Wer wie ich die 60 überschritten hat, muss sich vermehrt fragen, was von heute diskutierten Projekten er oder sie überhaupt noch erleben wird. Für mich persönlich gab es, bei allem bonntypischen “Jammern auf hohem Niveau” auch positive Überraschungen.
Als ich 2006 in Bonn begann, mich professionell an der Kommunalpolitik zu beteiligen, habe ich nicht geglaubt, dass das WCCB angesichts des Ausmasses der gleichnamigen Affäre jetzt schon seit mehreren Jahren nicht nur steht, sondern arbeitet und funktioniert. Als ich damals begann, war gerade der “bestbezahlte Angestellte” der Stadt Bonn, Friedhelm Naujoks zum – wie sich später herausstellte: entweder korrupten oder heillos überforderten – Projektmanager gemacht worden. Dankenswerterweise ist die ganze Affäre bis heute enzyklopädisch nachzulesen bei den Kolleg*inn*en des General-Anzeigers. Gemanagt wird das WCCB heute, “nebenbei”, von einem der leistungsstärksten Manager in unserer Stadt, dem Vebowag-Chef Michael Kleine-Hartlage, ein Glücksgriff, den damals auch niemand vorhergesehen hat.

1972: Stadteingang – ein Bretterzaun, dahinter Monstrositäten in Bau

Als ich 1972 zum ersten Mal in meinem Leben Bonn besuchte, es war eine Klassenfahrt, liefen wir vom Ausgang des Hauptbahnhofes gegen eine Bretterwand. Das war der Bauzaun hinter dem die historischen Schönheiten Bonner Loch und Südüberbauung entstanden. 1976 siedelte ich mich in Bonn an. Niemals hätte ich geglaubt, dass diese antiästhetischen Monströsiten noch zu meinen Lebzeiten verschwinden. Mit Spannung dürfen wir alle erwarten, ob das, was sie ersetzen wird, auch was Besseres wird. Schlechter, so viel Hoffnung muss erlaubt sein, geht es jedenfalls nicht.

Das ZDF hat vorige Woche eine Prognos-Vergleichsstudie über alle 401 deutschen Städte und Landkreise veröffentlicht. Bonns Ergebnisse waren nicht spektakulär. Unser Kulturangebot war in der Ersten Liga platziert, im Wohnungsangebot landeten wir im hinteren Bereich der untersten Hundert (360). Platz 2, das beunruhigte mich am meisten, errang Bonn bei der Einzelwertung “Anteil der Übergewichtigen”, Platz 2 bedeutete die zweitwenigsten! Als Übergewichtige werden willkürlich alle definiert, die einen – ebenfalls willkürlich konstruierten – BMI über 25 haben. Kein wissenschaftliches Kriterium, sondern eine politische Setzung. Und davon also die wenigsten? Das Essen ist doch hier gar nicht so schlecht; oder ist das der Grund? Als geübter Verschwörungstheoretiker muss ich annehmen, dass die Konzentration der Erreger von Selbstoptimierung, Essstörungen und Sportsucht in der Atemluft unseres Talkessels in unserer Schreibtischarbeiter*innen*stadt exponentiell hoch sein muss. Oder wird der MVA-Abluft was beigemischt? In der Prognos-Gesamtwertung landete Bonn auf Platz 121 von 401.

S13, RRX – was erleben wir noch?

Mit Bangen erwARTE ich als Beueler nun, ob ich die S13, an der z.Z, gebaut wird, und wegen der derzeit zahlreiche Zugausfälle auf unserer Rheinseite auftreten, noch erlebe. Ihr wertvollstes Mitbringsel wäre der Lärmschutz an der meistbefahrenen Güterzugstrecke Europas. Wenn dann noch jemand den Flugplatz Hangelar stilllegen würde, hätte ich in Beuel keine lärmpolitischen Beschwerden mehr.
Ob, wie und ab wann Bonn an den kommenden Regionalschnellzug RRX angeschlossen wird, bleibt eine spannende Frage. Auf eine Abzweigung nach Beuel werden wir wohl nur hoffen dürfen, wenn es linksrheinisch mal wieder Betriebsstörungen gibt, die zu Umleitungen auf die andere, unsere Rheinseite zwingen. Die Erfahrung lehrt: keine unbegründete Hoffnung.

Die strategisch entscheidende Frage wird für den Rest meiner Lebenszeit sein, wie sich unsere Stadt zum Auto positioniert. Das Auto, wie wir es kennen, wird aussterben. Es wird elektrifiziert, und zunehmend nicht mehr von uns selbst, sondern von Algorithmen gefahren werden. Wir werden es nicht mehr besitzen, sondern nutzen. Politisch entscheidend wird sein, was wer dabei mit unseren Daten macht. Werden wir autonom über sie verfügen? Oder andere? Wer wird mit ihnen reich? Wie wird der Datenprofit regiert und verteilt? Wird es Teilelement eines Überwachungs- und Erziehungsstaates a la China, a la Nudging? Oder wird ein weltweit einmaliges europäisches Modell von Bürgerdatenautonomie und Datenschutz kreiert? Eine heute noch offene Frage.
Wer den Fortschritt jetzt schon vorantreiben will, müsste sofort Fahrzeuge mit Zweitakt-Verbrennungsmotoren aussperren oder stilllegen. Ihr Gift- und Lärmanteil ist überproportional, sie können technisch schon seit vielen Jahren elektrisch fahren. Im nächsten Schritt müssen die Autos viel mehr Fläche abgeben, Stellplätze und Fahrfläche. Die Diversität verschiedener Kleinfahrzeuge (E-Bikes, Pedelecs, Roller und was alles noch kommt) benötigt mehr Platz, um Unfälle und den Terror gegen Fussgänger*innen – auch sie in diversen Tempi, von Jogger*innen*n bis zu Rollatorpilot*inn*en – zu verringern.

Verkehr und Daten – wie positioniert sich unsere Stadt?

Aber was wird Bonn machen? Als Erstes: Verbreiterung der St.Augustiner Str, in Beuel für vierspurigen Autoverkehr!
Die Stadt muss sich positionieren: im 20. Jahrhundert hängenbleiben? Oder technischen Fortschritt vor der Dritten Welt erkennen? Wird sie dazu in der Lage sein? Die Reaktion des OB – wie aller anderen Städte – auf die Idee der Bundesregierung, einzelnen Expermientalstädten kostenlosen ÖPNV zu ermöglichen, hat da keine Hoffnung gemacht. Die deutsche Kommunalpolitik, eine desaströse Amateurliga, ist mit solchen Ideen kreativ heillos überfordert.

In Bonn schafft sie es ja noch nicht einmal, in der brennenden Frage der sozialen Wohnungsnot ihre eigene Wohnungsgesellschaft Vebowag, die Einzige, die in Bonn überhaupt Sozialwohnungen baut, bei der Grundstückszuweisung radikal zu privilegieren. Wer für sozialen Wohnungsbau geeignete Brachgrundstücke entdeckt, muss den Tipp in Eigeninitative bei der Vebowag melden; ein städtisches System dafür gibt es nicht. Dafür gibt es aber immer systematische Nachbarschaftsaufstände überall dort, wo welche gebaut werden sollen. Und miilliardenschwere Investor*inn*en, die sich die leckersten renditeträchtigsten Filetstücke schneller unter den Nagel reißen.

Seilbahn, Hardtbergbahn – woanders dreht sich die Welt schneller weiter

Aufschlussreich wird sein, welches Schicksal innovative Verkehrsideen, wie eine überirdische Hardtbergbahn oder eine Seilbahn nehmen werden. Seilbahnen sind in Südamerika längst als Befruchtung der Urbanisierung erkannt, bis nach Koblenz reicht die Begeisterung. Und dann kommt unser gallisches Dorf am Rhein ….
Die Hardtbergbahn ist gewiss ein klassisches Beispiel, das ich nicht mehr erleben werde. Gefühlt ist sie seit einem Jahrhundert erforderlich. Wer schon mal in einem Bus in diese Stadtteile gesessen oder im Stau nach Endenich gestanden hat, weiss das. Oberirdisch geführt ist die einzige finanzierbare Variante. Das würde aber die Sperrung entsprechender Strassenzüge für den Individualverkehr erfordern; und Bauarbeiten. Da wird den vermögenden Immobilienbesitzern im Musikerviertel gewiss ein erneuter, lautstarker Aufstand gegen gelingen. Wie anders bei uns um die Ecke, in Frankreich.

Beuel und sein Cadmium – ehrlich machen!

In Beuel haben wirs besser, nicht nur wegen der Sonne. Die Ansiedlung des Pantheon hat die meisten glücklich gemacht. Die Errichtung neuer, teurer Wohnungen am Kennedybrückenkopf und an der Kreuzung Niederkasseler/St. Augustiner macht die Immobilienhaie glücklich; und mehrere hundert gutverdienende Familien. Jetzt meinen einige, das Pantheon-Viertel östlich der Bahn müsse mit einem Busbahnhof urbanisiert werden. Die Idee kannte ich noch nicht. Bisher wollten Geschäfts- und Immobilieninhaber*innen immer Autoverkehr vor der Tür haben. Ist das also ein Fortschritt?
Entscheidender wäre, was mit der alten Degussa-Marquardt-Ecke an der Kreuzung Siegburger/Königswinterer los ist. Nur ältere Beueler*innen wie ich erinnern sich an den Cadmium-Skandal in den 80ern, der den Anbau eigenen Gemüses im Beueler Zentrum unmöglich machte. Cadmium verschwindet nicht, im Gegenteil, es reichert sich an. Dennoch wurden seitdem massenweise Grundstücksgeschäfte gemacht und tausende Familien in Eigenheimen mit Gartenanteilen angesiedelt. Ohne sie zu informieren. Das hätte ja die Verkaufspreise versaut. Hier müsste sich die Stadt mal ehrlich machen – dann stünde der Gentrifizierung dort nichts mehr im Wege.
Meine Mutter ist 2011 an Krebs gestorben. Nicht hier, sondern im Norden von Essen. Sie hat sich Zeit ihres Lebens von selbstgezogenem Gemüse ernährt, in dem Glauben, das sei gesund. Auch dort gab es Cadmium-Belastung. Diese Warnung kam erst, als sie schon tot war.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net