Zeiten wie diese füllen deutsche Medien mit Wiederholungen und Jahresrückblicken. Mich nervt das unendlich, weil es sich um billige Ausreden handelt, seine Arbeit nicht zu machen. Pausen sind legitim und ein arbeitsrechtliches Grundrecht. Die liessen sich für die Beschäftigten aber auch realisieren, indem einfach mehr Menschen eingestellt würden. Deutschland geniesst lieber Feiertagsrituale, um sich auf diese Weise davon abzulenken, dass die Welt da draussen weitermacht – und wir leisten uns, was wir so gerne tun: das zu ignorieren.
Ein Text ragt heute für mich aus den Ritualen heraus, weil er auch an jedem anderen Tag hätte geschrieben werden können: Stefan Reineckes/taz “Die kommenden Aufstände” – die Überschrift ist übernommen aus einer linksradikalen französischen Streitschrift eines “Unsichtbaren Komitees” von 2007, die weit pubertärer geraten war, als Reineckes reflektierte und partiell ratlos in die Zukunft offenes Denkergebnis. Extradienst-Leser Friedrich Küppersbusch fasste das innenpolitische Fazit prägnanter so zusammen: “Man ist des kleinteiligen Politikbetriebs müde und wünscht sich was mit Wumms, die Alternative zur Alternativlosigkeit. Wer die pragmatische Politik Angela Merkels mit der Vierhodigkeit Gerhard Schröders verkauft, gewinnt. Es ist ein schmutziger Job, aber eine sollte es machen.” (Auf die Frage “Und was machen die Borussen?” hat er erstmals in der Weltgeschichte verzichtet!)
Reineckes 1a-Text würde ich an zwei Stellen genauer befragen. “Der Protest geht nicht von den Abgehängten aus”, in denen er – richtig – dominierend das “migrantische Dienstbotenproletariat” sieht. Wenn die in der BRD immer sozialdemokratisch dominierten Gewerkschaften nach den Ursachen ihrer eigenen Krise suchen, dann ist hier die Stelle, an der sie damit anfangen könnten (auch Reinecke hätte das tun dürfen). Meine Gewerkschaft ver.di hat immerhin damit begonnen und wir können um unserer Demokratie willen nur hoffen, dass sie damit erfolgreich wird.
Die zweite Stelle bei Reinecke ist die Bedingung “wenn die Exportökonomie nicht zusammenbricht”. Tja, das wird sie aber eines Tages tun, wenn nicht im neuen Jahr, dann nur wenig später. Denn der Widerstand in Europa und Übersee gegen das deutsche “Exportmodell” ist längst da, und er ist mächtig. Andererseits ist im Inland keine Partei zu sehen, die die ideologische Vernagelung deutscher Klippschul-VWL (“Schuldenbremse” sogar in der Verfassung; “Schwarze Null” mit verfallender Infrastruktur) aufbrechen will – ausser “Die Linke”, aber die will ja auf keinen Fall regieren. Makaber, dass ausgerechnet der kommende grösste Überwachungsstaat der Geschichte und unser Überflügler um die “Exprtweltmeisterschaft” China hier eine klügere Analyse pflegt, einfach nur aus dem Interesse, in seiner Gesellschaft von keiner relevanten Kraft infragegestellt zu werden.
Diese Szenarien sprechen alle nicht dafür, dass es hierzulande einfach irgendwie weitergeht. Das am wenigsten.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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