Am 23. Februar, bei der nächsten Bundestagswahl, wird es einen neuen Rekord an Wähler/innen mit doppelter Staatsangehörigkeit geben. Vor acht Monaten ist nämlich das Staatsangehörigkeitsmodernisierungsgesetz in Kraft getreten. Der zentrale Punkt ist die Neuregelung der Mehrstaatlichkeit. Wer nunmehr die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt und erhält, muss seine bisherige nicht aufgeben. Außerdem wurde die Liste der Tatbestände reduziert, aufgrund derer die Staatsangehörigkeit wieder entzogen werden kann.
EU, Grundrechte, NieeVölkerrechtlich ist die doppelte Staatsangehörigkeit kein Problem. Sie wird durch das ‘Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit’ anerkannt, dem Deutschland 2005 beigetreten ist. Es bestimmt auch, dass bei der Einbürgerung nicht die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit gefordert werden darf, wenn dies unzumutbar ist.
Aufgrund der Neuregelung ist davon auszugehen, dass es künftig weitaus mehr Doppelstaatler/innen geben wird als bisher. Das neue Gesetz befasst sich jedoch NICHT mit dem Problem, dass eine doppelte Staatsangehörigkeit dazu führt, dass jemand in zwei verschiedenen Staaten an Parlamentswahlen teilnehmen kann. Dies gilt für das aktive und das passive Wahlrecht. Dieser Gesichtspunkt ist offenbar bislang kaum beachtet worden.
Inhaber/innen einer doppelten Staatsangehörigkeit genießen noch andere Vorteile. Sie können in zwei Ländern jene Rechte wahrnehmen, die ein Staat den eigenen Staatsangehörigen gewährt – in Deutschland zum Beispiel die verfassungsmäßigen Grundrechte, vor allem die jederzeitige Ein- und Ausreise und die Niederlassungsfreiheit – in der gesamten EU. Man kann wählen, in welchem Land man sich steuerlich anmeldet und Eigentum erwirbt. Bei Auslandsreisen kann man nach Bedarf den einen oder den anderen Pass benutzen und diplomatische Schutzrechte in Anspruch nehmen. Man kann sich also die Rosinen herauspicken. Als Nachteil wird zumeist nur der Militärdienst genannt – sofern eine Wehrpflicht besteht. Doppelte Steuerpflichten werden fast überall durch Doppelbesteuerungsabkommen und andere Vereinbarungen vermieden.
Konflikte sind denkbar, wenn eine Regierung zugunsten eines seiner Staatsangehörigen in jenem Land interveniert, wo dieser ebenfalls Bürger ist. Der Internationale Gerichtshof hat jedoch bereits 1955 entschieden, dass im Zweifelsfall der Staat des gewöhnlichen Aufenthalts zu Wahrnehmung der Interessen berechtigt ist. Allerdings darf er keine diplomatischen Schutzrechte gegenüber dem Staat geltend machen, dessen Staatsbürger die/der Betroffene ebenfalls ist.
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament sieht das Wahlrecht anders aus. Da darf jeder EU-Bürger nur einmal wählen. Eine zweite Stimmabgabe wird als Straftat gewertet. Wahlfälschung kann mit bis zu fünf Jahren Haft geahndet werden. Die EU hat offenbar erkannt, dass die Abkehr vom Prinzip der Gleichwertigkeit der Stimmen problematisch ist. Der Verstoß wird allerdings leicht gemacht, da die EU-Staaten keinen Datenaustausch über die Stimmberechtigung pflegen. Doppelstaatlern werden daher sogar zweimal zur Wahl aufgefordert.
Über eine Initiative im Europäischen Parlament, dies zu ändern und einen Datenabgleich zu ermöglichen, ist bislang nicht entschieden worden. Solange eine solche Rechtsgrundlage fehlt, kann der deutsche Bundeswahlleiter nicht tätig werden. Die Gefahr, dass eine nennenswerte Zahl von Doppelstaatlern bei der Europawahl zweimal wählt, wird jedoch als gering eingeschätzt. In Deutschland gibt es – Minderjährige eingeschlossen – rund 800.000 EU-Doppelstaatler. Für einen Palamentssitz benötig man knapp 300.000 Stimmen. Staatsrechtler warnten allerdings schon, dass die Legitimität der gesamten Wahl in Frage gestellt werden könnte.
Da drängt sich die Frage auf, warum es Doppelstaatlern bei EU-Wahlen bei Strafe verboten ist, in zwei Staaten zu wählen, ihnen dies bei der Wahl der nationalen Parlamente jedoch gestattet ist. Immerhin setzt sich der Europäische Rat, der viel mächtiger ist als das EU-Parlament, aus den von den nationalen Parlamenten gewählten Staats- und Regierungschefs zusammen. Warum sollten dort manche Europäer/innen doppelt so viel Einfluss ausüben wie andere. Irgendwie fehlt hier ein ein Stück Gleichbehandlung. Übrigens gibt es auch bei Kommunalwahlen privilegierte Wähler/innen, nämlich jene ausländischen EU-Bürger/innen, die in Deutschland den Stadtrat und in ihrer Heimat das National- und das Kommunalparlament wählen dürfen.
Seit dem 13. März 2023 liegt dem Bundestag eine Petition vor (Nr. 148385), in der die ‘Abschaffung des doppelten Wahlrechts bei doppelter Staatsangehörigkeit’ gefordert wird. Die/der Antragstellende weist darauf hin, dass es zu Interessenkonflikten kommen kann, weil Entscheidungen in beiden Ländern beeinflusst werden können, dass ggf. keine hinreichende Information der Wähler/innen gegeben ist und dass die politische Stabilität und Integrität der Wahlen gefährdet ist. Einen Lösungsvorschlag enthält die Petition nicht.
Eine Behandlung der Petition im zuständigen Bundestagsausschuss ist offenbar noch nicht erfolgt. Bislang wurde lediglich ein öffentliches Diskussionsforum beim Bundestag gestartet. Dabei wäre es gewiss interessant zu erfahren, wie Bundesregierung bzw. Bundestag das Anliegen der Petenten beurteilen und inwieweit sie ihm folgen. Bei der Verabschiedung des Staatsangehörigkeitsmodernisierungsgesetzes hat die Petition offenbar keine Rolle gespielt.
Durch das neue Gesetz schaffen wir Millionen neue Doppelstaatler, die beim Wahlrecht eine Sondergruppe bilden. Auf den Punkt gebracht: Mehr als 100 Jahre nach Abschaffung des Preußischen Dreiklassen-Wahlrechts wird es in Deutschland also wieder zwei Wählerklassen geben. Irgenwo konnte man lesen: „Deutsche werden zum Wähler zweiter Klasse.“
Die Beurteilung dieser Entwicklung kann unter vier Gesichtspunkten erfolgen: gesellschaftliche und politische Beurteilung, rechtliche Zulässigkeit, quantitative Auswirkung, Lösungsmöglichkeiten. Die Bundesregierung befürwortet das aus der Doppelstaatlichkeit erwachsende Wahlrecht mit dem Hinweis, dass sich viele Zugewanderte als Deutsche fühlen, aber den Bezug zur früheren Heimat beibehalten wollen. Man dürfe Bürger/innen nicht vorschreiben, ihr Wahlrecht im Ausland nicht wahrzunehmen, und Deutschen nicht das Wahlrecht entziehen, weil sie auch im Ausland wählen gehen.
Gegner des Doppelwahlrechts verweisen auf das Grundgesetz. Danach hat jede/r Wähler/in genau eine Stimme – ohne Gewichtung oder Privilegien. Oder wie es im Englischen treffend heißt: One man – one vote. Jede Stimme müsse gleich zählen. Insofern sei das Doppelwahlrecht undemokratisch. Eine Ausnahme gelte nur für die Fünf-Prozent-Hürde.
Dem Einwand, das doppelte Wahlrecht verletze die Gleichheit der Bürger/innen, wird indes entgegengehalten, dass nur der Nationalstaat den Rahmen der Gleichbehandlung definiert. Um Diskriminierungen zu konstatieren, müssten andere, triftigere Gründe vorliegen. Stillschweigende Übereinstimmung gibt es offenbar nur in einem speziellen Punkt: Von Personen, die wichtige öffentliche Ämter innehaben, wird erwartet, die zweite Staatsangehörigkeit aufzugeben.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit der Problematik des doppelten Wahlrechts noch nicht befasst. Es wäre jedoch angebracht. Das Wahlrecht wirkt nämlich über die Staatsgrenzen hinaus. Die Welt ist zunehmend vernetzt. Auch wer anderswo regiert, übt – gewollt oder ungewollt – Einfluss auf Deutschland aus. Dies gilt auch für die dortigen Wähler/innen. Nehmen wir das Beispiel Türkei: Wer als Deutschtürke für Erdogan stimmt, sorgt indirekt dafür, dass mehr verfolgte Türkinnen und Türken in Deutschland Asyl beantragen und dass mehr deutsche Journalisten, Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen in der Türkei Willkürmaßnahmen fürchten müssen.
Doppelstaatler haben also mehr Einflussmöglichkeiten als „einfache“ Deutsche. Und der zweite, der deutsche Pass belohnt diejenigen, die sich bisher nicht hundertprozentig zu Deutschland bekennen wollten. Daher dürfen Personen, die vielleicht nur einmal im Jahr Urlaub im „Land ihrer Väter“ machen und deren Kenntnis von den Verhältnissen im Herkunftsland naturgemäß begrenzt ist, bei der Zusammensetzung des dortigen Parlaments Einfluss nehmen. Eventuell trägt das Angebot, in Deutschland zu leben (und zu wählen) und gleichzeitig in der früheren Heimat wählen zu können, möglicherweise zur Entfremdung von der neuen Heimat bei.
Derzeit leben in Deutschland drei bis vier Millionen Menschen mit mehreren Staatsbürgerschaften. Falls die Hälfte von ihnen von der Möglichkeit der Doppelwahl Gebrauch macht, ist das bei gut 60 Mio. Wahlberechtigten eine relevante Größenordnung. Besonders problematisch ist das doppelte Wahlrecht bei den Türk/innen. Sie bilden die größte hier lebende Bevölkerunsgruppe mit ausländischen Wurzeln. Fast alle sind integriert, gehen einem geregelten Beruf nach und achten die Gesetze. Dennoch ist vielen unsere offene Gesellschaft weitgehend fremd gebieben. Dass die in Deutschland lebenden Türk/innen zahlreicher für Erdogan stimmen als ihre Landsleute zuhause, sagt einiges aus über ihre Haltung zum freiheitlichen Rechtsstaat.
Laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge haben 2,9 Mio. Menschen einen türkischen Migrationshintergrund. Davon sind 1,5 Mio. in der Türkei wahlberechtigt, die anderen besitzen nur die deutsche, nicht aber die türkische Staatsangehörigkeit. Von diesen 1,5 Mio. hat sich knapp die Hälfte an der türkischen Präsidentschaftswahl beteiligt. Davon stimmten 67% für Erdogan, also knapp 500.000 Personen. Unterstellt man, dass Wahlbeteiligung und Erdogansympathie bei Doppelstaatlern ähnlich sind wie beim Durchschnitt aller in Deutschland lebenden Türk/innen, so entfielen 175.000 Stimmen der Doppelstaatler auf Erdogan. Die Verhältnisse In anderen europäischen Staaten sind ähnlich, so dass das Auslandswahlrecht der Türk/innen bei knappen Wahlergebnissen durchaus schon mal den Ausschlag geben könnte.
Erdogan bzw. die türkische Regierung waren daher an einer Stimmabgabe der in Deutschland lebenden Türk/innen sehr interessiert. Erdogan und ihm nahestehende Institutionen machten Wahlkampf in Deutschland. Die Türkei ermöglichte Briefwahl und Stimmabgabe in türkischen Vertretungen in Deutschland. Andere Staaten kennen solche „Erleichterungen“ nicht. Die Grenze des politisch Zulässigen dürfte spätestens dann überschritten sein, wenn Erdogan seine in Deutschland lebenden Landsleute auffordert, bei Wahlen in Deutschland bestimmte Parteien zu wählen oder nicht.
Um Verzerrungen und Ungerechtigkeiten durch ein doppeltes Wahlrecht zu vermeiden, gibt es durchaus Lösungen. So könnte man bei der Einbürgerung eine Option auf eines der beiden Wahlrechte verlangen. Oder das Wahlrecht wird an den zu diesem Zeitpunkt bestehenden Wohnsitz gekoppelt. Den Inhabern eines Doppelpasses ist zuzumuten zu entscheiden, wo sie ihren faktischen und damit ihren politischen Lebensmittelpunkt haben. Dort sollen sie mitbestimmen dürfen. Parallel zur Regelung in der EU wäre ein Verbot doppelter Wahlbeteiligung zu erlassen, gekoppelt mit der Androhung von Strafmaßnahmen bei Verstößen.
Eine Lösung, bereits eingebürgerte Personen zu zwingen, zur Vermeidung eines Doppelwahlrechts eines davon aufzugeben, dürfte rechtlich nur schwer realisierbar sein. Das Wahlrecht könnte nur aus anderen Gründen enden, z.B. aufgrund einer Ausbürgerung oder laut § 13 des Bundeswahlgesetzes durch Richterspruch. Die Schranken für einen solchen Entzug liegen hoch: Der Ausschluss vom Wahlrecht erfolgt nur, wenn es zu Verurteilungen zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen wegen folgender Straftaten kommt: Vorbereitung eines Angriffskrieges, Hochverrat gegen den Bund, Landesverrat und Offenbarung von Staatsgeheimnissen, Angriff gegen Organe und Vertreter ausländischer Staaten, Wahlbehinderung und Fälschung von Wahlunterlagen, Abgeordnetenbestechung, Sabotagehandlungen, sicherheitsgefährdender Nachrichtendienst.
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