Gestern hatte ich bereits auf Andrea Nahles’ Interview hingewiesen. Allein, dass die nachberichtenden Medien es heute mit dem Türkei-Thema über zwei Tage ziehen, werden sie und ihre PR-Berater*innen als besonders gut gelungen verbuchen. Das Türkei-Thema ist jedoch empfindlich ambivalent.
Der pure Wortlaut von Nahles ist nicht falsch. Unsere Bindungen zu diesem Land sind schon dadurch eng, dass Millionen unter uns dort Familie haben. Zwar baut Staatschef Erdogan dort die Demokratie ab und verfolgt Menschen, die sie verteidigen wollen. Aber die sind rund die Hälfte der türkischen Wähler*innen*schaft und es ist das Mindeste, diese zu verteidigen. Es sind allerdings Zweifel erlaubt, ob die Bundesregierung mit SPD-Beteiligung das auch ausreichend tut, über die konsularisch-diplomatische Vertretung inhaftierter Deutscher hinaus.

Welche Interessen leiten die deutsche Türkeipolitik?

Meine These: sie will die Märkte und ökonomischen Beziehungen erobern, die die Trump-USA freiwillig aufgeben. Die von Trump provozierte türkische Währungskrise macht ausserdem die Notlage der türkischen Seite gross, und die Preise günstig. Moralische Hemmungen gibt es dabei nicht. Militärische und Rüstungsprojekte sind darum kein Problem, sondern integraler Bestandteil zu entwickelnder und auszubauender ökonomischer Beziehungen. Bei Kritik wird immer darauf verwiesen, dass besser “wir”, also unser liebes, braves, streichzartes Grosskapital, die Geschäfte machen sollte, als der wilde und gefährliche Gottseibeiuns Wladimir Putin und seine gefrässigen Oligarchenwölfe. Sehr lesenswert dazu war gestern diese FAZ-Analyse, die das bereits intonierte; sie war gestern vormittag noch aus Versehen online zugänglich, ich hab sie gelesen, mittags wurde sie hinter die Paywall verborgen. Die USA wollen Erdogan keine F-35-Bomber mehr verkaufen, die vereinbarten Lieferungen wurden gestoppt. Jetzt könnte die europäische Rüstungsindustrie, dominiert von Deutschland und Frankreich, hinlangen, und auch die Deals mit der türkischen Luftwaffe übernehmen, bevor es Russland tut. Der türkische Panzermarkt wird bereits deutsch beherrscht – in Kurdistan ist das Teil des öffentlichen Strassenbildes … und Mordgeschehens.
Die deutsche Rüstungsindustrie beweist aktuell auf der arabischen Halbinsel im Jemen schon, dass sie frei von jedem Verantwortungsempfinden und menschlichem Anstand ist. Da ist kaum zu erwarten, dass sie solche Charaktereigenschaften im Angesicht des Herrn Erdogan entwickelt. Von Andrea Nahles erwARTE ich das hingegen, mindestens dass sie an Antworten auf diese offenen politischen Fragen arbeitet.

Olaf und meine Rente

Ähnlich ist mein Gefühl bei der Rente. Der schlaue Olaf hat Wahlanalysen gelesen und verstanden. Die Alten sind viele. Und sie gehen viel mehr wählen als die Jungen. Unter den Alten ist die Frauenmehrheit ausserdem viel grösser. In die alten Alterskohorten sind die “68er” längst eingezogen; sie waren aber unter ihren Zeitgenoss*inn*en noch eine kleine Minderheit. Jetzt folgt meine Altersgruppe, das war die Friedensbewegung der 80er (in Ost und West); und die hatten zu ihrer Zeit 70%-Mehrheiten. Die CDU hat das Strategieproblem verstanden, aber noch keine Antwort gefunden. Olaf hat nur ein Problem: wer kauft ihm das ab und glaubt ihm? Ich z.B. glaube eher meinem Gastautor Matthias W. Birkwald. Ich kenne beide gut, insbesondere ihre Macken. “Olaf, I’m not convinced!”

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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