Gerne hätte ich Unrecht behalten: die heraufziehende Fußball-WM verschärft das innernationale politische Konfliktgeschehen. Russland kann sich der ganzen Welt präsentieren, eine historische Chance wie ein Elfmeter: wer vor seiner Ausführung zu viel nachdenkt, kann ihn fulminant vergeben. Die Gegner*innen versuchen vorher alles, um den/die Ausführende*n optimal zu verunsichern. Das ist die Schilderung einer Fußballsituation – die politische Wirklichkeit ist um einiges komplexer.
Vorgestern versteckte die ARD in der Sportschau eine weitere Seppelt-Reportage über russisches Doping, dieses Mal abzielend auf das Fußball-WM-Aufgebot des Landes. Allein zu diesem Werk tun sich verschiedene Fragen-Komplexe auf.
Warum wurde es in der Sportschau verborgen? Ich erwartete z.B. eine rückblickende Analyse zum Pokalfinale vom Vortag, sonst hätte ich gar nicht eingeschaltet. Die Quote (1,3 Mio., unter 10% Marktanteil) war bescheiden, hauptsächlich wohl wg. des schönen Wetters. Was hat sich zwischen Produzent*inn*en (Seppelt & Co.), Redaktion und Programmdirektion an Konflikten abgespielt, die zu einer so halbgaren Präsentation führten?
Und kurze Zwischenfrage: wann wird an einer Reportage über das deutsche Dopingkontrollsystem in der DFL gearbeitet? Oder wäre das zu schwierig? Warum?

Hat die FIFA jede Handlungsautonomie aufgegeben?

Der Inhalt: das Bildmaterial war zum Teil alt und recycelt. Die Verdachtsmomente sind evident, die Figur Mutko ist ein zweifelhafter Mafioso, der aufgrund unzureichender Berichterstattungsfreiheit in Russland ausserdem zu glauben scheint, sich internationale PR-Desaster gefahrlos erlauben zu können. In der ernsthaftesten aller Klemmen ist der Weltfussballverband Fifa, der dringend die WM-Einnahmen benötigt, sich dafür in die Abhängigkeit des Putin-Regimes begeben hat, und jetzt sieht, dass ihm alles um die Ohren fliegt, und eigene Handlungsautonomie wohl schon aufgegeben hat. Wenn Sie sich Seppelts Doku anschauen, achten Sie auf die Bilder mit Fifa-Boss Infantino und Putin: die verraten mehr, als gesprochen wird. Putin betrachtet ihn wie einen mittelmässigen Abiturienten, der ihm erst mal beweisen muss, ob er auch ein Studium bewältigt.

Haben wir Illusionen wegen unserer „Pro-Putin-Lobby“?

Die FAZ schiesst gestern nach mit einem Interview mit dem ehemaligen Guardian-Korrespondenten in Moskau Luke Harding. Harding artikuliert treffende Kritik am russischen Politiksystem, und übrigens auch an der hilflosen britischen Regierung. Ich würde sie teilen. Sein Glaube, dass wir in Deutschland „nicht richtig verstanden haben, mit wem wir es in Moskau zu tun haben“, weil bei uns die „Pro-Putin-Lobby zu stark“ sei, ist jedoch Ausdruck eines binären, und dem Prozessdenken fremden Politikbildes. Denn worauf sollen schärfere Gegenreaktionen hinauslaufen: Vergiften russischer Agent*inn*en? Verlegung von Interventionstruppen nach Polen und ins Baltikum? Wirtschaftssanktionen? Gibts das nicht alles schon? Was könnte eine Steigerung und Verschärfung sein? Wer hätte davon Nutzen? Trump plus die europäische (Auf-)Rüstungsindustrie.

Brauchen wir die 80-jährigen zum Verstehen?

Nein, wir machen uns keine Illusionen. Die meisten von uns nicht. Aber Politikkunst muss sich unterscheiden von treffender, kritischer, journalistischer Beschreibung und Analyse. Sie muss Strategien entwickeln, wie es gelingen kann zu einer Verbesserung der Lebenslage der Menschen in Europa zu kommen. Hören Sie hier noch mal den 80-jährigen Fritz Pleitgen, der Prozesse versteht und sie journalistisch exzellent erklärt. Das Sprechen und Verhandeln mit Kräften und Menschen ist erforderlich, die mann persönlich und privat für Arschlöcher halten kann oder sogar muss (keine Illusionen!). Wir müssen von unseren gewählten Politiker*innen erwarten können, dass sie sich von uns und Journalist*inn*en qualitativ unterscheiden. Die Einen beobachten und kritisieren, legitim und treffend, auch polemisch, die Andern müssen Reden, Verhandeln, Vorteile zum beiderseitigen Nutzen identifizieren. Und das in der Öffentlichkeit vertreten, erklären, begründen.
Der Fußball wird weiterleben, solange wir es tun. Ich hätte nichts dagegen, wenn die Fifa in die Luft fliegt, das wäre kein Verlust. Aber nicht wir. Wir haben nur diese eine Welt.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net