von Gert Eisenbürger

Lateinamerikas progressive Regierungen in der Defensive

Noch vor wenigen Jahren schienen linksreformistische Parteien in Lateinamerika in der Offensive. In den meisten südamerikanischen und einigen zentralamerikanischen Ländern hatten Mitte-Links-Koalitionen Wahlen gewonnen. Dank hoher Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt florierten die Volkswirtschaften. Dadurch konnten die progressiven Regierungen soziale Reformen umsetzen, die fast überall zu einem Rückgang der Armut führten. Doch dann fielen die Preise vieler Rohstoffe. Die wirtschaftliche Entwicklung stagnierte, in einigen Ländern kam es zu Rezessionen, in Venezuela gar zu einer tiefen Wirtschafts- und Versorgungskrise. Als Folge der ökonomischen Probleme verloren die linken Regierungen an Unterstützung. Im Jahr 2016 gelangte die Rechte in den beiden größten Ländern Südamerikas wieder an die Regierung. In Argentinien gewann sie die Wahlen, in Brasilien wurde Präsidentin Dilma Rousseff in einem fragwürdigen Verfahren ihres Amtes enthoben und durch ihren konservativen Vizepräsidenten ersetzt. Sind die linken Regierungsprojekte am Ende? Der folgende Beitrag gibt einen Überblick über die aktuelle Lage.

80er/90er: Desaster des Neoliberalismus

In den 80er- und 90er-Jahren regierten in Lateinamerika fast durchgängig neoliberale PolitikerInnen. Als Antwort auf hohe Staatsschulden setzten sie die Programme der Finanzinstitutionen Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank und Interamerikanische Entwicklungsbank um. Das bedeutete Sparhaushalte, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und die weitgehende Zerstörung sozialer Sicherungssysteme. Die Volkswirtschaften Lateinamerikas wurden grundlegend umstrukturiert. Bis in die 70er-Jahre war die Industrialisierung das Ziel der Wirtschaftspolitik gewesen. Importsubstituierung hieß die Parole, statt Güter zu importieren sollten sie vor Ort hergestellt werden. Um die lokale Produktion gegen billigere Waren aus den Industriestaaten zu schützen, wurden Schutzzölle erhoben. Das widersprach den Interessen der internationalen Konzerne. Die Militärdiktaturen und die so genannte Schuldenkrise waren die Instrumente, die ihnen den ungehinderten Zugang zu den Märkten Lateinamerikas sicherten, denn „Marktöffnung“ gehörte stets zu den Bedingungen des IWF für die Gewährung von Krediten. Statt eigene, nicht konkurrenzfähige Industrien aufzubauen, so die neoliberale Logik, sollten die lateinamerikanischen Länder ihre „komparativen Kostenvorteile“ nutzen und das auf den Weltmarkt bringen, was sie kostengünstig produzieren konnten, nämlich Bodenschätze und Agrarprodukte. Dieses Modell nennt man Extraktivismus. Soziale Bewegungen und kritische WissenschaftlerInnen stellen es grundsätzlich infrage. Es degradiert die Länder Lateinamerikas, wie schon in der Kolonialzeit, zu Rohstofflieferanten. Zudem sind die ökologischen und sozialen Kosten immens. Der Einsatz hochgiftiger Chemikalien verseucht Flüsse, Bäche und das Grundwasser, die in der agroindustriellen Landwirtschaft eingesetzten Agrargifte und Stickstoffdünger zerstören die Böden und beschleunigen den Klimawandel, durch die Ausweitung von Anbauflächen und Tagebauprojekten wird nicht selten ortsansässige Bevölkerung vertrieben.

Durch die Erlöse der Privatisierung öffentlicher Unternehmen (etwa in den Bereichen Telekommunikation, Elektrizität, Wasser) gelang es den neoliberalen Regierungen kurzfristig, die Staatshaushalte zu entlasten. Mit der Forcierung der Rohstoffexporte konnten Devisen erwirtschaftet und der Schuldendienst bedient werden. Teilweise verzeichneten die lateinamerikanischen Staaten in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren hohe Wachstumsraten, die Einkommen der begüterten Schichten stiegen kräftig an. Die neoliberale Politik führte aber auch zu breiter De-Industrialisierung und konnte keines der drängenden Probleme wie Arbeitslosigkeit, soziale Unsicherheit, Perspektivlosigkeit für die junge Generation oder Altersarmut lösen, beschleunigte stattdessen den Niedergang des Bildungs- und Gesundheitswesens. Unterdessen veränderte sie die sozialen Verhältnisse nachhaltig. Feste Arbeitsverträge wurden seltener, prekäre Beschäftigung, Saisonarbeit oder informelle Tätigkeiten, etwa im Straßenhandel, für immer mehr Menschen die einzige Möglichkeit zum Überleben. Dies schwächte die Gewerkschaften, gleichzeitig traten in den Kämpfen gegen die neoliberale Politik neue Akteure auf: Landlosenbewegungen, indigene Vereinigungen, bäuerliche und städtische Frauengruppen, Arbeitsloseninitiativen, Nachbarschaftsräte. Diese entwickelten neue Aktionsformen wie Besetzungen, Straßenblockaden oder die Belagerung öffentlicher Gebäude.

Ende der 90er: “Mitte-Links”-Ansätze

Die Unzufriedenheit immer breiterer Bevölkerungsgruppen und das Erstarken der sozialen Bewegungen schufen ab Ende der 90er-Jahre in Lateinamerika ein Klima, in dem immer mehr Menschen politische Veränderungen wünschten. Davon profitierten bald auch progressive Wahlalternativen. Die Linke war in Lateinamerika lange in der Defensive gewesen. Die Repression der Militärdiktaturen, der Zusammenbruch des realen Sozialismus und die Hegemonie politischer Konzepte, die Individualisierung und Entstaatlichung proklamierten, hatten soziale Politikansätze an den Rand gedrängt. Dazu kamen eigene Defizite, wie elitäre Avantgardeansprüche, fehlende interne Demokratie und männlich geprägte Strukturen. Die linken Parteien begannen sich zu „modernisieren“. Das bedeutete einerseits, dass sie versuchten, autoritäre Traditionen zu überwinden, andererseits aber auch, dass sie die bestehenden politischen und ökonomischen Strukturen weitgehend anerkannten und nur vergleichsweise bescheidene Korrekturen, vor allem eine aktivere staatliche Sozialpolitik, forderten. Politisch setzte die Linke vielerorts auf breite Bündnisse mit „gemäßigten“ Kräften, die die traditionellen Mittelschichten und Teile des Unternehmerlagers repräsentierten. So gewannen neue Mitte-Links-Allianzen zunächst Kommunalwahlen in wichtigen Städten wie São Paulo, Mexiko-Stadt, Montevideo oder Porto Alegre und ab 1999 auch Präsidentschaftswahlen in Venezuela, Brasilien, Uruguay, Argentinien, Bolivien, Nicaragua, Ecuador, Paraguay, El Salvador. Mitunter wurden zu den progressiven Regierungen auch die „großen Koalitionen“ in Chile und die Regierung von Ollanta Humala in Peru gerechnet, was ich nicht teile, weil diese Regierungen eine bruchlose Fortsetzung der neoliberalen Politik ihrer Vorgängerinnen betrieben. Eine Sonderrolle spielen einige karibische Staaten. So kamen auch in Guyana (1), Haiti, der Dominikanischen Republik, Jamaika und einigen ostkaribischen Inselstaaten nominell linke oder sozialdemokratische Parteien an die Regierung. Diese benötigten aber eine eigene Betrachtung, weil die politischen Konstellationen gänzlich andere sind als in Mittel- und Südamerika und sie politisch so widersprüchlich agierten/agieren, dass sie nur bedingt als progressiv-reformistisch bezeichnet werden können.

Bedeuteten die Regierungswechsel nun tatsächlich eine Abkehr vom Neoliberalismus und eine neue Politik für Lateinamerika? Um diese Frage fundiert zu beantworten, müsste jedes Regierungsprojekt gesondert betrachtet werden, denn bei allen Gemeinsamkeiten gibt es erhebliche Unterschiede. Diese werden in den Beiträgen dieses Schwerpunktes näher beleuchtet. Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Mitte-Links-Regierungen die neoliberale Politik ihrer Vorgängerinnen nicht ohne weiteres fortsetzten. Es wurde nicht weiter privatisiert, in einigen Fällen wurden desaströse Privatisierungen (etwa die der Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas oder der argentinischen Rentenversicherung) rückgängig gemacht. Bei der Agrarreform in Venezuela wurde in bescheidenem Umfang brachliegendes Land von Großgrundbesitzern enteignet und an Landlose oder Kleinbauern und -bäuerinnen übergeben.

Aber weitergehende Umverteilungen und Eingriffe in Eigentumsverhältnisse gab es nicht. Selbst die Einführung einer progressiven Besteuerung wurde in den meisten Ländern aufgrund des Widerstands der begüterten Schichten nicht durchgesetzt. Das hätte bedeutet, für höhere Einkommen höhere Steuersätze zu veranschlagen als für niedrige, wie es in der Bundesrepublik und den meisten EU-Staaten die Regel ist und auch in den Programmen der meisten Linksparteien in Lateinamerika gefordert wird. Doch nur in Uruguay und bescheidener in Brasilien gab es Steuerreformen, die darauf zielten, vor allem Einkommen zu besteuern und dabei Besserverdienende stärker zu belasten. In den meisten anderen Staaten werden Steuern weiterhin fast ausschließlich auf den Konsum (Mehrwertsteuern) oder die Exporte und nicht auf Einkünfte erhoben. Damit bezahlen die Ärmsten nach wie vor für ihr Brot den gleichen Mehrwertsteuersatz wie die Oberschicht auf ihren importierten Kaviar.

Kein Ende des “Extraktivismus”

Generell haben sich die Mitte-Links-Regierungen nicht vom erwähnten extraktivistischen Rohstoffexportmodell verabschiedet. Ausnahmen bildeten teilweise Brasilien, das wegen seines hohen Industrialisierungsgrades eine relativ differenzierte Produktionsstruktur hat (allerdings stieg auch dort Soja zum wichtigsten Exportprodukt auf, die Ausfuhren industrieller Produkte blieben aber auf einem hohen Niveau) und El Salvador, wo die in den so genannten Maquiladoras (Lohnveredelungsbetriebe) hergestellten Textilien heute für die Handelsbilanz wichtiger sind als etwa die Ausfuhr von Kaffee.
Die anderen Länder waren/sind weiterhin vom Export weniger Agrarprodukte und Rohstoffe abhängig, Venezuela und Ecuador vom Erdöl, Bolivien von Erdgas und Mineralien, Peru von Erzen, Argentinien von Soja, Weizen, Wolle und Fleisch, Uruguay von Wolle, Fleisch, Reis und Zellstoff, Nicaragua von Kaffee, Bananen, zunehmend aber auch vom Tourismus.

Auf die vor allem der Nachfrage aus China und anderen asiatischen Ökonomien geschuldeten hohen Weltmarktpreise für Rohstoffe zu setzen erschien den auf schnelle sozialpolitische Erfolge bedachten progressiven Regierungen attraktiv – Extraktivismus gedacht als Übergangsprojekt. Langfristiges Ziel sei, so wurde zumindest verbal betont, der Aufbau einer eigenen Industrieproduktion. Tatsächlich begann in begrenztem Umfang die Förderung eigener industrieller Kapazitäten, aber das Gros der öffentlichen Investitionen ging in den Ausbau der Infrastruktur für die Rohstoffexporte.

Bis zur Weltfinanzkrise 2007/2008 lief scheinbar alles bestens. Überall gab es kräftige Wachstumsraten, die Einkommen stiegen, die Mittelschichten wurden breiter und die Armut konnte deutlich reduziert werden. Letzteres war teilweise das Ergebnis der insgesamt günstigen ökonomischen Entwicklung, wurde aber durch gezielte Sozialprogramme unterstützt. Mehrere Länder schufen eine Art Sozialhilfe für die Ärmsten. Teilweise waren/sind diese an – durchaus sinnvolle – Bedingungen geknüpft, so erhalten in Bolivien Familien die Zuwendungen nur, wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken, was dazu führte, dass der Schulbesuch vor allem in ländlichen Regionen zunahm. Fraglos sind viele Ergebnisse der Sozialprogramme beeindruckend. So konnte dank des von den Regierungen der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) durchgesetzten Null-Hunger-Programms die absolute Armut massiv reduziert werden. Besonders die BewohnerInnen des Nordostens, der über Jahrhunderte eine Hungerregion war, wo die Menschen aufgrund der Unterernährung deutlich kleinwüchsiger sind als in anderen Regionen Brasiliens, hatten erstmalig genug zu essen. Allein dies soll man immer berücksichtigen, wenn auf die Defizite der PT-Regierung hingewiesen wird!

Die Popularität von Chavez

Dass das extraktivistische Modell aber nicht nur ökologisch, sondern auch ökonomisch problematisch ist, wurde spätestens deutlich, als die Weltmarktpreise für die meisten Rohstoffe fielen. Am dramatischsten zeigte sich das in Venezuela, wo es auch in der Ära Chávez nicht gelang, wohl auch gar nicht versucht wurde, die fast vollständige Abhängigkeit des öffentlichen Haushalts von den Erdöleinnahmen zu reduzieren. Solange der Ölpreis hoch war, sah es gut aus. Chávez lenkte die Ölgelder, von denen bis dahin vor allem die Ober- und Mittelschichten profitiert hatten, teilweise in Sozial-, Gesundheits- und Bildungsprojekte für die arme Bevölkerung um. Besonders erfolgreich war dabei die Misión Barrio Adentro (Hinein ins Stadtviertel), eine venezolanisch-cubanische Kooperation im Gesundheitswesen. Venezuela lieferte dem unter einer schweren Energiekrise leidenden Cuba Erdöl zu einem Vorzugspreis. Die Insel bezahlte dafür nicht in Devisen, sondern mit der Entsendung von Ärzten und Ärztinnen nach Venezuela. Bis dahin war die medizinische Versorgung in den Armenvierteln der venezolanischen Städte desolat gewesen, weil einheimische Ärzte kein Interesse hatten, für ein kleines Gehalt in den popularen Vierteln zu arbeiten. Auch Cuba profitierte von dem Deal, indem sich dort die Versorgungslage entspannte und die extrem schwierige Lage im Nahverkehr verbessert werden konnte.

Barrio Adentro und die anderen sozial- und bildungspolitischen Missionen begründeten die große Popularität von Hugo Chávez bei denjenigen VenezolanerInnen, für die sich bisher keine Regierung interessiert hatte. Leider wurden die sprudelnden Gelder zu beträchtlichen Teilen nicht ökonomisch nachhaltig eingesetzt, sondern entlang kurzfristiger politischer Interessen. Ein Beispiel war die im März 2004 begonnene und mit sehr viel Geld ausgestattete Misión Vuelvan Caras, die Arbeitslosen und TeilnehmerInnen an Alphabetisierungsprogrammen ermöglichen sollten, eine technische Ausbildung zu erhalten und Kooperativen aufzubauen. Deren Mitglieder erhielten in den ersten beiden Jahren einen Lohn vom Staat, danach sollten die Genossenschaften auf eigenen Beinen stehen. Auf diese Weise entstanden in kürzester Zeit Zehntausende von Kooperativen. Um längerfristig lebensfähig sein zu können, hätten ihre Mitglieder nicht nur ein garantiertes Einkommen in den ersten beiden Jahren gebraucht, sondern Aus- und Weiterbildung, Beratung und Unterstützung bei der Vermarktung ihrer Produkte und Dienstleistungen sowie weitere Hilfen über die Anschubfinanzierung hinaus. Dies alles bekamen sie nicht oder nur völlig unzureichend, sodass nur wenige Kooperativen länger als zwei Jahre existierten. Es drängt sich der Eindruck auf, dass es gar nicht darum gegangen war, einen starken, lebensfähigen Kooperativensektor aufzubauen, sondern mit der Schaffung von einigen Hunderttausend Zeitjobs in den neuen Genossenschaften vor allem den Sieg von Hugo Chávez beim Abwahlreferendum im August 2004 und den Präsidentschaftswahlen 2006 zu sichern.

Andere Linksregierungen wirtschafteten mit den zeitweilig sprudelnden Export- und Staatseinnahmen klüger als die Machthaber in Venezuela. Allerdings blieb die Abhängigkeit von den Rohstoffexporten überall die Achillesferse der Wirtschaftspolitik. Als die Weltmarktpreise sanken, bedeutete das fast überall ein Ende der Wachstumsphase und bald auch eine Gefährdung der eingeleiteten sozialen Verbesserungen. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage führte zu ähnlichen Entwicklungen. Zunächst wandten sich die Mittelschichten von der Linken ab, weil sie in Zeiten sich verschärfender Verteilungskonflikte der Rechten eher zutrauten, ihre Privilegien zu sichern. Natürlich wurde das nicht so formuliert, sondern im Einklang mit der Argumentation der privaten Medien werden Korruption und „wirtschaftspolitische Fehler“ der Regierungen kritisiert.
Gleichzeitig reagierten auch die Armen zunehmend verunsichert, weil sie spürten, dass die Zeiten, in denen sie wenigstens etwas vom Kuchen abbekamen, vorbei zu sein schienen.

Korruption und Demokratiedefizite

Allerdings wäre es verkürzt, die aktuellen Popularitätsverluste der linken Regierungen alleine auf die verschlechterte ökonomische Lage zurückzuführen. Viele der benannten Probleme und Defizite sind real, auch wenn sie von konservativen Medien und Gruppen vorgebracht und auch aufgebauscht werden. Natürlich ist in vielen Ländern Korruption ein Problem, obwohl diejenigen, die am lautesten schreien, eigentlich ganz still sein müssten. Die PT-Regierung in Brasilien hatte ihre Skandale und ihre PolitikerInnen haben sich bei den öffentlichen Unternehmen bedient, aber diejenigen rechten Kräfte, die die Amtsenthebung von Dilma Rousseff betrieben haben, stecken noch viel tiefer im Korruptionssumpf. Ähnliches ist über die Regierung Kirchner in Argentinien zu sagen, wo sicher Gelder in private Taschen wanderten, aber nach allem, was bisher bekannt ist, längst nicht in dem Umfang wie in der Ära des neoliberalen Präsidenten Menem. Die Linken hatten in den 90er-Jahren die vorhandene Korruption kritisiert und eine gute Regierungsführung versprochen. Aber nachdem sie in ihre Ämter gekommen waren, haben sie viel zu selten wirksame Instrumente etabliert, um PolitikerInnen, Unternehmen, Angehörige von Polizei und Militär sowie sonstige Staatsbedienstete besser zu kontrollieren.

Auch gibt es bei verschiedenen linken Regierungen Demokratiedefizite. Sicher ist es allzu durchsichtig, dass schwerreiche Verleger oder rechtskonservative internationale Journalistenverbände sofort die Pressefreiheit gefährdet sehen, wenn gegen Medienkonzentration vorgegangen wird oder neben privaten auch öffentliche TV- und Rundfunkstationen aufgebaut werden. Ebenso ist es heuchlerisch, wenn hiesige Kommentatoren es ungeheuerlich finden, dass Evo Morales ebenso lange regieren möchte wie Angela Merkel. Aber Fakt ist, dass viele lateinamerikanische Regierungslinke immer nervöser und aggressiver auf Kritik reagieren und dazu tendieren, jeden Widerspruch in die rechte Ecke zu stellen. Überwiegend bleibt es noch bei Beschimpfungen und Diffamierungen, mitunter werden aufmüpfigen Medien auch die bezahlten Veröffentlichungen offizieller Verlautbarungen entzogen. Diese Haltung des „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ birgt jedoch immer die Gefahr, dass die Presse- und Informationsfreiheit irgendwann tatsächlich eingeschränkt wird.

Nach dem Ende der zivil-militärischen Diktaturen haben viele Linke zu Recht auf die Defizite der bürgerlichen Demokratien in Lateinamerika hingewiesen. Es wurde zwar nun regelmäßig gewählt, aber eine wirklich breite politische Partizipation gab es nicht. Die Medien waren und sind in den Händen der wirtschaftlichen Machtgruppen, die Parteien, die theoretisch Instrumente der politischen Willensbildung und Diskussion sein sollen, waren noch stärker als in Europa Konglomerate von LobbyistInnen und KarrieristInnen, die vor allem für eigene ökonomische Vorteile stritten und ansonsten die Politik der Internationalen Finanzinstitutionen durchsetzten. Parlamentarismus wurde so vielerorts zur Karikatur.
Es waren die sozialen Bewegungen und linken Parteien, die diese Pseudodemokratien in den 90er-Jahren kritisierten und alternative Modelle politischer Partizipation und Demokratie einforderten. In einigen Städten, wo progressive BürgermeisterInnen gewählt wurden, gab es damals interessante Projekte, die auf die Schaffung von mehr politischer Beteiligung zielten, etwa die auf BürgerInnenversammlungen diskutierten und festgelegten Kommunalhaushalte im südbrasilianischen Porto Alegre oder etwas weniger ambitioniert im uruguayischen Montevideo. In Argentinien unterstützten linke Organisationen zumindest in der Anfangsphase die entstehenden Stadtteilversammlungen und die Übernahme und Verwaltung Pleite gegangener Betriebe durch die Belegschaften.
Mit der Übernahme der Regierungen durch linke Bündnisse auf nationaler Ebene hätte es die Möglichkeit gegeben, die auf kommunaler Ebene gewonnenen Erfahrungen von mehr politischer Beteiligung auszuwerten und zu institutionalisieren. Doch diese Chance wurde kaum genutzt, die in den Wahlprogrammen formulierten Forderungen nach Partizipation und Dezentralisierung von Entscheidungsprozessen wurden nicht erfüllt. Wo neue politische Instrumente und Strukturen auf kommunaler Ebene geschaffen wurden, wie etwa in Nicaragua und Venezuela, dienen sie eher dazu, den Einfluss der jeweils regierenden Partei auf Stadtteilebene auszubauen, auch wenn das einige SoliaktivistInnen anders sehen.

Kriminalität und öffentliche Sicherheit

Eine weitere Baustelle, auf der die linken Regierungen wenig bewegen konnten, ist die Frage der öffentlichen Sicherheit. In vielen lateinamerikanischen Ländern ist die Zahl der Überfälle, Einbrüche oder Morde sehr hoch, wobei die BewohnerInnen ärmerer Viertel sehr viel häufiger Opfer von Verbrechen werden als diejenigen, die in den wohlhabenderen Stadtteilen leben. Dies ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass dort, wo die Menschen besonders unter der Unsicherheit leiden, die Polizeikräfte als Teil des Problems, nicht als Teil seiner Lösung wahrgenommen werden. Teilweise ist die Polizei extrem korrupt, mitunter kooperiert sie mit der organisierten Kriminalität. Vor allem arbeiten die Polizeieinheiten meistens nicht effektiv bei der Aufklärung von Straftaten, sondern bekämpfen die Gruppen, die sie als potenzielle Delinquenten sehen, vor allem junge, dunkelhäutige Männer aus den ärmeren Vierteln. Menschenrechtsgruppen weisen immer wieder darauf hin, dass an jedem Wochenende in Städten wie Caracas, São Paulo, Rio de Janeiro oder der Provinz Buenos Aires Jugendliche, die man für Straftäter hält, von Polizeikräften erschossen werden und es fast nie zu Untersuchungen dieser Fälle kommt. Daran hat sich unter den linken Regierungen nichts geändert. Vor einigen Jahren erzählten brasilianische Bekannte, was die Polizei normalerweise unternimmt, wenn Überfälle auf TouristInnen angezeigt werden. Ermittlungen, also Zeugenbefragungen, Sichern von Spuren oder Auswertungen gesammelter Daten, gebe es fast nie. Stattdessen würde die Polizei bei entsprechenden Anzeigen in die umliegenden Favelas fahren, „verdächtige“ Jugendliche festnehmen und auf die Polizeiwachen bringen. Dort würde man sie foltern und darauf hoffen, dass der ein oder andere etwas von den Überfällen weiß und auspackt. Wenn aufgrund dieser erpressten Aussagen dann Leute verhaftet würden, landeten sie oft über Jahre im Gefängnis, aber nur selten komme es zu Verfahren und Verurteilungen, weil die Justiz überlastet sei. Ähnliches wird von Menschenrechtsorganisationen aus anderen lateinamerikanischen Staaten berichtet.

Eine wirksame Bekämpfung der Kriminalität müsste zwei Säulen haben, zum einen Prävention, das heißt soziale und pädagogische Programme, die gefährdete oder bereits straffällig gewordene Jugendliche erreichen, zum anderen eine sauber und effektiv arbeitende Polizei und Justiz. Dies würde eine Reform und Professionalisierung der Sicherheitskräfte verlangen und die schaffung von besonderen Einheiten und Strukturen, die die Straftaten von Angehörigen der Polizei verfolgen. Gegen solche grundlegende Reformen gibt es erhebliche Widerstände und so hat es keine der linken Regierungen geschafft, in diesem Bereich wirklich grundlegende Veränderungen zu erreichen. Es sind nicht nur die Polizeiapparate, die sich entsprechenden Reformen widersetzen, sondern auch eine öffentliche Meinung, die sehr stark von Rachegedanken bestimmt ist und in der Vorstellungen von Prävention und Resozialisierung wenig Raum haben. Die Rechte versteht es überall, sich zum Sprachrohr des „gesunden Volksempfidens“ zu machen, der Linken Schwäche vorzuwerfen und eine „harte Hand“ gegen StraftäterInnen zu fordern.
Entsprechend sind Reformen im Strafvollzug und eine Verbesserung der desolaten Lage in den hoffnungslos überfüllten Gefängnissen denkbar unpopulär. Um dort etwas zu erreichen, braucht es mutige PolitikerInnen, die ihr Handeln nicht nur nach Stimmungen ausrichten. Als die Regierung der Frente Amplio in Uruguay etwa ein vorsichtiges Programm der Resozialisierung von Straftätern ankündigte, wozu auch der Anspruch entlassener Häftlinge auf die neu geschaffene Sozialhilfe (so wie für alle anderen mittellosen UruguayerInnen auch) gehörte, setzte sofort ein Geschrei der rechten Medien ein, die linke Regierung wolle Kriminelle für ihre Taten auch noch belohnen. Der damalige Innenminister blieb bei seiner Reform und die FA war trotz der Medienschelte bei den folgenden Wahlen erfolgreich.

Bildung

Ein anderes Feld, in dem die progressiven Regierungen echte Reformen unterlassen haben, ist das Bildungswesen. Das sieht in Lateinamerika meist so aus, dass es schlecht ausgestattete öffentliche
Schulen und sehr gut ausgestattete private Bildungseinrichtungen gibt. Letztere verlangen natürlich Schulgeld, was bedeutet, dass sie nur den Kindern der Mittel- und Oberschichten und ganz wenigen
StipendiatInnen aus ärmeren Schichten zugänglich sind. Schon für viele Familien der mittleren und unteren Mittelschicht bedeuten die Kosten für das Schuldgeld eine enorme Belastung des Budgets.

Der Besuch einer „guten Schule“, also einer Privatschule, ist aber in vielen lateinamerikanischen Ländern die Voraussetzung, um überhaupt die Aufnahmeprüfungen der Universitäten zu schaffen, zumindest derjenigen unter den öffentlichen und privaten, die einen „guten Ruf“ genießen und deren Diplome tatsächlich die Perspektive bedeuten, nach dem Studium einen vernünftigen Job zu finden. Das heißt, das Bildungssystem in der jetzigen Form garantiert, dass sich die Mittel- und Oberschichten immer wieder reproduzieren und ärmere Kinder kaum Möglichkeiten eines sozialen Aufstiegs haben. (zum Bildungssystem vgl. den Beitrag von Stefan Peters in dieser ila)
Zwar haben die progressiven Regierungen deutlich mehr Geld ins öffentliche Bildungswesen investiert als ihre neoliberalen VorgängerInnen, aber vor allem im Sekundarschulwesen gibt es weiterhin ein enormes Gefälle zwischen öffentlichen und privaten Bildungseinrichtungen. Daran zu rütteln hätte zweifellos den massiven Widerstand der Mittelschichten hervorgerufen, was wir auch von hier zur Genüge kennen, wenn liberalkonservative Elternverbände immer von Neuem für die Verteidigung des elitären Gymnasiums gegen die sozial durchlässigeren und offeneren Gesamtschulen auf die Barrikaden gehen.

Eliten nicht demokratiefähig – Linke vor grundlegender Reflexion

Der Sturz der Regierung Salvador Allendes 1973 in Chile oder der Putschversuch gegen Hugo Chávez 2002 in Venezuela haben gezeigt, dass Lateinamerikas Eliten nicht bereit sind, weitergehende politische Veränderungen hinzunehmen, die ihren Interessen zuwiderlaufen. Sie scheren sich dann nicht um demokratische Wahlen, sondern versuchen, solche Regierungen mit Gewalt zu stürzen – oft mit Unterstützung der jeweiligen US-Administrationen. In Chile hatten sie damit 1973 Erfolg, in Venezuela sind sie 2002 gescheitert. Um solche Polarisierungen zu verhindern, haben die meisten Mitte-Links-Regierungen versucht, vieles zu umgehen, was die traditionellen Machtgruppen verärgern könnte, seien es Reformen der Sicherheitskräfte, ein Umbau des Bildungssystems oder die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Trotzdem haben die Oligarchien und die konservativ-klerikalen Kräfte in Paraguay, Honduras und Brasilien die erstbeste Gelegenheit genutzt, um die PräsidentInnen Fernando Lugo, Mel Zelaya und Dilma Rousseff in kalten Staatsstreichen abzusetzen. Andernorts steht die Rechte Gewehr bei Fuß, um bei den nächsten Wahlen die geschwächte Linke abzulösen. Ob dies überall gelingt, wird sich zeigen, zumal die Rechte derzeit außer der Verteidigung der Privilegien ihrer Klientel wenig politisch zu bieten hat. Die Linke und die sozialen Bewegungen stehen vor einer grundlegenden Reflexion der in den vergangenen zehn/fünfzehn Jahren gemachten Erfahrungen. Derzeit sind sie sicherlich in der Defensive, stehen aber keineswegs vor einem Scherbenhaufen: Auch wenn es viele Enttäuschungen gab und zahlreiche unfertige Baustellen existieren, wurde auch Einiges erreicht, das jetzt erstmal gegen die Angriffe der Rechten verteidigt werden muss.

1. Guyana ebenso wie Suriname und Belize liegen zwar auf dem süd- beziehungsweise zentralamerikanischen Festland, werden aber aufgrund der Kolonialgeschichte, der wirtschaftlichen Strukturen und der kulturellen Traditionen zur Karibik gezählt.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der Zeitschrift “ila 404” der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

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