Gewalt und soziale Ungleichheit sind dabei die größten Hindernisse
von Stefan Peters
Zwei Jahre nach dem Abschluss des Friedensvertrags zwischen der Regierung und den Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia-Ejército Popular (FARC-EP) befindet sich der kolumbianische Friedensprozess gegenwärtig am Scheideweg. Der anfängliche Optimismus verschwindet sukzessive und aktuell zeigen sich die Mühen der Ebene in aller Deutlichkeit. De facto bescheinigt heute kaum jemand dem Friedensprozess eine eindeutige Erfolgsbilanz. Mit dem Regierungswechsel werden zudem die Weichen neu gestellt. Der gewählte Präsident Iván Duque kommt aus dem konservativen Lager der Skeptiker des Friedensabkommens und nicht wenige befürchten, dass neue Hürden auf dem Weg zum Frieden aufgestellt werden könnten. Die kommenden Monate werden zeigen, ob die politischen Richtungsverschiebungen tatsächlich maßgebliche Veränderungen für den Friedensprozess hervorbringen. Doch auch jenseits politischer Konjunkturen muss allen Beteiligten klar sein, dass der Weg zu einem langfristigen Frieden nicht nur einen langen Atem, sondern auch mutige strukturelle Reformen in den Bereichen der Wirtschafts- und Sozialpolitik erfordert. Allerdings stehen gerade diese Themen aktuell nicht im Zentrum der politischen Agenda.
Der Abschluss des Friedensvertrages im Jahr 2016 war zweifellos ein diplomatischer Erfolg. Nachdem in der Vergangenheit verschiedene Anläufe zur Beilegung des Konfliktes gescheitert waren, konnte der Bürgerkrieg zwischen dem Staat und der größten Guerillagruppe des Landes mit diplomatischen Mitteln beendet werden. Nicht zufällig wurde der damalige Präsident Juan Manuel Santos schon Ende 2016 mit dem Friedensnobelpreis dekoriert. Die Euphorie der internationalen Gemeinschaft stand jedoch von Anfang an in einem deutlichen Kontrast zur Indifferenz und Ablehnung gewichtiger Teile der kolumbianischen Bevölkerung. In einem Volksentscheid über den Friedensvertrag lehnte eine hauchdünne Mehrheit der Wähler*innen, aufgescheucht durch fundamentalistische Christen und Hardliner der politischen Rechten, das Verhandlungsergebnis ab. Doch die Analyse einer politischen Polarisierung bildet nur einen Teil der Realität ab. Über 60 Prozent der Wahlberechtigten blieben der Abstimmung fern. Letzteres lässt sich nicht alleine mit heftigen Unwettern am Wahltag und der traditionell geringen Wahlbeteiligung in Kolumbien erklären. Der Frieden mit den FARC hatte für breite Teile der Bevölkerung schlicht eine untergeordnete Priorität.
Mit einigen Anpassungen wurde der Friedensvertrag ohne erneute Volksabstimmung anschließend auf parlamentarischem Weg in Kraft gesetzt und brachte dann auch schnelle Ergebnisse. Der Großteil der FARC-Kämpfer*innen hat die Waffen abgegeben und sich dem zivilen Leben zugewandt. Zudem haben Mitte des Jahres die ersten ehemaligen Guerilleros ihre Parlamentssitze eingenommen. Stimmzettel ersetzen die Kalaschnikows in der politischen Auseinandersetzung, zweifellos ein Grund zum Feiern. Weiterhin wurden in vielen Teilen vorbildliche Institutionen zur Bearbeitung der Vergangenheit (Sondergerichtsbarkeit, Wahrheitskommission, Behörde zur Suche der „Verschwundenen“) ins Leben gerufen. Außerdem beinhaltet der Friedensvertrag mit der Landfrage, der Reintegration ehemaliger Kombattant*innen sowie Programmen zur Ersetzung des Drogenanbaus eine klare Message: Frieden ist weit mehr als das Schweigen der Waffen und erfordert insbesondere ambitionierte Reformen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Doch vor allem ist die Zahl der Konfliktopfer landesweit durch den Friedensprozess deutlich zurückgegangen. Der Frieden produzierte in Kolumbien also durchaus positive Schlagzeilen.
Unrealistische Hoffnungen
Dessen ungeachtet konnte der Friedensprozess im Land keine Begeisterung entfachen. Die skeptischen Stimmen blieben stets präsent und angesichts des holprigen Verlaufs der Implementierung des Friedensabkommens schwinden auch im Friedenslager die Hoffnungen auf eine zügige Überwindung der Gewalt. Die Gründe für die wachsende Enttäuschung sind vielfältig. Die Euphorie über den Friedensschluss löste bei vielen unrealistische Hoffnungen auf eine rasche Überwindung der Vergangenheit aus. Dabei geriet aus dem Blick, dass der Aufbau einer nachhaltigen Friedensordnung einer Herkulesaufgabe gleichkommt, die einen langen Atem sowie mutige und tiefgreifende Reformen erfordert. Doch die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos (2010-2018) lieferte allenfalls scheibchenweise. Die finanzielle Unterstützung für die gesellschaftliche Integration der demobilisierten Kämpfer fließt nur spärlich, die Rückgabe von Land an gewaltsam Vertriebene erfolgt im Schneckentempo und die Camps der ehemaligen Guerillakämpfer*innen sind durch prekäre wirtschaftliche und soziale Bedingungen gekennzeichnet.
Diese schwierigen Bedingungen bedeuten eine schwere Hypothek für den Frieden, denn Hoffnungslosigkeit kann schnell den Weg zur Rückkehr zu den Waffen ebnen. Tatsächlich leidet der Frieden unter der fortwährenden Gewalt. Nach der Demobilisierung der FARC wurde das entstandene Machtvakuum meist binnen kürzester Zeit von alten und neuen Gewaltakteuren gefüllt. Insbesondere an der Pazifikküste floriert das Drogengeschäft und neben der Drogenmafia, paramilitärischen Gruppen und mexikanischen Drogenkartellen mischen auch FARC-Dissidenten eifrig im lukrativen Drogengeschäft mit.
Zwielichtiger Ex-Präsident Uribe
In diesem schwierigen Kontext fanden im Jahr 2018 eine Reihe von Wahlen statt, die weitreichende Veränderungen in der kolumbianischen Politik hervorgerufen haben. Mit Iván Duque wurde im Juni 2018 der Kandidat aus dem konservativen Lager der Skeptiker des Friedensprozesses in das Präsidentenamt gewählt. Duque ist ein politischer Ziehsohn des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez, dem immer wieder glaubhaft enge Verbindungen zu paramilitärischen Gruppen und zum Drogengeschäft nachgesagt werden. Im Vergleich zu dem zwielichtigen Uribe stellt Duque eine modernisierte Form der politischen Rechten dar, der gute Manieren und ein freundliches Gesicht zeigt. Ob er sich auch von den radikalen Positionen seines politischen Mentors emanzipieren und einen Schwenk in die Mitte vollziehen wird, ist gegenwärtig gleichwohl noch nicht absehbar und Gegenstand heftiger Debatten und freudiger Alltagsspekulationen.
Wenngleich die politische Rechte bei den Präsidentschaftswahlen triumphierte, lassen sich die Wahlergebnisse aus dem Jahr 2018 nicht einfach als Rechtsruck der kolumbianischen Bevölkerung interpretieren. Zwar gewann Duque die Stichwahl um das Präsidentenamt mit deutlichem Vorspung vor seinem Herausforderer und das schwache Ergebnis der FARC, die bei den Parlamentswahlen kaum mehr als eine Handvoll Stimmen erhielt, überraschte die politische Führung der ehemaligen Guerilla ebenso wie Journalisten und das politische Establishment. Allerdings zog mit Gustavo Petro ein dezidierter Vertreter der politischen Linken in die Stichwahl um das Präsidentenamt ein und konnte – in einem Land, in dem die Linke seit langer Zeit in Wahlen keinen Blumentopf gewinnt – einen politischen Achtungserfolg erzielen und acht Millionen Stimmen auf sich vereinigen. Außerdem brachten bei einer folgenden Volksabstimmung knapp 12 Millionen Kolumbianer*innen ihren Unmut über die ausufernde Korruption im Lande an den Wahlurnen zum Ausdruck. Zwar wurde das erforderliche Quorum knapp verfehlt, dennoch kann das Ergebnis als schallende Ohrfeige für das politische Establishment gelesen werden. Schließlich haben die Wahlergebnisse ein neues politisches Szenario hervorgerufen. Die traditionellen Parteien des Landes (Konservative und Liberale) sind deutlich geschwächt und viele kleinere Parteien sind in das Parlament eingezogen. Präsident Duque kann sich dort nicht auf satten Mehrheiten ausruhen und bequem durchregieren, sondern muss Allianzen schmieden.
Keine Mehrheiten für Reise in die Vergangenheit
Diese Perspektive auf die Wahlergebnisse verdeutlicht, dass es in Kolumbien für eine Reise in die Vergangenheit der bleiernen Zeit von Präsident Uribe (2002-2010) keine Mehrheiten gibt. Darüber hinaus steht auch die internationale Gemeinschaft deutlich hinter dem Friedensprozess. So hat etwa die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, Duque kurz nach dessen Wahl unmissverständlich daran erinnert, dass wirtschaftliche Investitionen und das Interesse der internationalen Finanzinstitutionen an Kolumbien eng mit der Fortsetzung der Friedenspolitik verbunden sind. Gerade mit Blick auf den Friedensprozess sind dies gute Nachrichten. Eine drastische Kehrtwende ist angesichts der politischen Kräfteverhältnisse im Land sowie der institutionellen Absicherung des Friedensprozesses kaum anzunehmen.
Dennoch besteht Grund zur Sorge, denn aus dem Lager des Präsidenten kommen immer wieder polternde Stimmen der Hardliner. Dies materialisiert sich in Ankündigungen, die auf eine repressive Drogenpolitik, Einschüchterungen von sozialen Bewegungen oder die Einschränkung der Spielräume der neu geschaffenen Institutionen zur Aufarbeitung der Vergangenheit deuten. Hingegen bleiben politische Initiativen für einen wirksamen Schutz für Menschenrechtsorganisationen und soziale Aktivist*innen ebenso wie strukturelle Reformen zu den tieferliegenden Ursachen und Faktoren der Dynamisierung des Konfliktes aus.
Weltweit extremste soziale Ungleichheit
Insbesondere wird es in Kolumbien keinen dauerhaften und stabilen Frieden ohne eine Reduzierung der extremen sozialen Ungleichheiten geben. Diese zentrale Voraussetzung für einen erfolgreichen Friedensprozess wurde vom ehemaligen Präsidenten Santos nie entschlossen angepackt und steht auch bei dessen Nachfolger Iván Duque beileibe nicht auf der Prioritätenliste. Die schreiende Ungerechtigkeit der Verteilung von Einkommen und Vermögen ist im Alltag kaum übersehbar und wird auch von den einschlägigen Statistiken breit dokumentiert. Diese belegen immer wieder, dass Kolumbien zu den Ländern mit den weltweit höchsten Ungleichheiten gehört. Selbst für lateinamerikanische Verhältnisse ist das Auseinanderdriften zwischen Arm und Reich in Kolumbien extrem. Dies betrifft sowohl die Verteilung von Einkommen, Vermögen, Bildung und Gesundheit als auch des Landbesitzes. Letzteres hat sich durch den Bürgerkrieg und die damit einhergehenden Vertreibungen der Landbevölkerung ebenso wie durch die Umsetzung großflächiger Extraktionsprojekte nochmals verschärft.
Doch Kolumbien zeichnet sich neben den extremen sozialen Ungleichheiten auch durch fehlende Aufstiegsmöglichkeiten aus. Dies wurde kürzlich in einem Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in aller Deutlichkeit herausgestellt. Um aus dem untersten in das mittlere Einkommenssegment aufzusteigen, braucht es in Kolumbien demnach statisch gesehen elf Generationen oder etwa 300 Jahre. Anders ausgedrückt, die soziale Herkunft bestimmt in Kolumbien weitaus mehr als in anderen Ländern die Lebenschancen. Die Ungleichheiten sind zementiert.
Neben einer Karriere als Fußball- oder Radprofi bieten in diesem Kontext Prostitution sowie insbesondere der Weg in die kriminelle (Drogen-)Wirtschaft verführerische Aussichten auf schnelles Geld und sozialen Aufstieg. Die extremen Ungleichheiten nähren somit im Verbund mit der fehlenden sozialen Mobilität die Gewaltspirale. Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Abbau sozialer Ungleichheiten wird alleine weder die Gewalt noch die Drogenökonomie wirksam bekämpfen, doch ohne einen Schritt zu mehr sozialer Gerechtigkeit kann eine Stabilisierung des Friedens und die Bekämpfung der Drogenwirtschaft nicht gelingen.
Gewaltkultur durch Drogenwirtschaft
Ein weiterer Faktor betrifft die Nachfrage und damit auch und insbesondere die Länder des Nordens. Rauschende Partynächte sind ebenso wie der Alltagskonsum immer auch mit der Gewalt und der territorialen Kontrolle etwa in Kolumbien verbunden. Es braucht also auch auf internationaler Ebene dringend ein Umdenken in der Drogenpolitik. Geschieht dies nicht, ist ein Ende der Gewaltspirale nicht in Sicht.
Die Konsequenzen der politischen Versäumnisse erlebt Kolumbien aktuell in aller Deutlichkeit. Gerade in den Gebieten der boomenden Drogenwirtschaft steht die Gewalt gegen soziale Aktivist*innen, Umweltbewegungen, indigene oder afrokolumbianische Gemeinschaften und Menschenrechtsverteidiger*innen auf der Tagesordnung. Hoffnungen auf ein neues politisches Zeitalter werden hier blutig ertränkt. Seit Abschluss des Friedensvertrags wurden über 350 soziale Aktivist*innen ermordet und linksgerichtete Politiker*innen sowie Menschenrechtsorganisationen wurden kürzlich von paramilitärischen Gruppen buchstäblich zum Abschuss freigegeben.
Kurz, in Kolumbien kann heute kaum von einer Post-Konfliktgesellschaft gesprochen werden. Weite Teile des Landes und gerade abgelegene Gebiete an der Pazifikküste oder in Catatumbo erleben einen äußert gewaltsamen Frieden.
Extraktivistisches Entwicklungsmodell
Die Folgen sind weitreichend. Politische Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung werden von der Gewalt de facto beschnitten und gerade kritische Stimmen immer wieder eingeschüchtert. Hier findet sich ein weiteres grundlegendes Problem für die Umsetzung des Friedensprozesses. Dieser kann nur gelingen, wenn er breite Teile der Bevölkerung einbezieht, schmerzvolle Kontroversen zulässt und vor allem auch grundsätzliche Kritik am kolumbianischen Entwicklungsweg ermöglicht. Letzteres betrifft nicht zuletzt das Thema der Neuausrichtung des extraktivistischen Entwicklungsmodells in Kolumbien. Dieser Punkt wurde von der Regierung Santos in den Friedensverhandlungen ausgeklammert, ist jedoch von grundlegender Bedeutung für die Zukunft des Landes. Schließlich haben die letzten Jahre in Lateinamerika deutlich gemacht, dass der Extraktivismus nicht nur krisenanfällig ist, sondern auch immer wieder heftige und nicht selten gewaltsame Konflikte hervorruft. Kolumbien ist hier beileibe keine Ausnahme. Sozialökologische Konflikte um die Nutzung von Wasser und Land finden sich hier ebenso wie Konflikte um die Aufteilung der Rohstoffeinnahmen. Letzteres trifft nicht nur auf Bergbau und andere klassische Felder der Extraktionswirtschaft zu, sondern findet sich auch im boomenden Drogengeschäft und zeigt, dass ein dauerhafter und stabiler Frieden auf der Basis des Extraktivismus kaum zu erzielen ist.
Die Zukunft des kolumbianischen Friedensprozesses wird heute heftig und kontrovers diskutiert. Eine Kehrtwende mit Rückkehr in die Vergangenheit scheint dabei wenig wahrscheinlich. Grund zur Beruhigung besteht dennoch nicht. Die Erfahrungen nach den zentralamerikanischen Bürgerkriegen etwa in El Salvador hängen wie ein Damoklesschwert über dem kolumbianischen Friedensprozess und warnen eindringlich vor einer Vernachlässigung der strukturellen Hindernisse für einen erfolgreichen Weg.
Dabei muss allen Akteuren bewusst sein, dass der Frieden in Kolumbien nicht schon morgen gefestigt sein wird. Es geht nicht um ein kurzes rauschendes Fest im Scheinwerferlicht der Kameras, sondern darum, den schwierigen und oft steinigen Weg zu einem stabilen Frieden zu beschreiten. Hierfür braucht es strukturelle Reformen auf der Basis der Festigung des Friedensprozesses: Wer Prosperität, soziale Gerechtigkeit und die Stärkung der Demokratie möchte, hat keine Alternative zum Frieden und ohne eine spürbare Reduzierung der sozialen Ungleichheiten wird es keinen stabilen Frieden geben. Die Umsetzung solcher Reformen bedeutet jedoch auch, dass historische Privilegien der Oberschicht herausgefordert werden müssen. Bisher finden sich jedoch kaum Anzeichen dafür, dass die Politik in diese Richtung geht.
Prof. Dr. Stefan Peters ist Professor für Friedensforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Direktor des Instituto Colombo-Alemán para la Paz (CAPAZ).
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 929, herausgegeben und mit freundlicher Genehmigung von der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
Letzte Kommentare