt an der Bergischen Universität Wuppertal u.a. zu ostdeutschen Körperkonzepten sowie zur Energiekultur und interessiert sich für die Grenzbereiche von Kunst und Wissenschaft. Er arbeitet als freier Kurator, z.B. für das Projekt „Ostschule“. Er hat Germanistik und Philosophie studiert und über die Kontinuitäten des deutschen Kolonialismus im Nationalsozialismus promoviert.”

Danke. Gute Arbeit.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net