Teilhabe- und Inklusionsdienste — Eine Persönliche Assistenz ermöglicht, dass Menschen mit Behinderungen so selbstbestimmt wie möglich in ihren eigenen vier Wänden wohnen können. Leena und Michael können das bestätigen: Sie wären aufgeschmissen ohne ihre Assistenten

Neulich waren sie zusammen in Schloss Sanssouci in Potsdam. Ruckzuck steuert Leena Reikowski ihren Rollstuhl per Joystick ins Wohnzimmer, nimmt ihr Handy vom Schreibtisch und scrollt durch ihre Fotos bei Instagram: Im Schlosspark lacht sie im rosa Shirt glücklich in die Kamera. Sie fährt auch gerne an die Spree oder geht zu Eishockeyspielen. Und heute? Hm, Leena Reikowski überlegt und beschließt: Pommes essen an der Schönhauser Allee! Andrea Abu sitzt am Küchentisch, breitet die Arme aus und lacht: “Ich bin die Persönliche Assistenz. Ich mache, was Leena sagt. Ganz klar.” Die Assistentin tippt auf ihr Handy, checkt, wie sie am besten mit der Tram hinkommen. Mist, eine Baustelle. Also doch lieber in den Bürgerpark um die Ecke.

Nur vorher noch schnell zusammen Wäsche abhängen. “Wo ist der Saft?” Die Assistentin von der Neue Lebenswege GmbH drückt Leena Reikowski einen Star-Wars-Plastikbecher mit gelbem Strohhalm in die Hand, die junge Frau kann so trotz Spastik allein trinken. Danach flitzt die 26-Jährige – heute in dunkelblauem Spitzenshirt und blütenweißer Hose – aus der Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss in Pankow, holpert zügig übers Kopfsteinpflaster, immer haarscharf vorbei an parkenden Autos, Hundehaufen und Schlaglöchern. Durch ihre Behinderung fällt es ihr schwer, Entfernungen einzuschätzen. “Etwas weiter links, jetzt mehr nach rechts!” Andrea Abu lotst sie über den Bürgersteig. Am Eingang zum Park zeigt sie auf eine flache Stelle, doch Leena Reikowski nimmt einen anderen Weg, ihr Rollstuhl kracht hart auf die Steine – sie lacht. “Ich möchte selbst entscheiden, was ich tue.”

Es sind ihre Leben

Das gilt auch für Michael Sühnel. In der Abendsonne sitzt der 39-Jährige mit seinem Assistenten Gernot Rogier auf der Terrasse seiner Erdgeschosswohnung in Weißensee. “Mein kleines Paradies!” Hinter ein paar Heckenbäumen erstreckt sich ein großer Hinterhof mit Spielplatz, ständig kommt jemand vorbei und plaudert fröhlich ein paar Worte mit ihm. “Die Assistenz ermöglicht mir, genauso zu leben, wie ich möchte.” Das sei “großes Glück”. Michael Sühnel hat eine Muskeldystrophie, die mit Muskelschwund einhergeht, er sitzt im Rollstuhl, muss zwischendurch beatmet werden. Die Assistenzkräfte unterstützen ihn, wenn er aus dem Bett aufstehen, duschen oder essen möchte, 24 Stunden, Tag und Nacht.

Ursprünglich kommt Michael Sühnel aus Lübbenau, einer Kleinstadt in Brandenburg. Wäre seine Mutter mit ihm dortgeblieben, ist er überzeugt, würde er heute bei seiner Oma leben. “Oder im besten Fall im Heim.” Auf dem Land gibt es oft keine Pflegedienste beziehungsweise Träger, die Persönliche Assistenz anbieten. Nach ihrem Umzug nach Berlin merkte Michael Sühnel als junger Mann, dass sein Hilfebedarf steigt – und beantragte eine Assistenz. “Da ging es los. Es fühlte sich richtig gut an. Freiheit!”

Dank der Unterstützung konnte er von zuhause ausziehen, in eine eigene Wohnung, und studieren. Sein Abschluss in Sozialer Arbeit? “Easy!” Wäre das Studium auch ohne Persönliche Assistenz möglich gewesen? “Niemals!” Während Michael Sühnel erzählt, sitzt sein Assistent still neben ihm, aufmerksam und freundlich, ist sofort zur Stelle, wenn Sühnel um etwas bittet, zieht zum Beispiel seinen blauen Pulli zurecht oder legt eine Wolldecke auf seinen Rücken, doch sonst hält sich Gernot Rogier so weit wie möglich zurück. “Es ist sein Leben”, betont der studierte Politikwissenschaftler. “Er bestimmt.”

Was das heißt, zeigt sich, wenn die beiden Männer zusammen Spaghetti Bolognese kochen. Gernot Rogier bindet sich eine grüne Schürze um und befolgt genau Michael Sühnels Anweisungen, Handgriff für Handgriff. “Bitte Hackfleisch aus dem Kühlschrank holen.” – “Jetzt das Suppengrün.” – “Jetzt eine Zwiebel.” Der Assistent hält Sühnel den Beutel hin: “Welche Zwiebel?” Und kurz darauf: “Welche Möhren?” – “In Scheiben oder in Stücke?” Er schüttet Öl in die Pfanne. “So genug?” – “Nein, etwas mehr.” Er brät das Hackfleisch an. “Zeig mal, bitte.” Er nimmt die Pfanne vom Herd. “Ok, reicht, jetzt die Zwiebel dazu.” Und so weiter, bis die Soße fertig ist.

“Das gehört zur Selbstbestimmung dazu”, sagt Gernot Rogier. Neben seinem Studium hat er vor vielen Jahren bei dem Assistenzbetrieb ambulante dienste e.V. in Berlin angefangen – und ist dabei geblieben. “Weil die Tätigkeit sinnvoll und wichtig ist.”

Oft schlecht bezahlt

Allerdings leider in der Regel auch sehr schlecht bezahlt. Und sehr prekär. Oft verdienten die Beschäftigten nicht mehr als den Pflegemindestlohn von 15,50 Euro, berichtet Sarah Bormann, bei ver.di für die Behindertenhilfe, Teilhabe- und Inklusionsdienste zuständig. Oder gar nur den allgemeinen Mindestlohn von 12,41 Euro pro Stunde. “Doch es tut sich was.” Immer mehr Assistenzkräfte werden aktiv, gründen Betriebsräte und setzen Tarifverträge durch. In Berlin, Bremen, Freiburg, Hamburg und neu jetzt auch in Marburg. “Ein Riesenerfolg.”

“Wer es ernst meint mit Inklusion, muss dafür Geld in die Hand nehmen.” Sarah Bormann, ver.di

Die Persönliche Assistenz ist eine Errungenschaft der sogenannten “Krüppelbewegung” der 1970er Jahre: Menschen mit Behinderungen wollten nicht länger nur in Heimen wohnen, sondern ein möglichst selbstbestimmtes Leben in den eigenen vier Wänden führen. Dafür gründeten sie selbst erste Assistenzbetriebe in Großstädten. “Inzwischen ist die Persönliche Assistenz keine Nische mehr”, sagt die Gewerkschafterin.

Längst drängten sogar kommerzielle Billiganbieter auf den Markt. “Aus einem politischen Konzept ist ein Leistungsangebot geworden.” Durch das Bundesteilhabegesetz haben Menschen mit Behinderungen seit vier Jahren einen Rechtsanspruch auf Assistenz. Finanziert in der Regel von den Pflegekassen und den Kostenträgern der Eingliederungshilfe. “Die Persönliche Assistenz darf kein Sparmodell auf Kosten der Beschäftigten sein”, stellt Sarah Bormann klar. “Wer es ernst meint mit Inklusion, muss dafür Geld in die Hand nehmen.”

Die Beschäftigen der beiden großen Berliner Assistenzbetriebe Neue Lebenswege GmbH und ambulante dienste e.V. haben sich vor ein paar Jahren auf den Weg gemacht, um gemeinsam einen Tarifvertrag durchzusetzen. Der erste Schritt: Sie organisierten sich. Daran war früher ein erster Anlauf gescheitert. “Schwierig war, mit den Kolleginnen und Kollegen überhaupt ins Gespräch zu kommen”, erzählt Gernot Rogier, der in der zuständigen ver.di-Tarifkommission aktiv ist. Sie arbeiten allein in Privatwohnungen, verteilt über die ganze Stadt. Lediglich alle sechs Wochen gibt es eine Teamsitzung für jene sechs, sieben oder acht Assistenzkräfte, die gemeinsam eine Person betreuen. Systematisch klapperten sie insgesamt über 200 Teams ab. Nach sechs Monaten waren 30 Prozent der Beschäftigten von ambulante dienste e.V. bei ver.di organisiert. Bei Neue Lebenswege sind es inzwischen sogar über 40 Prozent.

Stets dabei: die Assistenznehmer*innen

Zum Erfolgsrezept gehört, dass die Assistenzkräfte die Politik mit ins Boot geholt haben. Und mit Aktionen für viel Öffentlichkeit sorgen, mal spielt jemand Saxophon, mal gibt es für alle Kaffee und Kuchen. Stets mit von der Partie: die Assistenznehmer*innen. Gemeinsam ziehen sie durch die Straßen, drehen die Musik auf und halten Reden. Bei einer Aktion im Sommer streckt Leena Reikowski bei strömendem Regen ein selbstgemaltes Plakat in die Höhe. Warum? “Weil diese Menschen mir mein Leben ermöglichen.” Und auch ihr zugutekomme, wenn der Job attraktiv sei. Immer mal wieder müssten ihre Eltern einspringen, weil Personal knapp sei. Die 29-Jährige schüttelt den Kopf: “Ich bin ja nicht von Zuhause ausgezogen, damit mir meine Mutter wieder aus dem Bett oder auf die Toilette helfen muss.”

Ein Knackpunkt ist, dass die Persönliche Assistenz kein offizieller Beruf ist – und es keine Ausbildung dafür gibt. “Deshalb wurden wir bezahlt wie für einen Hilfsarbeiterjob”, sagt Sophie Schmidt, Betriebsrätin bei Neue Lebenswege. Im Tarifvertrag der Länder für den öffentlichen Dienst fallen Tätigkeiten ohne Vor- und Ausbildung, lediglich mit kurzer Einarbeitung, in die Entgeltgruppe 3. Klammer auf: Schon davon können viele Assistenzkräfte in Betrieben ohne Tarifverträge nur träumen, Klammer zu. “Unser Ziel war eine Aufwertung unserer Arbeit”, sagt die Betriebsrätin. “Wir wollten allen bewusst machen, wie wertvoll und anspruchsvoll unsere Arbeit ist.” Was für Kompetenzen sie dafür mitbringen müssen, wie viel Verantwortung sie tragen und welche Belastungen damit einhergehen.

So müssen die Assistenzkräfte etwa mit epileptischen Anfällen oder Harnverschlüssen genauso umgehen können wie mit schweren Depressionen und Psychosen. “Wir müssen ständig krasse Entscheidungen treffen”, sagt Andrea Abu. Immer wieder steht sie vor der Frage: “Kann ich das Problem allein lösen, muss die Person zum Arzt oder braucht es einen Notarzt?”

“Ich bin ja nicht von zuhause ausgezogen, damit mir meine Mutter wieder aus dem Bett oder auf die Toilette helfen muss.” Leena Reikowski, von Spastiken betroffen

Im Bürgerpark erzählt Leena Reikowski, dass sie in der Nacht nicht schlafen konnte. “Ist es wieder soweit?” Ab und zu leidet die junge Frau unter depressiven Phasen. Kein Wunder, findet ihre Assistentin. “Mit so vielen Einschränkungen zu leben, kann sehr anstrengend und frustrierend sein.” In einem Moment ist noch alles in Ordnung, aber plötzlich ist Leena Reikowski völlig außer sich, weint und schreit. “Irgendwie musst du die Person da durchbegleiten.” Andrea Abu schlägt Leena vor, eine Therapie zu machen. Inzwischen geht sie regelmäßig zur Psychologin, sagt: “Ja, hilft schon.”

Tarifvertrag beschert “einen Batzen” mehr Geld

Mit vereinten Kräften konnten die Beschäftigten durchsetzen, dass ihre beiden Betriebe, also die Neue Lebenswege GmbH und ambulante dienste e.V., den Tarifvertrag der Länder eins zu eins übernehmen – und die Assistenzkräfte nach Entgeltstufte 5 bezahlt werden. “Wie die Kolleg*innen ihre Situation selbst in die Hand genommen, sich hoch organisiert und zusammen für ihre Interessen gekämpft haben, macht Mut und ist Vorbild weit über den Bereich der Persönlichen Assistenz hinaus”, sagt der ver.di-Verhandlungsführer Ivo Garbe. Sehr zugute kam ihnen ein Satz aus dem Sozialgesetzbuch, da heißt es: Tariflöhne dürfen “nicht als unwirtschaftlich abgelehnt” werden. Mit anderen Worten: Die Pflegekassen müssen die Kosten dafür vollständig übernehmen.

Zuletzt stellten sich Kostenträger auch quer, die Inflationsausgleichprämie von 3.000 Euro zu zahlen, gaben erst auf Druck nach. Was noch aussteht, ist eine Refinanzierung der betrieblichen Altersvorsorge. “Da sind wir dran”, sagt Sophie Schmidt. “Wir bereiten die nächsten Schritte bereits vor.”

Fest steht: Der Tarifvertrag beschert den Beschäftigten “einen Batzen” mehr Geld. Dafür sorgen höhere Stundenlöhne und höhere Zuschläge für Nacht- oder Wochenenddienste, hinzu kommen insgesamt elf zusätzliche Urlaubstage.

Was sich dadurch für sie verändert hat? “Alles”, sagt Andrea Abu. Sie verdient fast doppelt so viel – und was ihr noch wichtiger ist: “Ich habe Sicherheit.” Vorher habe sie nur einen Drei-Stunden-Vertrag gehabt, musste immer sehen, dass sie Stunden zusammenbekam. Musste eine zu betreuende Person vier Wochen ins Krankenhaus, verdiente sie so lange kein Geld. “Das war dramatisch.” Jetzt hat sie einen festen Vertrag über 35 Stunden in der Woche, verdient 2.800 Euro brutto, plus Zulagen.

Leena Reikowski steuert mit ihrem Rollstuhl über die Kieselsteine auf den Springbrunnen zu, sie will ihre Füße auf den Beckenrand legen. Ihre Assistentin öffnet den Klettverschluss um ihre Schuhe, klappt die Fußstütze ein. Per Knopfdruck fährt die junge Frau ihre Rückenlehne nach hinten, nimmt ihre Brille ab und blinzelt glücklich in die Sonne, auch ihr Rücken tut jetzt nicht mehr weh. “Bitte ein Foto!”

Zurück in ihrer Wohnung setzt sie sich sofort an den Schreibtisch, stellt die Bilder bei Instagram ein. Andrea Abu zieht sich in die Küche zurück, um ihr etwas Ruhe zu lassen. Sie erzählt, dass ihr die politische Stimmung in Deutschland große Angst macht. Die AfD wettert immer wieder, dass sie Inklusion für Geldverschwendung hält. Die Assistentin fürchtet sich davor, was passiert, sollte die rechtsextreme Partei an die Macht kommen. “Wir können uns einen anderen Job suchen”, sagt sie – und zeigt auf die Wand zum Wohnzimmer: “Das können unsere Assistenznehmer nicht. Wenn wir uns nicht für die Persönliche Assistenz stark machen, wird es dieses Lebensmodell irgendwann vielleicht nicht mehr geben.” Aus dem anderen Zimmer ruft Leena Reikowski: “Das wäre furchtbar!”

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von ver.di-publik, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.

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