Andrea Nahles führt eine SPD an, die in Bayern das größte Wahldebakel ihrer Geschichte erstritten hat. Neun komma fünf Prozent! Die einzige Reaktion darauf: Wir müssen jetzt zur “Sacharbeit” zurückkehren. Ihr sei ein Statement des damaligen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD, Helmut Schmidt – Spitzmahme Schmidt-Schnauze – von 1968 empfohlen. In schneidendem Ton kündigte er im Deutschen Bundestag an, dass Sozialdemokraten in der Großen Koalition mit aller Schärfe deutlich machen werden, was sozialdemokratische Politik sei, ohne Rücksicht auf den Koalitionspartner CDU/CSU. Im Erscheinungsbild der SPD sucht man dergleichen leider vergebens. Ebenso wie Inhalte. Was bitte, ist denn “Sacharbeit?” Klingt wie Wäsche waschen, abspülen, die Kehrwoche machen. Was hat das mit sozialdemokratischer Politik zu tun?Dabei ist es nicht nur die mangelnde kämpferische Körpersprache des Führungsduos Nahles/Scholz in allen Interviews. Es interessiert kein einiges SPD-Mitglied und schon gar keine SPD-Wählerin, dass Scholz “den Schäuble” gibt. Es ist darüber hinaus diese bräsige, gleichgültige, unemotionale, bestenfalls pennälerhafte (“Bätschi”) Haltung ihrer Spitzen, die die SPD-Anhänger scharenweise in die Arme der Grünen und sogar der AfD treibt. Vom Fehlverhalten in Sachen Maaßen ganz zu schweigen. Seehofers Rücktritt hätte die SPD zumindest indirekt fordern müssen, indem sie der Kanzlerin die Verantwortung und die Entscheidungsfrage zugeschoben hätte – aber nichts ist passiert. Sie kleben an den Sesseln der Macht, tun, als ob sie selbst keine hätten – und bringen sozialdemokratische Inhalte nicht rüber. Das ist der Grund, diese eigene Form der Selbstenthauptung, weshalb die SPD immer weiter in den Umfragen absackt – egal wo, ob in Bund oder Land.

Gelähmte Zögerer auf beiden Seiten

Ganz ähnlich die Union. Da fährt die CSU das schlechteste Ergebnis der Geschichte mit Ausnahme von 1950 ein – da hatte sie 27% – und setzt vollständig auf “Weiter so”. Söder beruft sich nach sechs Monaten Amtszeit auf die “Gnade der späten Geburt als Ministerpräsident” und will mit dem großmäuligsten Opportunisten Bayerns, Hubert Aiwanger, einfach weitermachen, wie bisher. Peinlich, ganz kleines Karo, denn Söder macht damit klar, dass er dem hinter dem Wahlausgang stehenden Kulturwechsel – über eine Million nach Bayern zugezogener modern denkender Wähler*innen können mit Bierzelt und Brezntümelei ebensowenig anfangen wie der Diffamierung von “Asyltouristen” – CSU-Urgestein Barbara Stamm hat das erkannt – intellektuell nicht gewachsen ist.

Genau so, wie der Landesvorsitzende der CSU, Seehofer, der dieser Partei und der Bundesrepublik in den letzten drei Jahren laufend unermesslichen Schaden zugefügt hat. Er hat durch die wiederholte Einladung des Rechtsextremisten Victor Orban signalisiert, dass Rassismus und Ausgrenzung von Minderheiten und Flüchtlingen richtig ist. Vielleicht hätte Franz-Josef Strauß ihn auch eingeladen, aber nur, um ihm auf der anschließenden Pressekonferenz eine Nachhilfe in Sachen Europa und Demokratie zu erteilen! Und Seehofer hat mit dem Hofieren des “Wunderwuzzi” Kurz, Österreichs Kanzler in einer Koalition mit der rechtsextremen FPÖ, jede Abgrenzung nach Rechts aufgegeben.  Er hat mit dem monatelangen Aufplustern eines Scheinproblems, hinter dem neun Flüchtlinge pro Monat, stehen, die an den bayerischen Grenzen zurückgewiesen werden könnten, der AfD den Weg bereitet. Er hat die Kanzlerin öffentlich brüskiert und demontiert und ohne Seehofer wäre die AfD vermutlich bis heute nicht im Bundestag. Er hat in unerträglicher Weise das Flüchtlingsthema zur “Mutter aller Probleme” und damit Rassismus, Nationalismus und Chauvinismus der erstarkten Rechtsextremen in Deutschland auf Punkt eins der politischen Tagesordnung gesetzt. Und er hat das nicht getan, um wirkliche Probleme zu lösen, sondern eine private Fehde und einen Machtkampf mit der Kanzlerin auszuleben.

Seehofer am Ende, Bouffier in der Bredouille

Dieser Mann ist politisch überfällig. Er hat der CSU geschadet, er hat Bayern geschadet, er hat der Bundesregierung geschadet, er hat der Demokratie und dem Ansehen des Parlaments geschadet und er hat der politischen Kultur geschadet. Er ist unfähig, das einzusehen, aber viel schlimmer: Niemand gebietet ihm Einhalt, obwohl sein irrlichterndes Verhalten inzwischen an Politiker erinnert, die “Blackouts” hatten, “Ehrenworte” gaben, oder Fallschirm sprangen. Die Kanzlerin lässt ihn gewähren. Das fällt zunehmend auf sie selbst zurück. Denn die Frau, die Kohl gestürzt, die CDU ins 21. Jahrhundert geführt, seit 2005 erfolgreich regiert und Europa aus der Finanzkrise gerettet hat, erscheint aufgrund ihrer Haltung Seehofer gegenüber als erstaunlich hilflos. Sie muss die Machtprobe, die ihr Seehofer anträgt, endlich und endgültig beantworten. Die angeschlagene CSU wird nicht aus der Koalition in Berlin aussteigen, schon gar nicht Leute wie Dobrindt und Scheuer, die sich als Lobbyisten und Vollstrecker der Interessen der Autoindustrie verstehen, Hardware-Nachrüstungen zum Schaden der Verbraucher*innen verhindern und deshalb bei den Wähler*innen unbeliebt sind, in Bayern keinerlei Aussicht auf Mandate oder Funktionen hätten. Mit ein Wenig ihrer früheren Menschenkenntnis und ihres Machtinstinkts könnte sie die Situation bereinigen und Seehofer entlassen – dass Merkel inzwischen immer noch zögert und nicht handelt, ist erschreckend. Sie selbst sägt damit am Ast, auf dem sie sitzt. Und sie lässt Volker Bouffier, einen ihrer treuesten Unterstützer, durch ihr Abwarten und ihre mangelnde Initiative, als Kanzlerin und als Parteivorsitzende endlich das Ruder in die Hand zu nehmen, in seinem Wahlkampf im Regen stehen. Das wird Bouffier am Wahltag, ihr aber spätestens beim CDU-Parteitag im Dezember auf die Füße fallen.

Schwachmaten in der SPD

Was tut also die SPD als mächtige Koalitionspartnerin? Sie hat nach Bayern nichts mehr zu verlieren, müsste zeigen, dass sie die bessere Politik machen könnte, wäre da nicht diese lähmende GroKo. Drohen, infrage stellen, Disziplin einfordern, ihr eigenes Profil schärfen. Aber mitnichten: Sie schaut weg und macht weiter mit. Sie hat nicht kapiert, dass sich programmatische Unterschiede nicht über das Abarbeiten von Spiegelstrichen wie dem “Gute KiTa-Gesetz” oder dem völlig berechtigten Erfolg gleicher Belastung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in der Krankenversicherung vermitteln, sondern durch konstruktiven Streit. Weder Ihre Spitzenleute, noch Mitglieder der Fraktion haben das Rückgrat, Gelegenheiten zu nutzen, wie den in dieser Woche von der FDP, Grünen und Linken Opposition eingebrachten Antrag zur Streichung des unsäglichen § 219 StGB (Werbung für Abtreibungen) zu unterstützen. Obwohl damit derzeit Ärzt*inn*e*n, die über Abtreibung aufklären, von katholisch religiösen Eiferern und evangelikalen Spinnern drangsaliert werden. Diesen Antrag zu unterstützen oder zumindest die Abstimmung frei zu geben, wäre ein Zeichen gewesen, verstanden zu haben. Nahles lamentiert ein bisschen, aber sie handelt nicht. Heil und Scholz meinen, man könne einfach nur mal weiter machen, egal was passiert.

Svenja Schulze allein zu Haus

Die einzige, die in diesen Tagen einmal intelligent den Koalitionspartner vorgeführt hat, ist Umweltministerin Svenja Schulze. Sie ist mit dem offenen Bekenntnis, sie dürfe ja in Brüssel nur für 30% CO² Reduktion bei den PKW-Abgasen aus Koalitionsdisziplin verhandeln, obwohl sie mehr für richtig halte, abgereist. Sie hat immer wieder ihre eigene abweichende Meinung deutlich gemacht und mit Schadenfreude vorgeführt, dass der 35%-Kompromiss peinlich und mit dem Kanzleramt abgestimmt wenigstens ein kleiner Schritt in die richtigere Richtung bedeutet. Sie hat damit noch mehr Schaden von der SPD abgewendet, aber sie ist ein Einzelfall. Was die Sozialdemokraten mehrheitlich nicht begreifen ist, dass Politik nicht das Abarbeiten von Spiegelstrichen ist, sondern das Reagieren auf neue Sachverhalte und auf Wählerverhalten. Das alles merken die Wähler*innen und all dies treibt derzeit die Wahlumfragen in ungewöhnliche Konstellationen, es erklärt das Wachsen von Grünen und die anhaltende Stärke der AfD. Es wird sich nichts bewegen vor der Hessenwahl und deshalb wird der Trend zur Erosion von CDU und SPD weiter anhalten. Zum Schaden nicht nur dieser Parteien, sondern zum Schaden der Demokratie. Wer kann da ernsthaft glauben, das Stillhalten die Situation besser macht?

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net