Anmerkungen und Fragen zum Beschluss des SPD-Präsidiums vom 12. August 2024
„Wir organisieren Sicherheit für Deutschland und Europa“
I. Anmerkungen
Das Präsidium der SPD hat in der Sommerpause, ohne dass es Gelegenheit zur innerparteilichen Diskussion in den Ortsvereinen, Unterbezirken und Arbeitsgemeinschaften gegeben hätte, einen Beschluss gefasst, der die Absicht der Regierung der USA und eine entsprechende Vereinbarung mit der Bundesregierung unterstützt, „beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland (zu) stationieren.“
Anders als die Überschrift dieses Beschlusses unterstellt, sehen Kritiker der geplanten Raketen-Stationierung dadurch weniger Sicherheit für Deutschland und Europa und zusätzliche Risiken. Risiken der Stationierung liegen darin, dass diese Raketen eine sehr kurze Vorwarnzeit haben und einen neuen Rüstungswettlauf eröffnen. Dadurch steigt die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation zwischen Russland und den USA, deren furchtbaren Konsequenzen wir in Deutschland ausgesetzt wären.
Schon heute verfügt die NATO auch ohne die geplanten neuen Raketen über eine umfassende, abgestufte Abschreckungsfähigkeit.
Im Beschluss des SPD-Präsidiums finden sich viele Aussagen zur Notwendigkeit von Rüstungskontrolle und Abrüstung. Das ist ein Hinweis darauf, dass auch dem Präsidium der SPD bewusst ist, dass sich wirkliche Sicherheit nicht herbeirüsten lässt, sondern auf Vereinbarungen und Verträge angewiesen ist, die einen neuen Rüstungswettlauf verhindern.
Die Bundesrepublik Deutschland muss verteidigungsfähig sein. Das heisst aber nicht, dass sie in jeder Waffenkategorie mit dem potentiellen Gegner Russland gleichziehen oder ihm gar überlegen sein muss. Es kommt auf das Gesamt-Kräfteverhältnis an. Vor allem entspricht es nicht den Interessen Deutschlands und auch nicht den Interessen Europas, wenn bei uns in Deutschland Waffen stationiert werden, die für uns potentiell gefährlicher sind als für den angenommenen Gegner.
Die Aussagen zur Notwendigkeit von Rüstungskontrolle und Abrüstung im Beschluss des SPD-Präsidiums sind richtig, aber allgemein und ohne jede Konkretisierung. Vor allem fehlt der Vorschlag, dass die NATO Russland Verhandlungen vorschlägt mit dem Ziel, dass weder Russland noch NATO-Staaten in Europa Mittelstreckenraketen aufstellen und sich über entsprechende Schritte zur wechselseitigen Überprüfung und Kontrolle einer solchen Vereinbarung verständigen.
II. Fragen
1.
Die Unterstützung für die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland wird im Beschluss als „eine Reaktion auf den eklatanten Völkerrechtsbruch Russlands in der Ukraine“ dargestellt. Tatsächlich ist es aber so, dass die USA schon vor vielen Jahren, lange vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine, beschlossen haben, weltweit fünf „Multi Domain Task Forces“ aufzustellen, eine davon in Wiesbaden. Warum wird diese Tatsache im Beschluss mit keinem Wort erwähnt?
2.
Warum fehlt im Beschluss eine Darstellung der behaupteten konkreten gewachsenen Bedrohung, der mit der Aufstellung der neuen US-Mittelstreckenraketen begegnet werden soll?
3.
Warum ist Deutschland das einzige Land in Europa, in dem diese neuen Waffensysteme stationiert werden sollen?
4.
Entsteht angesichts der kurzen Vorwarnzeiten nicht ein besonderes Risiko für Deutschland, vor allem in Spannungszeiten und durch unbeabsichtigte militärische Eskalation? Die zur Stationierung vorgesehenen Hyperschall-Raketen reichen weiter, sind zielgenauer, zerstörerischer und wegen ihrer Geschwindigkeit kaum abzuwehren. Steigt damit nicht das Risiko, dass Russland im Spannungsfall zu dem Ergebnis kommt, diese besonders gefährlichen Waffen präventiv auszuschalten?
5.
Wodurch sind die zusätzlichen Risiken gerechtfertigt, die sich durch diese „Singularisierung“ Deutschlands im Spannungsfall ergeben?
6.
Warum handelt es sich um eine bilaterale Vereinbarung zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland und nicht um eine Vereinbarung im Rahmen der NATO? Führt die Stationierung ausschliesslich in Deutschland nicht dazu, dass unser Land dadurch stärker als andere Mitgliedsstaaten der NATO zum Ziel eines möglichen russischen Angriffs wird?
7.
Wer entscheidet im Krisenfall darüber, ob und wann die neuen Waffensysteme eingesetzt werden? Deutschland oder die USA?
8.
Warum enthält die Vereinbarung kein Angebot an Russland, auf die Stationierung zu verzichten, wenn Russland seinerseits auf vergleichbare Waffensysteme verzichtet?
9.
Warum hat die Bundesregierung nicht schon seit Jahren die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika gedrängt, den gekündigten Vertrag über die Begrenzung von Mittelstreckenraketen in Europa durch ein Moratorium weiter einzuhalten. (Ein entsprechender Vorschlag des russischen Präsidenten liegt seit Oktober 2020 vor. Das hat Rose Gottenmoeller, von 2016 bis 2019 stellvertretende Generalsekretärin der NATO, in einem Interview vom 29. Juli 2024 mit dem „Bulletin of the Atomic Scientists“ bestätigt. Gottenmoeller spricht sich dafür aus, Verhandlungen darüber an den Beginn einer neuen Runde von Verhandlungen zwischen Russland und der NATO bzw. der
USA über Rüstungskontrolle und Abrüstung zu setzen.)
10.
Seit wann und auf welcher sachlichen Grundlage definiert das Präsidium der SPD die zur Stationierung in Deutschland vorgesehenen US-Mittelstreckenraketen als „abstandsfähige Präzisionswaffen“?
11.
Wie definiert das Präsidium der SPD die behauptete „Fähigkeitslücke“ zur Verteidigung Deutschlands, die durch die geplante Stationierung der US-Mittelstreckenwaffen geschlossen werden soll?
12.
Warum fehlt in dem Beschluss eine wenigstens knappe Darstellung und Bewertung der heute vorhandenen militärischen Möglichkeiten und Fähigkeiten der NATO, aus der sich die behauptete „Fähigkeitslücke“ ableiten liesse?
13.
Welche Schritte schlägt das Präsidium der SPD vor, um das in seinem Beschluss formulierte Ziel anzugehen, nämlich die „Rückkehr zu einer wirksamen Rüstungskontrolle in Europa und der Aufbau einer neuen regelbasierten Friedensordnung, an die sich die Länder unseres Kontinents gebunden fühlen.“?
14.
Im Beschluss heisst es, notwendig sei „eine gesellschaftliche Debatte über die Bedrohungslage und die notwendigen Schritte für unsere Sicherheit, zum Erhalt unserer Freiheit und zur Sicherung von Frieden in Europa.“ Wie ist diese richtige Forderung damit vereinbar, dass das Präsidium der SPD mit seinem Beschluss vom 12. August 2024 der Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Deutschland ab 2026 zustimmt, bevor eine solche Debatte überhaupt stattfinden konnte?
Bonn, 20. August 2024
Christoph Habermann, Staatssekretär a.D., stellvertretender Chef des Bundespräsidialamtes bei Bundespräsident Johannes Rau 1999 bis 2004; Dr. Wolfgang Lieb, Staatssekretär a.D., Regierungssprecher bei Ministerpräsident Johannes Rau 1990 bis 1996; Professor Dr. Peter Brandt, stellvertretender Vorsitzender Willy-Brandt-Kreis; Bärbel Dieckmann, Oberbürgermeisterin von Bonn 1994 bis 2009; Dr. Karl-Heinz Klär, Staatssekretär a.D., Bevollmächtigter des Landes Rheinland-Pfalz beim Bund und für Europa 1994 bis 2011; Peter Kox, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion im Rat der Stadt Bonn; Jürgen Nimptsch, Oberbürgermeister von Bonn 2009 bis 2015; Dr. Hans Walter Schulten, Vorsitzender des SPD-Unterbezirks Bonn 1991 bis 1997; Wolfgang Wiemer, Büroleiter des SPD-Parteivorsitzenden Kurt Beck 2006 bis 2008. Dieser Beitrag erschien zuerst im “Blog der Republik”.
Durchweg richtige Fragen – wem wurden die gestellt?
Ich lese, dass sie ans SPD-Präsidium gestellt sind. Aber alle anderen Betroffenen, also wir, dürfen sich gewiss auch gefragt fühlen. Das wäre dann öffentlicher Diskurs.
Könnte es sein das diese Bomben das Potenzial haben, die SPD zu atomisieren. Wenn sich BSW weiter konsolidiert………..
Ansonsten sehe ich gewisse Paralellen auch zu den Vorgängen in Frankreich wenn man das mehr von der Metaebene her betrachtet siehe in diesem Artikel (Arroganz der Macht, die ich dem kleinen Möchtegroß von Anfang an zugeschrieben hab)
https://www.politis.fr/articles/2024/07/johann-chapoutot-le-capital-fait-toujours-le-choix-de-lextreme-droite/