Von Peter Wahl
Der Ökonom Thomas Piketty formuliert mit Kollegen unorthodoxe Ideen zur Stabilisierung der Euro-Zone

Derzeit wimmelt es an Vorschlägen zur Rettung der EU und der Euro-Zone. Nachdem mit Emmanuel Macron in Frankreich ein Hoffnungsträger des europapolitischen Mainstreams ans Ruder gekommen war, wurde nach der Bundestagswahl allenthalben eine deutsch-französische Initiative zur Stabilisierung der Währungsunion erwartet. Inzwischen sieht es aber danach aus, dass es mit dem großen Wurf nichts wird. Statt dessen dürften das Merkelsche »Auf-Sicht-Fahren« und die Durchwurstelei weitergehen. Dennoch fällt unter den vielen Vorschlägen einer aus der Reihe, weil er aus einer Ecke kommt, wo man ihn nicht vermutet hätte: der linken Sozialdemokratie.

Verfasst wurde er von einem französischen Autorenkollektiv mit dem Starökonomen Thomas Piketty an der Spitze. Das 90 Seiten starke Büchlein liegt jetzt auch auf deutsch vor, unter dem etwas drögen Titel »Für ein anderes Europa – Vertrag zur Demokratisierung der Euro-Zone«. Piketty hatte 2013 mit seinem Buch »Das Kapital im 21. Jahrhundert« beträchtliches Aufsehen erregt. Im französischen Präsidentschaftswahlkampf hatte er sich an der Seite des Kandidaten des linken Flügels der Sozialistischen Partei, Benoît Hamon, engagiert, der allerdings mit 6,4 Prozent, weit abgeschlagen, aus dem Rennen fiel.

Der Kritik Pikettys und seiner Kollegen am Management der Euro-Krise kann jeder anständige Linke zustimmen, etwa wenn vom »toten Winkel der politischen Kontrollmöglichkeiten«, einem »schwarzen Loch der Demokratie« und »postdemokratischer Autokratie« die Rede ist. Ihnen ist auch bewusst, dass »das gesamte ›europäische Projekt‹ auf den Prüfstand« gehört. Ihr Vorschlag sei daher lediglich ein Einstieg in einen längerfristigen Transformationsprozess.

Kern ihres Konzepts ist die Schaffung eines Parlaments für die Euro-Zone. Allerdings soll dies nicht, wie das jetzige EU-Parlament, demokratisches Feigenblatt bleiben, sondern zum realen Machtzentrum der Euro-Zone werden. Ausgestattet mit allen Rechten eines echten Parlaments: Gesetzesinitiative, Wahl der Spitzenämter inklusive der Europäischen Zentralbank, Untersuchungsausschüsse, unbeschränkter Zugang zu Informationen usw. Im Konfliktfall mit den Regierungen soll es das letzte Wort haben. Vorgesehen ist auch ein eigenes Budget. Zum Mandat des Parlaments gehört es ausdrücklich, »dauerhaftes Wachstum und Beschäftigung zu fördern« sowie »den sozialen Zusammenhalt zu stärken«.

All das ist natürlich nicht neu. Zahlreiche andere (links-)keynesianische Positionen fordern schon lange ähnliches. Und natürlich ist es bei den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen auch völlig unrealistisch. Allerdings gilt das ja auch für 99 Prozent aller anderen Vorschläge von links.

Der Clou liegt woanders: Piketty und Co. wollen ihre Projekt nämlich nicht im Rahmen der EU-Institutionen, ihrer Verträge und Verfahren verwirklichen, sondern als sogenannten intergouvernementalen Vertrag, das heißt mit einem völkerrechtlichen Abkommen, wie es x-beliebige Staaten untereinander abschließen können. Dann hätten weder die Mitgliedsstaaten außerhalb der Euro-Zone dabei mitzureden noch die EU-Kommission oder der Europäische Gerichtshof. Piketty hat begriffen, dass auch nur halbwegs progressive Reformen in der Zwangsjacke der EU-Verträge keine Chance haben. Der Neoliberalismus ist quasi verfassungsmäßig in den EU-Regularien verankert. Man spricht von »neoliberalem Konstitutionalismus«. Auf legalem Wege sind die Verträge nur durch einstimmigen Beschluss aller Mitgliedsstaaten zu ändern. Das macht alle linke Hoffnung, die EU im Rahmen der bestehenden Verträge sozial gerecht und demokratisch zu machen, zur Illusion.

Realpolitische Bedenkenträger werden natürlich die Frage aufwerfen, was geschieht, wenn die so reformierte Euro-Zone in Widerspruch zu den EU-Verträgen gerät. Denn die Mitglieder der Währungsunion bleiben ja weiterhin in der EU und unterliegen dortigem Recht. Hier liegt in der Tat ein Schwachpunkt des Konzepts. Um ihn zu überwinden, müsste Piketty so weit wie der Präsidentschaftskandidat der französischen Linkspartei (Front de Gauche) Jean-Luc Mélenchon gehen. Der hatte im Wahlkampf erklärt: »Die Europäische Union – entweder wir ändern sie, oder wir sind draußen.« Das traut sich Piketty dann doch nicht. Ob aus taktischen Gründen oder aus Überzeugung sei dahingestellt. Andernorts ist man da schon weiter. Viele Linke in Großbritannien sehen inzwischen, dass auch die Reformen des Vorsitzenden der Labour-Party, Jeremy Corbyn, im Rahmen der EU-Verträge nicht möglich wären.

Von links kann man natürlich einwenden, dass die strukturellen Probleme des Euro damit kaum aus der Welt sind. Aber für die Sozialdemokraten ist Pikettys Vorschlag bemerkenswert. Auch für die Linkspartei könnte er ein Impuls sein, etwas mehr Courage und Innovationsgeist in ihrer europapolitischen Strategie an den Tag zu legen. Sonst wird sie noch von Sozialdemokraten links überholt – zumindest von denen aus Frankreich.

Stéphanie Henette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste, Antoine Vauchez: Für ein anderes Europa. Vertrag zur Demokratisierung der Euro-Zone, C. H. Beck Verlag, München 2017. 89 S., zehn Euro.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus der Jungen Welt, mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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