Nach 16 Jahren wollen die Grünen in einem mehrjährigen Prozess ein neues Grundsatzprogramm diskutieren. Auch wenn es öffentlich bestritten wird – selbstverständlich geht es dabei um Selbstvergewisserung. Daran ist nichts Schlechtes, wenn die Welt sich mit zunehmendem Tempo dreht. Schlecht ist Feigheit vor Parteinahme, wie der Name schon sagt, der ureigene Job einer Partei. Schlecht ist Unklarheit und Wirrnis im eigenen Denken – wie, und mit wem zusammen, müssen wir handeln? Handeln ist keine spezielle Aufgabe von Regierungen, sondern in einer Demokratie Aufgabe jedes Subjektes.

Baerbocks und Habecks Bundesvorstand hat zu dieser Debatte einen Diskussionsanstoss („Impulspapier“) niedergeschrieben, der zwar bei Spiegel-online bereits gefeiert wurde, aber Leerstellen aufweist und Missverständnisse erkennen lässt.

Der Minister will moderieren – der Parteivorsitzende muss parteinehmen

Fangen wir mit Letzterem an. In einem Grünen-Grundsatzpapier hat sich die Handschrift des schleswig-holsteinischen Landwirtschaftsministers eingeschlichen. Als Regierungsmitglied hat er die Aufgabe, gesellschaftliche Konflikte zu moderieren, und nach Möglichkeit zu Ergebnissen zu führen, die dem, was er seinen Wähler*innne*n angekündigt hat, zumindest ähneln sollten. Er beschreibt also hier seinen ministeriellen Eiertanz zur Gentechnik und hat seine Rolle als Grüner Parteivorsitzender, also als Parteinehmer in einer ganz anderen gesellschaftlichen Position noch nicht wirklich gefunden. Der Schriftsteller Habeck liebt eben Besinnnungsaufsätze über das “An-Und-Für-Sich” dieser Welt.

Die Produktionsverhältnisse der real existierenden Gentechnik

Dabei macht er einen klassisch Grünen Denkfehler. Die Gentechnikfrage ist keine Frage des moralischen Gut oder Böse. In der Wirklichkeit wird sie vom real existierenden Kapitalismus bestimmt, wie Roland Appel es eben erst hier gut beschrieben hat. Natürlich betreiben auch kleinbäuerliche Tierzüchter*innen letztendlich gentechnische Einflussnahme. Aber sie setzen keinen Standard für das komplette globale Ernährungs- und Kapitalzirkulationssystem. Die Gentechnik dieser Züchter unterscheidet sich von der Bayermonsantos darin, dass sie Vielfalt erhalten und nicht vernichten, dass sie Qualität züchten und nicht Massenstandard. Es ist eine Frage der Kapital- und Produktionsverhältnisse, nicht des Gut oder Böse. Über den Intellekt das zu kapieren, soll Robert Habeck nach allem was ich höre, verfügen. Dann sollte er ihn auch politisch anwenden. Als Parteinehmer in einem von fundamentalen Widersprüchen gezeichneten gesellschaftlichen Konflikt, nicht als Moderator einer imaginär zusammenzuhaltenden Gesellschaft.

Wer handelt? – mit wem zusammen? – gegen wen?

Dieses Missverständnis zieht sich durch den gesamten Text. Die Grünen-Führung imaginiert sich in der politischen Mitte, sie müssen mit allen Demokrat*inn*en koalitionsfähig sein. Das will ich taktisch gar nicht bestreiten – das Bekämpfen der radikalen Rechten muss Vorrang haben. Es darf aber nicht das eigene programmatische Denken und strategische Handeln bestimmen. Zum Parteinehmen durch eine Partei muss gehören, in der Gesellschaft Handelnde, Subjekte zu bestimmen, mit denen Ziele und Zwischenschritte gemeinsam angestrebt werden können und sollen. Wer sind, über vordergründige Koalitionsfragen hinaus, die Bündnispartner*innen, mit denen die Grünen auch zwischen den Wahlterminen zusammenarbeiten wollen? Auf welche Kräfte in der Gesellschaft wollen sich die Grünen positiv beziehen; und auf welche ausdrücklich nicht? Die “Gesellschaft zusammenhalten” ist darauf bei real wachsenden Widersprüchen und Gegensätzen Antwortverweigerung. Selbst Andeutungen dazu fehlen in dem Text, wie jüngst schon beim “linksgrünen” Kellner. Das ist gedankliche Drückebergerei.
Wie hilflos der Verzicht auf eine solche strategische Bestimmtheit macht, demonstrierte am Montag die – ebenfalls linksgrüne – Europafraktionschefin Ska Keller in einem DLF-Interview zur Ungarnwahl (am 9.4., leider beim DLF nicht online verfügbare): sie imaginierte ein Europa und seine „Werte“, ohne dass zu erkennen war, wer das sein soll

Wer keine Friedenspolitik macht hat die Mehrheit gegen sich

Die schlimmste Leerstelle ist aber das suppendünne ungeniessbare Kapitel zu internationaler Friedens- und Aussenpolitik. In einem – vielleicht übernächtigt frühmorgens gegebenen – DLF-Interview reichte es für Habeck gerade eben zu einer Stammelei gegen Northstream 2. Als Schleswig-Holsteiner Provinzler scheint er die kapitalkräftigen Braunkohleinteressen in Ost- und Westdeutschland aus dem Blick zu verlieren. Die friedenspolitische Säule der Grünen scheint es in seiner Denkwelt nicht mehr zu geben. Gerade Realos müssten aber erkennen: die Mehrheit der – zweifellos demografisch alternden – Bevölkerung in unserer Republik will Frieden und Entspannung, statt Konfrontation und Interventionismuspropaganda – auch wenn die von Grünen Ex-Maoist*inn*en vorgetragen wird. Es wäre ein sicherer Weg in Sektiererei für die Grünen. Und lebensgefährlich für uns alle.

Immmerhin: die Sache mit dem Klimawandel hätte sich dann erledigt.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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