Mit Update
Essstörungen wurden lange Jahrzehnte skandalös unterschätzt. Vor 12 Jahren habe ich im Freitag dagegen angeschrieben. Eine mutige junge Journalistin, Lara Fritzsche, damals Volontärin beim Kölner Stadt-Anzeiger hatte mich damals mit einer starken Reportage beeindruckt. Ihr hat es nicht geschadet – sie hat ihren beruflichen Erfolgsweg gefunden, schreibt jetzt u.a. fürs SZ-Magazin. Und sie hat Nachfolgerinnen gefunden. Das Thema ist endlich in der öffentlichen Diskussion angekommen. Und bedarf aus meiner Sicht einer Politisierung seiner sozialen Ursachen. Es ist nicht (nur) das private Problem der Betroffenen, weil es eine Epidemie ist.
Eine gute Freundin hatte mir schon etliche Jahre vor meinem Freitag-Text von ihrer eigenen Essstörungsgeschichte erzählt. Irgendwann entdeckte ich unter meinen Freundinnen weitere Betroffene, lernte, dass zunehmend auch Männer von der Erkrankung betroffen sind. Irgendwann beunruhigte mich, dass ich in meinem Freundinnen- und Bekanntenkreis fast eine 100%ige “Trefferquote” schaffte, beim Tipp, wer darunter leidet, und wer eher nicht. Dahinter verbarg sich mein Schrecken, dass es vorgeblich “schönen”, “attraktiven” Menschen noch weniger als den andern gelingt, das Leben und seine schönen Seiten geniessen zu können, weil sie ständig mit sich selbst und ihrem Körper im Krieg sind. Grausam.
Das Problem der klugen Autorinnen zu diesem Thema ist, verständlich zu machen, was sich im Inneren der Frauen und Mädchen abspielt: die komplexen Zusammenhänge zwischen Denken, Handeln und körperlichen Reaktionen. Und nicht zu vergessen: ihre soziale Bedingtheit. Es ist eine Kunst, seinerzeit von Fritzsche, und hier aktuell von der WAZ-Redakteurin Caroline Rosales, das für Lesende nachvollziehbar zu machen. Solche fähige Journalistinnen, Rosales erwähnt zurecht die Britin Laurie Penny, sind irre wichtig für die hunderttausenden Betroffenen, die solch ein Bekenntnis nicht schaffen, weil sie meinen, es sei allein ihr Problem und ginge niemanden etwas an. Dieses falsche Individualisierungs-Bewusstsein ist es, das Menschen klein und schwach hält, und damit das System unbarmherziger kapitalismuskompatibler Selbstoptimierung am Leben.
Update 4.2.: Marlen Hobrack/taz hat Rosales’ Buch gelesen und sich sehr gründlich damit auseiandergesetzt!.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net