von Hidir Celik
Die deutsch-türkischen Beziehungen haben zurzeit ihren Tiefpunkt erreicht. Sie erinnern an ein sich gegenseitig hassendes Ehepaar, das gegeneinander einen Rosenkrieg führt. Trotzdem will keine Seite den anderen Partner loslassen. Diese Partnerschaft ist von der Waffenbrüderschaft bis zum gemeinsamen Schicksal während des Ersten Weltkrieges so geprägt, dass sie sich nicht scheiden lassen können. Sogar die Zurückhaltung der Türkei während der NS-Herrschaft gegenüber Hitler bis 1944 wurde im Schatten dieser historischen Beziehungen eingehalten. Nach 1945 haben die deutsch-türkischen Beziehungen einen normalen Lauf genommen, mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei am 30. Oktober 1961 in Bad Godesberg wurde sie weiter vertieft.
Beide Seiten profitierten davon. Deutschland brauchte Arbeitskräfte, um das vom Krieg zerstörte Land wieder aufzubauen. Die Türkei brauchte dringend wirtschaftliche Hilfe, und durch Devisen, die hunderttausende „Gastarbeiter“ aus Anatolien schickten, wurde die türkische Wirtschaft wieder belebt und im Inland neue Arbeitsplätze geschaffen. Es kam später das Assoziierungsabkommen zwischen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei vom 12. September 1963 dazu. Dieses Assoziierungsabkommen, genannt Ankara-Abkommen (Ankara Anla_ması), das am 1. Dezember 1964 in Kraft trat, wurde im Laufe der Folgejahre immer wieder durch neue Protokolle und Beschlüsse ergänzt und erweitert. Am 11. Dezember 1999 wurde der Türkei der Status eines offiziellen Beitrittskandidaten der EU zugeteilt. Sechs Jahre danach wurden von der Europäischen Union am 3./4. Oktober 2005 Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufgenommen. Es wurde die Hoffnung erweckt, dass die Türkei in absehbarer Zeit Vollmitglied der EU sein werde, obwohl viele EU-Mitgliedstaaten, vor allem Deutschland, nicht bereit waren, die Türkei in die EU als Vollmitglied zu integrieren.
Die politische Elite unter Führung von Erdogan machte ihre Hausaufgaben schleppend, da Erdogan selbst nicht unbedingt in die EU wollte. Er wollte eher seine Macht in der Türkei aufbauen und sichern, auch mit Hilfe von liberalen und demokratischen Kräften, die nach dem Militärputsch am 12.September 1980 lange Zeit unter der Militärdiktatur litten. Er wurde auch von einem Teil der kurdischen Opposition unterstützt, in der Hoffnung, die kurdische Frage friedlich zu lösen. Die EU setzte auf seine Reformbestrebungen sowie die wirtschaftlichen Erfolge der Türkei in der Zeit 2003-2010. Er wiederum setzte auf Zeit, um seine Macht schrittweise in die Richtung einer islamischen totalitären „Ein-Mann-Diktatur“ auszubauen.
Die Beitrittsverhandlungen wurden nach 2015 im Schatten der nicht gelösten Zypernfrage (Nichtanerkennung des EU-Mitglieds Republik Zypern durch die Türkei), sowie der Menschen- und Minderheitsrechte, vor allem des Kurdenkonfliktes, bis 2016 weiter geführt, bis zur Veröffentlichung eines kritischen Jahresberichtes am 10. November 2015. Dem folgte am 24. November 2016 die Empfehlung des EU-Parlamentes, die Beitrittsgespräche mit der Türkei „einfrieren“ zu lassen, wenn dies auch nicht für die EU-Kommission nicht bindend ist. Ein Beitritt der Türkei zur EU ist unter diesen Umständen nicht möglich.
Die politische Entwicklung nach dem angeblichen „Putschversuch“ am 15. Juli 2016 machte die türkisch-europäischen Beziehungen noch schwieriger, nachdem Erdogan, um seine „Ein-Mann-Macht“ durch den Ausnahmezustand noch stärker auszubauen, mehr als 130.000 Personen, darunter Juristen, Richter, Lehrer, Beamte, Professoren aus Hochschulen, entließ. Unter dem Ausnahmezustand wurde ein Spiel inszeniert, dessen einziger Spieler Erdogan ist. Durch das bevorstehende Referendum am 16. April 2017 will er seine Macht legitimieren und weiterhin zu einem Präsidialsystem ausbauen, um der Welt zu zeigen, dass sein „Ein-Mann-Staat“ vom Volk gewollt ist. Die Venedig-Kommission des Europarates ist der Auffassung, dass diese Verfassungsänderung einen “dramatischen Rückschritt der demokratischen Ordnung” bedeute und dass die Türkei auf dem Weg “zu einer Autokratie und einem Ein-Personen-Regime” sei.
Um den Beitritt der Türkei zur EU politisch und wirtschaftlich zu erleichtern, wurde die Türkei mit einer „Heranführungshilfe“ durch die Europäische Union finanziell unterstützt. Allein in der Zeit von 2007 bis 2013 sind 4,13 Milliarden Euro nach Ankara geflossen, weitere 4,45 Milliarden sind für die Jahre zwischen 2014 und 2020 geplant. Trotz der Milliardenhilfe wurden von der Seite der Türkei kaum Verbesserungen im Bereich der Menschenrechte, der Lösung der Zypernfrage (wenn auch seit dem April 2015 wieder Gespräche über eine Wiedervereinigung der Insel aufgenommen sind) sowie der Minderheitenrechte gemacht. In die Zeit nach 2010 wurde eher systematisch ein Rückschritt betrieben, welcher die heutigen Beziehungen der Türkei mit der EU in Schwierigkeiten gebracht hat.
Erdogan provoziert nicht zum ersten Mal die EU und Deutschland. Seine Empörung mobilisierte diesmal in den Niederlanden tausende Menschen auf den Straßen. Wenn der große „Reis“ (Anführer) auf der „Weltbühne“ redet, folgen ihm begeistert seine Anhänger, ohne seine Worte in Frage zu stellen. Auch sein Vergleich zu „Nazi-Deutschland“ ist eine Provokation, die von vielen Türkischstämmigen stillschweigend bejaht wird.
Wenn man auf die jüngste Vergangenheit schaut, stellt man immer wieder fest, dass, jedes Mal wenn Wahlen in der Türkei bevorstehen, Erdogan neue Konflikte schürt und versucht, davon politisch zu profitieren. Auch diesmal, vor dem Referendum am 16. April 2017, läuft es nicht anders. Obwohl laut eines türkischen Gesetzes politische Parteien keinen Wahlkampf im Ausland machen dürfen, gilt dies aber anscheinend nicht für Erdogan und seine Partei AKP. Wenn es auch nach 2015, nach der Flüchtlingskrise in Europa, zwischen der EU und der Türkei eine gewisse Annäherung gegeben hat, hat Erdogan wie auch heute den abgeschlossenen Flüchtlingsdeal gegen die EU und Deutschland als Drohinstrument angewendet. Er ist ein guter Taktiker, kennt die Schwäche der EU und weiß, wie er sowohl innenpolitisch als auch außenpolitisch punkten kann.
Erdogan weiß, dass die EU, vor allem Deutschland, aufgrund des Flüchtlingsdeals erpressbar ist. Die EU sollte eine klare politische Linie ziehen, bevor es zu spät ist. Wir dürfen unsere Grundwerte nicht wegen eines Deals opfern, um einer Diktatur einen Freiraum in Europa zu bieten. Ein Land, das sich von europäischen Grundwerten entfernt hat und in dem von einer Rechtsstaatlichkeit nicht mal die Rede ist, gehört nicht in die EU.
Die Zurückhaltung Deutschlands, Erdogan und die politische Führung der Türkei nicht zu verärgern, um das Flüchtlingsabkommen nicht zu gefährden, stärkt eher Erdogans Provokationen gegen Deutschland. Seine zuletzt gegen Bundeskanzlerin Merkel gestartete Hass-Kampagne ist Teil seiner politischen Strategie.
Seine Psyche erlaubt ihm nicht, Niederlagen zu dulden. Er hat in seiner politischen Agenda festgeschrieben, dass er die Türkei mindestens bis 2023 führen will, vielleicht auch die Jahre danach. Er hat mit dem Geld von der EU seine Diktatur in den letzten 14 Jahren aufgebaut. Nun brüskiert er seine Geldgeber.
Unter den türkischstämmigen Migranten hat er seine Netzwerke so aufgebaut, dass er hier jederzeit Tausende von Menschen mobilisieren kann. Die meisten Moscheeverbände bieten ihm den Raum für seine politischen Aktivitäten, die direkt von der Türkei aus gesteuert werden.
Man könnte sagen, dass er eine Art „Trojanisches Pferd“ in die EU eingeschleust hat, um heute unsere Demokratie zum Wanken zu bringen.
Es darf nicht vergessen werden, dass er im Jahre 2008 in Köln während einer großen Veranstaltung “Assimilation ist ein Verbrechen gegen Menschlichkeit” sagte. Damit meinte er die Integration. Ihm ist sehr wohl bewusst, solange er unter den türkischstämmigen Migranten das Gefühl vermittelt, dass sie diskriminiert und ausgegrenzt sind, desto mehr Einfluss er auf sie ausüben wird.
So wie in der Türkei, will Erdogan sein “Schattenreich” auch in Deutschland aufbauen. Seine verbalen Angriffe gegen die Niederlande und Deutschland zeigen, dass er der EU bereits den Krieg erklärt hat.
“Krieg” gegen die EU? Ich fürchte, der kommt erst noch, wenn der jetzigen Dynamik niemand Einhalt gebietet. Z.Z. versucht er Paranoia zu erzeugen, um sein Referendum noch zu gewinnen. Es geht immer noch schlimmer, als es ist…..
Krieg führt er bereits in Kurdistan, in Syrien und zunehmend in der Innenpolitik, schlimm genug für die Opfer.
Der Begriff “Krieg” wird hier im übertragenen Sinn verwendet. Damit ist gemeint, dass Erdogan seine Anhänger in Deutschland und in der EU mobilisieren kann, um Unruhe zu stiften, wie etwa in den Niederlanden. Hidir Celik