Die autoritäre Verformung der Türkei ist in vollem Gange. Rund die Hälfte der knapp 80 Mio. Einwohner*innen ist oppositionell eingestellt. Besonders gefährdet sind diejenigen in kreativ-kulturellen oder bildenden Berufen, weil sich die Inhalte ihrer Arbeit kaum von Politik trennen lassen.
Derzeit ist Erdogans Staatsführung mit dem Unterdrücken noch ausgelastet, weil er sich durch seine Spaltung von seinen Gülen-Freund*inn*en administrativ selbst geschwächt hat. Manche Kulturbereiche, die seine Leute nicht so wichtig finden, leben darum noch in einer Blase trügerischen Schonraums. Doch jede*r, der/die drei Meter weit denken kann, weiss, dass Polizei und Staatsanwaltschaft jederzeit vor der Tür stehen können, und Betroffene dann faktisch ohne Rechtsschutz dastehen, also Gefahr für ihr Leib und Leben gewärtigen müssen. Update 7.6.: Heute z.B. wurde der Chef der türkischen Sektion von Amnesty International Taner Kilic “abgeholt”. Und übrigens: Deniz Yücel, der langsam aus den deutschen Schlagzeilen verschwindet, sitzt immer noch in Haft, da hilft ihm leider bisher auch seine deutsche Staatsbürgerschaft nichts.
Die Merkel-Bundesregierungen, die schon in besseren Zeiten immer gegen eine EU-Integration der Türkei mobilisiert hatten, haben stattdessen immer eine angebliche “privilegierte Partnerschaft” angeboten, ein rhetorisch peinliches Ersatzangebot. Jetzt sind es aber die zahlreichen engagierten Demokrat*inn*en in der Türkei, die wirklich auf so eine privilegierte Partnerschaft angewiesen wären.
Das würde bedeuten, dass sie Visafreiheit brauchen. Dass sie nach Deutschland kommen und hier arbeiten können. Dass ihnen dabei geholfen wird, statt ihnen Steine in den Weg zu legen. Dass sie hier Schutz vor Verfolgung, Verhaftung und Ermordung finden. Und jederzeit, wenn sie den Mut dazu finden, und viele von ihnen wollen das, wieder in die Türkei zurückkehren können, wenn die Lebensverhältnisse wieder Ähnlichkeiten mit Demokratie und Rechtsstaat bekommen.
Auch wenn sie es zu uns schaffen, werden sie Hilfe brauchen. Den wenigsten wird es gelingen, in ihrem erlernten Beruf hier weiterarbeiten zu können. Viele, die in Istanbul, Ankara oder Izmir Berühmtheiten und Autoritäten ihres Berufsfeldes sind, kennt hier keiner. Sie werden unbeachtet bleiben. Das kann den einen oder die andere kränken und demprimieren. Auch dabei wäre Hilfe und Solidarität erforderlich.
Statt sich mit dem Abschieben von politischen Flüchtlingen zu beschäftigen, muss die Bundesregierung in Koordination mit den Bundesländern hierzu ein kohärentes Programm entwickeln. Soll es demonstrativ als Konfrontation gegen Erdogan entwickelt werden, oder lieber diskret, um in möglichst vielen Einzelfällen wirksam schützend zu helfen? Werden die deutschen Konsulate entsprechend instruiert? Machen andere EU-Länder dabei mit? Wie werden deutsche Bildungs- und Kultureinrichtungen, die das jetzt schon individuell – ohne jede staatliche Koordination und Hilfe – praktizieren, wirksam unterstützt?
Ein weites Feld, und bisher ist nicht zu erkennen, dass es in Berlin irgendein politisches Großmaul wirklich interessiert. Es wäre um vieles dringlicher, als die Frage der Reisedestinationen deutscher Abgeordneter.
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