Wir sind erschüttert von den Ereignissen des vergangenen Freitag um Charly Hebdo, die Paris, die Stadt der Liebe und der Lebensfreude in einen Ort blutiger Massaker und hemmungsloser Barbarei verwandelt haben. Selten fühlten viele Menschen sich so hilflos, in der Trauer den französischen Freunden so nah und doch geschockt – etwa als Beobachter des Geschehens, wie sich aus einem Fußballspiel im Handumdrehen und live eine Tragödie immer noch kaum erkennbaren Ausmaßes entwickelte. Vorherrschend ist das Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen, für alle, die dies aus der Nähe erleben mussten und Dankbarkeit für die vielen Helfer, die ehrenamtlich oder professionell vor Ort im Einsatz waren und noch sind. Wichtig ist nun, die Täter und die Hintergründe der Tat zu ermitteln, die Verantwortlichen zu verfolgen und zu analysieren, welche Schlussfolgerungen aus diesen Anschlägen zu ziehen sind. Dabei sollten Besonnenheit und Klugheit die leitenden Antriebskräfte sein. Gewaltrhetorik und dümmlichen Populismus hat es leider in den ersten Stunden bereits wieder in hinreichendem Maße gegeben.

Die Anschläge kommen nicht wirklich überraschend, auch wenn wir so empfinden.

Anlässlich eines Kommentars zu den deutschen Waffenlieferungen in den nahen Osten schrieb ich an dieser Stelle im August 2014: ” 2.500 junge europäische Staatsbürger, darunter etwa 320 aus Deutschland – allein120 aus NRW – 120 Niederländer, 300 Belgier, kämpfen nach Erkenntnis der Geheimdienste auf Seiten der ISIS in Syrien, Organisationen wie die extremistische “Helfen in Not” e.V. sammeln in den Städten der Bundesrepublik…, um damit moderne Waffen und Ausrüstung kaufen zu können. Man mag den Zeitpunkt fürchten, zu dem sich der erste Selbstmordattentäter auf der Kölner Domplatte, unter dem Eiffelturm oder auf dem Alexanderplatz inmitten einer Touristenmenge in die Luft sprengt: Es ist schon frappierend, wie es uns gelingt, diese Entwicklungen nicht als unser ureigenstes Problem zu begreifen.”

Viele radikalisiert

Inzwischen sind es 3.300 Jugendliche, darunter 450 aus Deutschland, die in Syrien kämpfen, von denen einige desillusioniert und geläutert die Rückkehr angetreten haben, viele aber radikalisiert und der Tötungshemmung beraubt hierher zurück kehren. Bisher haben wir Glück gehabt, dass ähnliches nicht bei uns passiert ist, aber eine wirkliche Sicherheit kann es nicht geben, wenn die Ursachen nicht bekämpft werden.

Islamistischer Terror und Flüchtlinge dürfen nicht verquickt werden

Mit seinem Versuch, Islamistischen Terror mit der Flüchtlingswelle zu verkoppeln, hat sich Markus Söder in verachtenswerter Weise rhetorisch und moralisch disqualifiziert. Die ganz überwiegende Mehrzahl der Flüchtlinge aus Syrien flieht genau vor den Unmenschen der ISIS und IS und anderer Terrorgruppen und hat mit diesen nichts gemein. Die Tatsache, dass sich unter die Flüchtlinge möglicherweise auch Täter mit terroristischen Absichten mischen könnten, ist ebenso wahrscheinlich, wie sich diese als Touristen oder Geschäftsleute tarnen können. Bereits im Sommer gab es Medienberichte, dass Islamisten durch nächtliches Schreien von Parolen in einzelnen Flüchtlingslagern in Hessen versuchten, Geflüchtete weiter zu terrorisieren. Das kann niemand im Voraus wissen, aber konsequent polizeilich dagegen vorgehen. Wer das aber als Rechtfertigung missbraucht, die gesamte Hilfe für Flüchtlinge zu verweigern, überschreitet die Grenze des politischen Populismus und Rechtsextremismus. Es ist zu begrüßen, dass auch der bayerische Ministerpräsident sich davon klar distanziert hat.

Europa befindet sich nicht im Krieg – auch Frankreich nicht

Auch wenn der französischen Präsident Hollande aus verständlichen innenpolitischen Gründen wiederholt von “Krieg” gegen die Terroristen gesprochen hat, der Bundespräsident dies auf seine Weise in sehr mitfühlender Form aufgenommen hat, dürfen wir diese martialische Rhetorik nicht zur Maxime der Politik werden lassen. Begriffe wie “3. Weltkrieg” oder “totaler Krieg” gehen gar nicht. Schon deshalb, weil wir beim nächsten Anschlag mit noch mehr Opfern keine angemessenen Begriffe mehr haben werden. Und deshalb, weil es sich für demokratische Staaten verbietet, sich von regionalen Terrorbanden in einen unerklärten Krieg ziehen zu lassen, aber auch vor dem Hintergrund der damit verbundenen Folgen für die internationale Politik. Der selbsternannte “Islamische Staat” ist eben keiner, sondern eine leidlich gut organisierte Horde von faschistischen Mördern, Vergewaltigern, Zerstörern und Schändern historischer Stätten der menschlichen Zivilisation, die nur allzu gerne der Zivilisation den Krieg aufzwingen möchte. Wer im Zusammenhang mit Anschlägen von “Krieg” spricht, lässt sich auf ihr Spiel ein, bei dem sie darauf setzen, im nächsten Schritt ihren selbst erklärten Krieg nach Europa zu tragen. Auch sollte vor der Verwendung bestimmter Begrifflichkeiten bedacht werden, welche Folgen sich daran knüpfen könnten. Der Kriegsfall könnte nicht nur auch einen NATO-Spannungsfall oder gar Bündnisfall begründen, was Präsident Hollande ausdrücklich ausgeschlossen hat. Es könnte auch bedeuten, den IS indirekt als Kriegspartei anzuerkennen, wodurch seine Anhänger damit nicht mehr einfach als Terroristen verfolgt, sondern sich vor Gericht darauf berufen könnten, sich als Soldaten ihres perversen Gemeinwesens zu bezeichnen. Auch wenn dies rechtlich erfolglos wäre, läge darin doch ein Propagandaerfolg, der Salafisten und ihren Anhängern hier Auftrieb geben würde.

Ist Krieg die richtige Reaktion?

Frankreich hat infolge der Anschläge die Luftangriffe gegen ISIS in Al-Rakka verstärkt fortgesetzt. Bisher hat Frankreich nicht den NATO-Bündnisfall für sich ausgerufen, nach dem ein Partner die Hilfe der anderen NATO-Partner einfordern kann. Die Vereinigten Staaten haben jedwede Hilfe für die französischen Bündnispartner angeboten, aber die Entsendung von eigenen Bodentruppen ausgeschlossen. Die Tatsache, dass Frankreich den UNO-Sicherheitsrat angerufen hat, ist insofern ein gutes Zeichen, als hier genau der Ort ist, um notwendige außenpolitische Annäherungen und Lösungen zu finden. Dabei geht es zunächst einmal darum, dass die USA, Europa, die Türkei, Syrien und der Iran sowie die arabischen Staaten an einen Tisch gebracht werden. Denn nur so erscheint eine politische Lösung des Syrien-Konflikts möglich. Bisher beschränkte sich die EU darauf, mit Waffenlieferungen und militärischer Unterstützung die Kurden in Syrien und im Irak als Partner des Befreiungskampfes gegen ISIS und den IS zu unterstützen. Die internationale Syrien-Konferenz vom Wochenende macht Mut. Aber der Dialog z.B. mit dem Iran reicht noch nicht aus. Sowohl die Türkei, als auch die religiöse Rolle Saudi-Arabiens und Katars bei der heimlichen Finanzierung und ideologischen Unterstützung der sunnitischen Extremisten des IS gehören endlich auf die Tagesordnung.

Die wahabitischen Extremisten der Golfstaaten und die Finanzierung des IS durch reiche Saudis und Kataris bieten verunsicherten jungen Menschen Orientierung in sozialen oder psychischen Konflikten. In Zukunft kann nur eine internationale Koalition der Vernunft den Konflikt beenden – wenn es sein muss, durch Einsatz und die Stationierung von friedenssichernden, robusten UN-Kräften. In Syrien muss eine Übergangsphase gestaltet werden, die ohne das Regime Assad nicht gelingen wird. Im Irak muss es darum gehen, nach einer militärischen Vertreibung von ISIS und IS eine Zivilverwaltung unter Beteiligung der Sunniten zu errichten, um die Irrtümer der USA zu korrigieren und das Machtvakuum zu beseitigen, dass ISIS für sein Terrorregime ausnutzen konnte. Wichtig ist zu wissen, dass dies kein Prozess sein wird, das nicht von heute auf morgen zu erreichen ist. Und wichtig wird auch sein, sich dabei an ein realpolitisches Wort des verstorbenen Altkanzlers Helmut Schmidt zu erinnern: Dass viele Staaten des Südens, nahen und fernen Ostens derzeit noch nicht Demokratien sind und sein können, wie wir sie kennen und leben.

Innenpolitisch gibt es keinen Anlass für neue Gesetze

Nicht nur in Frankreich, das vor wichtigen Regionalwahlen und im kommenden Jahr vor Präsidentschaftswahlen steht, werden sich in den kommenden Wochen wieder Diskussionen mit Forderungen nach neuen Gesetzen oder Gesetzesverschärfungen erheben. Dies wird nicht nur wie bei der CSU Verschärfungen des Asyl- und Ausländerrechts umfassen, sondern auch Forderungen nach verschärfter Überwachung der Islamisten. Allen, die dies fordern, sei entgegen gehalten, dass Frankreich seit den Anschlägen die schärften Antiterrorgesetze hat, die sogar den Einsatz des Militärs im Inneren erlaubt. Auch diese haben die Anschläge nicht verhindern können. Der Verfassungsschutz und die Polizeibehörden beobachten intensiv die etwa 250 bereits aus Syrien und Afghanistan zurückgekehrte Extremisten. Aber niemand wird ernsthaft glauben, dass staatliche Überwachung alle Extremisten wird überwachen können, auch nicht, wenn wir das Personal verdoppeln. Vorstellungen, wie sie heute in Frankreich geäußert wurden, sind nicht angemessen. Wer soll glauben, dass es hilft, bekannten islamischen Extremisten z.B. elektronische Fußfesseln anzulegen, wenn dies nicht verhindern kann, dass etwa der jüngere Bruder dann die Rolle des potenziellen Täters übernimmt? Mit der Entdeckung der Sauerland-Attentäter und dem Fehlschlag der Bombenbauer vom Kölner Bahnhof haben wir bisher in Deutschland Glück gehabt. Nicht mehr und nicht weniger. Wir müssen immer mit einem Anschlag rechnen, aber es geht darum, sich unsere Freiheiten nicht von Extremisten zerstören zu lassen. Insofern hat Paris auch keine neue Qualität der Bedrohung gebracht: Es ist einer winzigen Gruppe von Tätern erstmals gelungen, umzusetzen, was Sicherheitsbehörden seit einigen Jahren erwartet haben. Der Islamismus muss in den Köpfen, im Denken der Extremisten und in ihrem Umfeld bekämpft werden.

Der islamistische Terrorismus muss politisch bekämpft werden

Der islamistische Terror ist politischer Terrorismus hat ein politisches Programm und zielt darauf ab, die Gesellschaft hier zu bedrohen und zu spalten. Er baut auf ein archaisches, chauvinistisches und patriarchalisches Gesellschaftsverständnis und den Glauben an Gewalt und Einschüchterung als Mittel zur Lösung von Konflikten. Toleranz, Kompromisse, Koalitionen und der Schutz von Minderheiten sind ihnen fremd. Ihr Weltbild ist totalitär und faschistisch und damit streben sie das Gegenteil einer emanzipierten Gesellschaft an. Die Entwicklung in nahen Osten sät vielerorts – auch bei uns inzwischen – die Wurzeln eines unversöhnlichen, religiös motivierten Hasses. Es war vor etwa einem Jahr erschreckend zu sehen, mit welcher Vehemenz und Unbekümmertheit anlässlich der Demonstrationen junger Menschen gegen die Luftangriffe der Israelis auch in Deutschland menschenverachtende und antisemitische Parolen skandiert wurden – nicht von Kaftan tragenden, bärtigen Männern, sondern von blonden, blauäugigen Teenagern mit Palästinensertuch. Die Freiheit ist nicht durch Einschränkungen der Freiheitsrechte und nicht durch Repression zu erhalten. Dies muss eine junge Generation lernen, die die Friedensbewegung und Begriffe wie passiven Widerstand, zivilen Ungehorsam oder Gewaltfreiheit nicht einmal mehr vom Hörensagen kennt. Ein Aufeinandertreffen mit Menschen, die wie die aus Syrien geflohenen, die den Terror des IS am eigenen Leib erlebt haben, kann da eine erwünschte Erweiterung des Horizonts bringen. Auch insofern könnten Geflohene auch als eine Bereicherung unserer Gesellschaft auch in der Auseinandersetzung mit religiösem Extremismus gesehen werden, denn sie haben die Exzesse von Fanatikern selbst erlebt. Eine demokratische Gesellschaft wie unsere kann diesen Diskurs organisieren, wenn sie will und wird daran wachsen und gewinnen. Die Integration von Flüchtlingen ist deshalb im Eigeninteresse Deutschlands auch unter politischen Gesichtspunkten der Auseinandersetzung mit dem religiösen Extremismus.

Verfassungspatriotismus für Grund- und Freiheitsrechte

 Die Bundeskanzlerin hat mit ihrer flüchtlingspolitischen Linie ein wichtiges Zeichen für eine humane Gesellschaft in Deutschland und Europa gesetzt. Sie wird dafür ähnlich wie Helmut Schmidt für seine Position in der NATO-Nachrüstung 1982 von der eigenen Parteibasis in Zweifel gezogen und sie wird noch manche schwierige Situationen zu überwinden haben, bis die innerparteilichen Gegner den Irrtum ihres Weges einsehen werden. Aber sie hat mit ihrer Positionsbestimmung dem Land eine wichtige Orientierung gegeben, dass die liberalen und demokratischen Freiheitsrechte und Grundüberzeugungen auch angesichts der Krise nicht zur Disposition stehen. Sie hat damit über alle Parteigrenzen hinweg ein Beispiel gegeben, dass uns verpflichtet, für die demokratischen Freiheiten und Grundrechte einzustehen, sie zu verteidigen und auszubauen.

Es geht darum, gemeinsam mit den Eingewanderten einen neuen verfassungspolitischen Grundkonsens zu erarbeiten, es geht um unterschiedliche Auffassungen über Kindererziehung, Gewalt, Moral, Sexualität, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gleichheit vor dem Gesetz und auch um die Frage, welchen Stellenwert Religion in einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft noch haben kann. Dabei wird dem säkularen, von Religiösen Einflüssen freien Staat eine immer wichtigere Funktion zukommen. Diese – friedliche – Auseinandersetzung wird unsere Gesellschaft und ihren Zusammenhalt stärken, sie findet bereits statt. Selbst die alt-68er sind dabei gefragt, sich zu beteiligen, ihre positiven Schritte zu einer liberalen Gesellschaft zu verteidigen. Denn unsere Wertegemeinschaft der Meinungsfreiheit, Toleranz und Kompromisse werden wesentlich massiver durch hier ansässige Neonazis und PEGIDA-Faschisten beeinflusst, als durch Geflohene aus anderen Kulturkreisen. Deshalb muss sich Erziehung zur Demokratie vor allem auch an die ewig gestrigen Teile der deutschen Bevölkerung richten. Dagegen gilt es, sich einzusetzen – die Freiheiten unserer Verfassung zu verteidigen und gegen autoritäres und reaktionäres Denken die Aufklärung zu setzen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net