Johanna Tirnthal erinnerte am abgelaufenen Wochenende im Deutschlandfunk an Hannah Arendt und ihr heute noch aufsehenerregendes TV-Gespräch mit Günter Gaus. Das hatte ich hier auch bereits getan. Ich wusste nicht, was Tirnthal zurecht hervorhob, dass Gaus’ Gespräch mit der 68er-Ikone Rudi Dutschke auf Youtube “nur” gut hunderttausend Klicks erwirtschaftete, also nur gut ein Zehntel von Arendt. Und ja, das sagt uns was über uns, das Publikum, heute, und welche inhaltlichen Fragen und Figuren heute aktuell und virulent sind.
Der ganze Beitrag war durch und durch verdienstvoll. Eine einzelne klitzekleine Formulierung Tirnthals brachte mich gedanklich jedoch auf die Palme: solche Gespräche seien “heute im Fernsehen nicht mehr denkbar”. Warum eigentlich nicht?

Gaus sprach knapp eine Stunde mit einem Gast. U.a. demontierte er Heiner Geißler zu seinen “besten” CDU-Generalsekretärs-Zeiten (1985) nach allen Regeln seiner handwerklichen Kunst. Er sprach mit dem Ex-Terroristen und Ex-Jungdemokraten Christian Klar (2001), dass mir vor Entsetzen über dessen intellektuelle Verfassung Schauer über den Rücken liefen. Der Interviewer Gaus interessierte sich immer für den Menschen, den er vor sich hatte. Er hat sich gründlichst auf ihn vorbereitet. Nicht um seine Antworten exakt vorausberechnen zu können, seine Moderationskärtchen abzuhaken und daraus ein Gerüst für eine Show zu bauen. Sondern aus Neugier, weil er mehr erfahren und wissen wollte. Es war für ihn und uns ein Weg zu einem besseren Verständnis der Welt. Und darum grossartiges Fernsehen.
Dass eine Autorin, die absolut guten Willens und mit hinreichender intellektueller Substanz ausgestattet ist, das heute für “nicht mehr denkbar” hält, hat wohl was mit ihrer “deformation professionelle” zu tun. Sie drückt nur aus, was die herrschende Meinung des (ganzen?) Betriebs ist. Der damit seine eigene Grube gräbt.
Erinnern Sie sich noch an die frühe Maischberger? Die nach dem “Sat1-Talk im Turm”, als sie sich nachmittags um 17 Uhr bei n-tv mit halbstündigen Einpersoneninterviews emanzipierte, und wo vermutlich Helmut Schmidt sich in sie vernarrte (Produzent: Friedrich Küppersbusch). Roland Appel war damals als Übungsgast beim Casting beteiligt, ich fand die konkurrierende Interviewerin in jeder Hinsicht schärfer, aber Prouzent und Sender fürchteten wohl zu Recht, dass einzulandende Gäste vor der irgendwann zuviel Angst bekommen und absagen würden. Die “sanfte” Maischberger gewann. Eins ihrer besten Gespräche, das ich sah, war mit dem grossartigen Maximilian Schell. Richtige Gespräche.

Was machte die ARD aus und u.a. mit ihr? Nicht zu ihrem Schaden, ihrem Unternehmen dürfte es prächtig gehen. Shows! Unterhaltungsprogramm. In den Talkshows finden keine Gespräche mehr statt, sondern Präsentationen von Personen, ihren Erzeugnissen, und – wenns gut läuft – ihren Positionen. Auf Gedankenaustausch, auf Wechselwirkung, Dialektik, gegenseitige intellektuelle Befruchtung wird komplett verzichtet. Hauptsache es ist “was los”.
Öffentlich-rtechtliche Sender graben sich mit diesen Konzepten ihr eigenes Grab. Sie hoffen auf Quote und fabrizieren dafür verwechselbare Serienware. Ich habe für sowas schon seit vielen Jahren keine Zeit. Als Jauch noch nach dem Tatort kam, gewöhnte ich mir an, um diese Zeit immer den Müll runterzubringen – das erscheint mir auch heute noch symbolisch passend.

Wenn es irgendwann eine*r wie Gaus macht, bin ich wieder dabei. Und wenn sich keine*r findet – einfach die alten Gaus-Dinger wiederholen. Sie sind es wert. Bis es endlich eine*r von heute gelernt hat. Ob es diese Sender überhaupt noch so lange gibt …?

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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