Wie es in der deutschen Politik so weit kommen konnte, wie es heute ist, habe ich in einer Textreihe unter dem Label “Politisches Prekariat” zu beschreiben versucht: 1. Teil, 2. Teil, 3. Teil. Beim Ausräumen alter Freitag-Exemplare fand ich noch meinen Text vom Oktober 2005, den ich hier als nullten Teil dokumentieren möchte.
In der Bundesstadt Bonn drängt die Stadtverwaltung ihre Volkshochschule (VHS) soeben, unter den zahlreichen bürgergesellschaftlichen Anbietern von Sprachkursen für MigrantInnen eine „Qualitätskontrolle“ durchzuführen. Die zu kontrollierenden finden das nicht witzig, ist die VHS doch selbst Anbieterin und Konkurrentin. CDU und SPD im Stadtrat drängen, mit einem Gestus, als müsse da mal gründlich „aufgeräumt“ werden. Dass sie damit bürgerschaftliches Engagement plattwalzen, stört sie nicht. Es ist ihnen fremd. Solche Geschichten gibt es jetzt öfter. Sie sind Ausdruck einer Kontrollwut, die mit dem realen Kontrollverlust von Politik direkt verbunden ist.
Die neoliberale Gesellschaftspolitik kämpfte einen Bedeutungsverlust demokratisch bestimmter Politik zugunsten eines freien Spiels der ökonomischen Kräfte durch. Wichtige infrastrukturelle Aufgaben im Kommunikations- oder Verkehrsbereich (Post, Bahn, Telekom) wurden aus staatlich-bürokratischen Einrichtungen heraus nicht demokratisiert, sondern dem Markt anheimgestellt. Die herrschende Politik setzte selbst ihre Demontage durch.
Das Wahlvolk hat folgerichtig zum Politikbetrieb ein Verhältnis entwickelt, wie der Verbraucher gegenüber dem Verkäufer. Es wird eine Dienstleistung für die gezahlten Steuern erwartet. Der Wahlakt war die Bestellung der Dienstleistung. Was dann geliefert wird, finden die Kunden überwiegend schwach. Immer mehr Menschen bestellen lieber nichts mehr und gehen nicht wählen, selbst nach der Angebotserweiterung durch die Linkspartei.
Es geht immer weniger um Inhalte. Affären-Konjunkturen, Zu- und Abneigungen zu Politik-Dienstleistern wechseln in immer kürzeren Zeiträumen und immer grösseren Schwankungsbreiten. Die Meinungsforscher kommen nicht mehr hinterher.
Insbesondere jüngere Menschen haben eine sehr präzise Wahrnehmung solcher Entwicklungen. Warum sollten sie es sich noch antun, in Parteien oder andere schwer durchschaubare Organisationen, wie Kirchen oder Gewerkschaften, für Demokratieinteressen oder schlicht für ihre eigenen zu kämpfen? Die Aufwand-und-Ergebnis-Rechnung eines solchen Verhaltens fällt verheerend aus. Entsprechend verlieren alle Parteien ihren Charakter als Mitgliederpartei.
Die Politik hat nicht nur Unsicherheit für ihr Volk produziert, sondern auch für sich selbst. Sie ist ganz unten. Das Ansehen von PolitikerInnen wird von kaum einer anderen Berufsgruppe unterboten. An den Biertischen im Anschluss an langwierige, anstrengende Gremiensitzungen wird schon nach Antidiskriminierungsvorschriften für Politiker verlangt. Aber haben sie es besser verdient?
Fast 5 Mio. Erwerbslose sind registriert, 2-3 weitere Mio. sind es nicht; fast die Hälfte der Erwerbstätigen haben Angst, dass sie es nicht bleiben. Die Rente, das Alter sind nicht sicher. Wir sollen selbst vorsorgen. Wir sollen lebenslang lernen, um den Anschluss zu behalten. Wir sollen mobil sein und unsere Ansprüche an die Qualität unseres Jobs und seiner Bezahlung senken. Wir sollen nicht so oft zum Arzt gehen, uns dort nicht so viel verschreiben lassen. Wir sollen unsere älteren Familienangehörigen selber pflegen, statt sie ins Altenheim abzuschieben. Wir sollen optimistischer sein, mehr leisten und mehr kaufen. Wir sollen mehr Kinder machen, im Kindergarten einspringen, wenn dort Personal erkrankt ist, die Schule privat putzen, weil öffentliches Geld fehlt, den eigenen Kindern einen geordneten, wirtschaftlich gesunden selbstständigen Betrieb vererben, uns als Mäzene von Kunst und Kultur betätigen, weil das ja auch nur „freiwillige Leistungen“ des Staates sind. Auch für unsere Beerdigung sollen wir selbst vorsorgen. Da fragt sich der Mensch zu Recht: wofür brauche ich die Politik noch?
Wir verhalten uns widerspenstig. Wir lernen, mehr als es gewünscht ist. Kaum ein Kind will noch freiwillig auf die Hauptschule. Studenten müssen jetzt mit Gebühren abgeschreckt werden. Es wird über die vielen SeniorInnen in den Unis geklagt, die vor allem in „schöngeistigen“ Fächern den aufstrebenden Jungen die Sitzplätze wegnehmen. Genauso im Erwerbsleben: wir sollen bis 67, bald sicher bis 70 arbeiten. Doch wohin sollen dann die Jungen gehen? In Wirklichkeit ist es natürlich umgekehrt: die Alten fliegen raus, wenn sie Glück haben mit Abfindung. Junge kommen trotzdem nicht rein.
Der Soziologe Richard Sennett hat in mehreren Büchern herausgearbeitet, dass sich jeder Mensch nach einer „Erzählung“, die sein Leben hergeben soll, sehnt. Angesichts unbegrenzter Flexibilitätsanforderungen sei das kaum noch möglich. Die Statistik gibt ihm Recht. Die Scheidungszahlen steigen, die Kinderzahlen sinken. Gleichzeitig wird dagegen immer mehr nutzloser Überbau produziert: Appelle, Wertediskussionen, Sehnsuchtsproduktion. Nie gab es so viele Telenovelas.
Die Jungen sind heute, wie verlangt, mobil, vor allem die aus dem Osten. Das ist dann auch wieder nicht recht. Städte und Dörfer veröden, Plattenbauten müssen abgerissen werden, Infrastrukturen schrumpfen, schon fehlt es an der ärztlichen Versorgung für die Alten, Schulen müssen geschlossen werden. Wie man es macht, macht man es falsch.
Doch nicht nur Ostdeutsche kommen dorthin, wo es noch was zu tun gibt. Polen und Russen tun es auch. Türken sind schon da. Marokkaner und Algerier sind bis Paris und Brüssel vorgedrungen. Und hinter denen haben sich Westafrikaner eingereiht, natürlich nur die, die es sich leisten konnten, die Bildung und Kenntnisse mitbringen. Die haben das mit der Mobilität irgendwie missverstanden. Auch, dass wir mehr Kinder brauchen. Sie waren doch damit garnicht gemeint!
Wenn Völker ihre Regierungen so missverstehen, müssen die Regierungen zu anderen Mitteln greifen. Zwar hatte niemand die Absicht, aber eine Mauer muss gebaut werden. Im Moment läuft es auf Nordafrika hinaus. Dort lassen sich eine Menge Technologien ausprobieren: Satelliten, Nachtsichttechnik, ganz tolle Bewegungsmelder, nein keine Selbstschussanlagen, oder doch?
Dass Deutschland und Europa ein Sehnsuchtsort, ein Magnet der Hoffnung für viele Menschen sind, das wollen wir nicht realisieren. Abgesehen von den Kosten sind wir offensichtlich auch emotional davon überfordert.
Internierungslager sind für die Afrikaner. Aber was, so fragen sich die Haushaltsverhandler der Grossen Koalition, machen wir mit unserem eigenen Volk? Zunächst mal die Parasiten bekämpfen, also die, die Rechte nicht nur haben, sondern auch wahrnehmen wollen. Jahrzehntelang forderten Wohngemeinschaften und wilde Ehen, gleichberechtigt behandelt zu werden. Als man dieser Forderung bei Hartz IV nachkommt, ziehen sie wieder auseinander. Das will eine ordentliche Bürokratie nicht hinnehmen.
Je mehr der Politik die Kontrolle entgleitet, um so mehr drängt es sie danach. Nachdem sie bewusst immer mehr ökonomische Befugnisse aus der Hand gegeben hat, merkt sie nun – zu spät – dass mit der Ökonomie noch viel mehr ins Rutschen gekommen ist. Das scheint man nicht gewollt zu haben und schlägt nun um sich, scheinbar gerecht nach allen Seiten. Denn die „Heuschrecken“-Diskussion geht angeblich gegen die da oben. Politiker wetteifern in ihrer verbalen Abscheu gegen Leute wie Ackermann oder Schrempp. Angeblich gelten Werte und Sekundärtugenden für alle. Durchgesetzt werden können sie aber nur nach unten.
Bis heute weiss niemand, warum wir nichts mehr kaufen. Unser eigensinniges Konsumieren soll besser überwacht werden. An jede Ware soll ein Chip („RFID“) angebracht werden, um elektronisch verfolgen zu können, wo sie gerade ist. Der Verkehr im Internet, per Telefon und Fax, das Reisen mit der Bahn, dem LKW (und bald auch dem PKW) etc. wird elektronisch erfasst. Da ist aber noch vieles zu verbessern. Ob Sie z.B. diesen Artikel im Internet lesen, wie lange sie das tun, an welcher Stelle sie ihn möglicherweise gelangweilt wieder verlassen, kann festgestellt und gespeichert werden („CRM“).
Behörden, Geheimdienste, Polizei, Unternehmensberater, Marktforscher, sowie die vom Wähler gefolterten Meinungsforscher und Politiker sind scharf darauf.
Ihr Hunger scheint unstillbar. Wenn Fußball-Fans ihre Interessen gegen milliardenschwere Medienkonzerne und Vereine organisieren, muss man, wie bei der kommenden WM, ein System finden, wie man möglichst viele von ihnen fernhalten kann.
Wenn TV-Zuschauer ihr Geld zusammenhalten, muss man die frei zugänglichen Programme verschlechtern, damit sie endlich neue Programme kaufen.
Wenn immer weniger junge Leute Zeitungen kaufen und sich immer mehr im Internet rumtreiben, muss man endlich kontrollieren, was die da die ganze Zeit machen. Um das durchzusetzen, muss man nur den Eindruck erwecken, dass sich dorthin die ganze Welt des Verbrechens verlagert hat. Drogen-, Waffen-Menschenhandel und Pornographie hat es ja angeblich vor dem Internet kaum gegeben.
All das lässt sich öffentlich legitimieren, denn die wachsende Unordnung überfordert nicht nur Politiker, sondern die meisten Menschen. Jeder braucht Sicherheit und festen Halt, und wenn Asylanten, Ausländer, Parasiten, jedenfalls Andere (in den 60er Jahren hiessen sie mal „Gammler“) darunter leiden, möge es so sein. „Alles Egomanen ausser ich!“ (Jürgen Becker)
Immer mehr finden andererseits einen individuellen Weg der Kontrollwut zu entgehen, die Jungen besser als die Alten. Wo das Geld knapp ist, finden sich preisgünstige oder kostenlose Wege. Prohibition, egal ob als Verbot oder durch überhöhte Preise, schafft Schwarzmarkt. CDs oder DVDs z.B. kaufen überwiegend nur noch Reiche und Doofe. Dass sich Hersteller und inkompetente Politik dagegen mit Kriminalisierungskampagnen zu wehren versuchen, dass aufwendige Schauprozesse gegen die Schlauen initiiert werden, erhöht den Spassfaktor.
Und wie kriegen wir mehr deutsche Kinder? Bis zum Kopulationszwang ist es noch ein weiter politischer Weg und die künstliche Produktion hat ebenfalls ein grosses Akzeptanzproblem. Dabei wäre es ein Politikertraum, sich sein Volk selbst machen zu können. Doch selbst dann würde es wohl anders als gewünscht.
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