“Lisbett, wie hällze datt bloss aus, mit sonne bekloppte Regierung” hätte Else Stratmann jetzt gefragt, eine Kunstfigur mit der Elke Heidenreich einst ihre vielfältige Karriere als öffentliche Person begründet hat. Die “Lisbett” (Elizabeth II.) von heute könnte Angela Merkel sein.

Niemand von uns weiss, was beim Mordanschlag Skripal wirklich passiert ist. Wir sind darauf angewiesen, uns aus dem Propagandakrieg ein eigenes Bild zusammenzusetzen, je nachdem wem wir wieviel glauben. Und da hat nun die britische Regierung gestern im UN-Sicherheitsrat ein weiteres fulminantes Eigentor geschossen, das sich in seiner Spektakularität politisch mit der Ästhetik von Ronaldos Zaubertor messen kann. Mir will es nur bisher nicht gelingen, mir die russische Regierung als Lionel-Messi-artige Herbeiführerin von Eigentoren vorzustellen.

Die britische UN-Botschafterin Pierce soll also ausgeführt haben, Russland verbreite “24 Theorien” über den Skripal Anschlag, ihre Regierung dagegen “habe nur eine”. Wow.

Mrs. Pierce weiss vielleicht nicht, dass in Deutschland der zweitgrösste Volkssport, gleich nach Fußball, Tatortgucken ist. Obwohl: britische TV-Krimis sind, die Schlaftablette “Barnaby” mal ausgenommen, in der Regel noch spannender, realitätsnäher und künstlerisch wertvoller als die deutsche Fliessbandware. Es müsste also auch Mrs. Pierce bekannt sein, dass Polizeiarbeit nur dann objektiv und erfolgreich sein kann, wenn sie “in alle Richtungen ermittelt”, und wenn sie aus Indizien Beweise zu machen vermag.
Wenn sie das vermeidet, landet sie in fatalen Sackgassen wie bei der NSU-Mordserie oder produziert sogar Katastrophen mit, wie im Fall Amri. Der Schaden wird immer dann angerichtet, und da ist vieles bei uns nicht viel besser als in England, wenn die Politik der Polizei ihre Unabhängigkeit nimmt, bzw. die Polizei sich von – nicht selten rassistischen – Ideologien statt von Ermittlungshandwerk leiten lässt.

Die britische Regierung erweckt jetzt mit ihrer Polit-PR den Eindruck, dass sie ihre Polizei überhaupt nicht, wie es eines Rechtsstaates würdig wäre, in Ruhe ihre Ermittlungsarbeit machen lassen will, sondern sie im Gegenteil unter Druck setzt, dass sie ein bestimmtes Ergebnis anstreben muss. Das erinnert mich an den lupenreinen Demokraten Reccep T. Erdogan, der bei jedem Terroranschlag in seinem in dieser Hinsicht reichen Land, nach weniger als 24 Stunden immer schon weiss, wer es gewesen ist. Das kann ein normaler Mensch theoretisch eigentlich nur, wenn er an den logistischen Vorbereitungen solcher Unternehmen selbst beteiligt war. Ein Kronzeuge z.B., oder ein V-Mann. Oder ein Doppelagent. Skripal soll doch selbst einer gewesen sein, eine der wenigen gesicherten Erkenntnisse.

Alle, die sich eilfertig aus durchsichtigen politischen Motiven (Brexit, EU-Differenzen, Stress mit Trump usw.) voreilig in Solidarität mit der disparaten konservativen May-Regierung in den Ring begeben haben, fragen sich kaum noch heimlich längst: und was ist der Dank? Die Boris-Johnson-artigen Amokläufer ziehen alle Solidarischen mit in die Grütze. Selbst, wenn es bei Skripal die Putin-Russ*inn*en gewesen sind – in London gibt es auch sehr viele ganz andere Russ*inn*en! – das PR-Desaster, das die britische Regierung bereits angerichtet hat, ist durch noch so schöne Eigentore im Fußball nicht mehr zu übertreffen.
Was bei Murdochs Revolverblatt “Sun” und ihrer deutschen Schwester im Geiste noch funktionieren mag, erzeugt in seiner Respektlosigkeit, sein “Volk” für so doof zu halten, in erster Linie, was wir uns abschätzig “Wutbürger” zu bezeichnen angewöhnt haben. Die gibt es nicht nur in Stuttgart oder Bonn, auch in England sollen das nicht wenige sein. Ungewiss, ob und welche Medien diese Lektion, auch schon etliche Jahre alt, überhaupt gelernt haben.

Angela Merkel soll angeblich sehr fussballkompetent sein. Und Dinge immer “vom Ende her denken”. Von Haien umkreist ist sie wie Theresa May.

Update 6.4. nachmittags: zur vertiefenden Lektüre empfehle ich dringend: August Pradetto: “Wladimir Putin zum Vierten” in den Blättern für deutsche und internationale Politik. Wer den Mann als “Putin-Versteher” einordnet, der*die kann nicht lesen; ihm gelingt eine kühle Abwägung der zahlreichen widerstreitenden Interessen, ein engagiertes Plädoyer für „Allianzen der Legalität“. Mit Verstand – das ist es, was unsere Aussenpolitik jetzt braucht.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net