“Regelbasierte Ordnung” funktioniert nur mit Dominanzverzicht

Die gesellschaftliche Linke meldet sich mit beängstigender Beharrlichkeit aus allen innenpolitischen Machtkämpfen in Deutschland ab. Das hat Folgen nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und in der Welt. Deutschland ist die dominante Macht in der EU. Und seine eigene Abmeldung aus intellektuellen und diplomatischen Diskursen trägt zu den aktuellen Verheerungen jeder “regelbasierten” internationalen Ordnung massgeblich bei. Zaghafte Reparaturversuche sind ausgerechnet im intellektuellen Hinterland der niedergehenden SPD-Überreste zu erkennen. Ihnen als Leser*in will ich hiermit die Ausrede verbauen, sie hätten davon nichts gewusst.

Mein Freund Volker Perthes veröffentlichte in dem vom SPD-nahen Dietz-Verlag und vom SPD-Wirtschaftsforum herausgegebenen Band “Visionomics” einen hellsichtigen Beitrag “Gestaltungsaufgaben in der multipolaren Welt”. Diese multipolare Welt wird von zahlreichen Mächtigen zu leugnen versucht, nicht zuletzt hier in unserem eigenen Zwergstaat. Schon Hans Dietrich Genscher, Aussenminister bis 1992, wusste davon. Die “Bundesakademie für Sicherheitspolitik” dagegen bezeichnet sie als “Mär”. Sie wird wissen warum.

Perthes stellt dazu fest: “Deutschland und die EU werden weiterhin eine multilaterale Ordnung anstreben, die auf der Charta der Vereinen Nationen und einer regelgebundenen Zusammenarbeit beruht. Damit stehen sie nicht allein. Bei aller Kritik an der Machtverteilung in internationalen Institutionen hat eine überwältigende Mehrheit der Staatengemeinschaft sich zuletzt 2024 mit dem von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossenen »Pakt für die Zukunft« zur multilateralen Ordnung bekannt. Dieses Abkommen stellt gleichzeitig darauf ab, diese Ordnung und die sie tragenden Institutionen effektiver, inklusiver und fairer zu machen. Das ist auch notwendig: Eine haltbare Ordnung braucht Legitimität, und sie muss die immer veränderlichen Kräfteverhältnisse zwischen den beteiligten Akteuren reflektieren.” Dem ist schwerlich zu widersprechen. Andernfalls, so Perthes: “Die EU wird dabei einen globalen Pol bilden – oder selbst polarisiert werden. Ihre einzelnen Mitgliedstaaten, auch Deutschland, sind je allein zu klein für eine multipolare Welt.”

Und er markiert eine Hürde, unter der zahlreiche EU-Regierungen, nicht zuletzt die neue deutsche Minikoalition, sich drunter durch zu pfuschen versuchen: “Deutschlands und Europas Eigeninteresse an einer trotz aller Polaritäten weiterhin regelgebundenen Ordnung verlangt zudem eine glaubwürdige Menschenrechts- und Völkerrechtspolitik. Europa kann Menschenrechte nicht überall durchsetzen, kann sie aber im eigenen Rechtsraum wahren, auch und gerade Migranten und Migrantinnen gegenüber. Europa muss sich überall, ohne geopolitische Vorzeichen, für das humanitäre Völkerrecht und den Schutz von Zivilpersonen einsetzen und Menschen- oder Völkerrechtsverstöße benennen.” Beachten Sie die vom zitierten Autor benutzten Möglichkeitsformen “verlangt”, “kann” und “muss”.

Ideen- und hilflos lamentiert der wortgewaltige Albrecht v. Lucke/Blätter: “80 Jahre 8. Mai: Vom Tag der Befreiung zum Tag der Erpressung”. Seine historischen Rückgriffe sind ja alle richtig. Aber für das Heute hat er keine Idee.

Anders der SPD-nahe Angestellte Marc Saxer im fernen Bangkok, mit dem Stefan Reinecke/taz ein kluges und realistisches Interview führte: Politischer Analyst zur Weltordnung’Europas Soft Power ist ramponiert’ – Die Ausnahmesituation, in der die Hypermacht USA die liberale Weltordnung garantierte, ist Geschichte. Wie soll Europa auf die neue Lage reagieren?” Schön, dass die Regierungspartei solche Leute noch bezahlt. Aber interessiert sie sich auch wirklich dafür?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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