Mitgliederpolitik als neues Politikfeld der IG Metall
von Wolfgang Schröder und Stefan Fuchs / Otto-Brenner-Stiftung
Nach 2000 hat die Mitgliederzahl der IG Metall abgenommen. Seit 2010 konnte sie ihre Mitgliederzahl allerdings insgesamt stabilisieren; bei den Mitgliedern in den Betrieben hat sie sogar seitdem einen Zuwachs verzeichnen können. Unterschiedliche, sich teilweise ergänzende, aber auch konträre Strategien wurden als Reaktion auf die zurückgehenden Mitgliederzahlen diskutiert. Klar scheint den Verantwortlichen zu sein, dass alleine mit Ad-hoc-Aktivitäten keine erfolgreiche Trendwende erreicht werden kann. Das gilt auch für Ansätze, die eine größere Attraktivität der IG Metall primär durch inhaltliche Ergebnisse in der Tarif- und Betriebspolitik erreichen wollen. Für eine politische Konfliktrhetorik, die nicht durch eine belastbare Durchsetzungsstrategie gedeckt ist, gilt das Gleiche. Bliebe noch die Hoffnung, dass durch gesellschaftliche Veränderungen, staatliche Unterstützung oder grobe Fehler der Arbeitgeberseite den Gewerkschaften die Mitglieder quasi direkt zulaufen würden, was angesichts der realen Verhältnisse sehr unwahrscheinlich ist. Vor diesem Hintergrund begann die verstärkte Suche nach einer eigenen Strategie, die Mitglieder-, Beteiligungs- und Konfliktorientierung in einen systematischen Zusammenhang bringt.
Der Weg der IG Metall, eine systematische Mitgliederstrategie zu entwickeln, hat nicht nur eine über 20 Jahre währende Vorgeschichte. Er ist auch das Ergebnis eines lang anhaltenden inneren Suchprozesses, der mit einer Fülle von Konflikten einherging. Sobald die Analyse, dass eine systematische Neujustierung der Mitgliederarbeit eine wesentliche Voraussetzung ist, um gegenüber den Arbeitgebern und der Politik wieder handlungsfähiger zu werden, mehrheitlich geteilt wurde, rückte die Frage in den Vordergrund, wie dies umgesetzt und im Alltag operativ bewältigt werden könne. Eine erste wesentliche Zäsur bildete der Aufbau einer strukturierten Kampagnenarbeit im Frankfurter IG Metall-Vorstand sowie der 2014/15 beginnende Prozess der systematischen Strukturentwicklung auf der Ebene der Bezirke. Dieser Prozess kann auf unterschiedlich weitreichende Vorarbeiten einer engagierten Erschließungsstrategie aufbauen und hat nun eine neunjährige Projektlaufzeit (2015/16-2024/25). Die 2014/2015 getroffene Entscheidung, den Bezirken die Möglichkeit zu geben, eigene Akzente in einer kontextspezifischen Mitgliederstrategie zu setzen, verfolgt vor allem zwei Grundanliegen: Erstens entspricht dies der Einsicht, dass eine rigide Top-down-Strategie der Frankfurter Zentrale, die die regionalen Kontexte ignoriert, in diesem Feld nicht funktionieren dürfte. Denn eine langfristig tragfähige Mitgliederstrategie zu etablieren bedeutet in starkem Maße, den jeweiligen organisationsstrukturellen und sozioökonomischen Bedingungen Rechnung zu tragen. Die von den Bezirken entwickelten Konzepte fallen unterschiedlich aus, wenngleich sie in der Ziel- und Grundstruktur übereinstimmen. Dies bedeutet – so ein Ergebnis unserer Studie –, dass ein Vergleich zwischen den ungleichen Akteur*innen und Räumen ein sehr komplexes Unterfangen darstellt, also keine vordergründigen Rankings erlaubt. Zweitens erhoffen sich die Verantwortlichen von den divergenten Zugängen und spezifischen Akzentsetzungen Hinweise darauf, wie die angestrebten Ziele am besten erreicht werden können. Mithin sind die verfolgten Wege hin zu einer erfolgreichen Mitgliederpolitik durchaus modifizierbar, worin zugleich die Basis für wechselseitige Lernprozesse zwischen den Projekten liegen sollte. Im Folgenden werden in verdichteter Form Antworten auf die Fragen gegeben, die wir in der Einleitung aufgeworfen haben.
Organisatorischer Ausgangspunkt
Was sind die Bedingungen, Instrumente und Ziele einer systematischen, professionellen Mitgliederorientierung, wie sie in den GEP-Aktivitäten angestrebt wird?
Die IG Metall ist eine durch hierarchische Vorgaben koordinierte Organisation, die im regionalen Raum – im Rahmen bundesweiter Vorgaben – eigene Akzente setzt. Für die 2014/15 gestarteten Mitgliederprojekte bedeutet dies, dass der konzeptionelle, finanzielle und personelle Rahmen durch die Frankfurter IG Me-tall-Vorstandsverwaltung gegeben ist. Zwischen den zugewiesenen finanziellen und personellen Ressourcen auf der einen Seite und der Zielerreichung auf der anderen Seite liegt jedoch die politische Verantwortung bei den Bezirken, die diese Entwicklung auf der Basis eines abgestimmten konzeptionellen Rahmens umsetzen sollen. Daher steht am Anfang der neuen mitgliederorientierten Projekte, die ein systematisches Vorgehen in der Mitgliederfrage anstreben, ein eigenständiges regionales Konzept, das mit den zentral zur Verfügung gestellten Ressourcen arbeitet. Mit einer solchen Projektanlage geht eine Stärkung interner organisationaler Managementmittel in der IG Metall einher. Denn durch eine Kennzahlensteuerung wird im Sinne des Controllings eine Form der Transparenz erzeugt, die die Leistungsfähigkeit der eingesetzten Mittel nachvollziehbar machen soll.
Der konkrete Akteur, mithin Träger der Erschließungsprojekte, ist eine Gruppe eigens eingestellter Organizer*innen. Für alle Bezirke zusammen wurden etwa 140 Aktivist*innen eingestellt, denen zugetraut wird, dass sie die Klaviatur von Mitglieder-, Beteiligungs- und Konfliktprozessen zwischen Betrieben und lokalen Geschäftsstellen bedienen und steuern können. Diese Auswahl ist das Ergebnis einer zielgerichteten Personalrekrutierung, die kommunikations- und konfliktstarke Persönlichkeiten finden will, die in der Lage sind, die oben beschriebene Konstellation zu bespielen. Als entscheidende Frage für die neue Aufstellung gilt: Wie kann die Spezialisierung außerhalb der Geschäftsstellen mit der Arbeit in den Geschäftsstellen konkret und ergebnisorientiert verbunden werden? Denn wenn es nicht gelingt – so die Arbeitshypothese –, die Ergebnisse der Erschließungsarbeit in den Geschäftsstellen zu verankern, wird es keine nachhaltige Mitgliederentwicklung geben.
Mit einem Tandem aus einer/eine Erschließungssekretär*in außerhalb der Geschäftsstelle und einer/einem Erschließungsbeauftragten innerhalb der Geschäftsstelle soll die räumliche Trennung in einer engen inhaltlichen Kooperationsperspektive aufgehoben werden. Diese neue Aufstellung konzediert zugleich, dass die Mitgliedererschließung nicht alleine das Begleit- oder Nebenprodukt inhaltlicher Prozesse ist. Vielmehr bedarf es dafür einer eigenständigen, systematischen Mitgliederarbeit in Gestalt einer professionellen Gruppe, die sich auf diese spezielle Erschließungsarbeit konzentriert. Das Tandem von Erschließungssekretär*in und Erschließungsbeauftragtem bzw. Erschließungsbeauftragter ist der spezifische baden-württembergische Weg.
Um die Erschließungsaktivitäten dauerhaft in den gewerkschaftlichen Regelbetrieb integrieren zu können, bedarf es einer kritischen Prüfung des bisher geleisteten Transfers von Erschließungskompetenzen in die Geschäftsstellen. Nur ein engmaschiger und systematisierter Austausch zwischen Erschließungs- und Regelakteur*innen kann dazu beitragen, dass Erschließungsarbeit nach der neunjährigen Projektlaufzeit zu einer etablierten Aufgabe wird, die die Gewerkschaftssekretär*innen übernehmen. Nicht zuletzt sollte hierzu geklärt werden, welche Bedingungen und strukturellen Veränderungen für eine Integration der Erschließungsarbeit in den Regelbetrieb von Gewerkschaftssekretär*innen notwendig sind.
Akteur*innenwahrnehmung
Wie nehmen haupt- und ehrenamtlichen Funk-tionär*innen die gewählte Projektaufstellung zur Mitgliedererschließung wahr? Befragt wurden die auf den unterschiedlichen Projektebenen mitarbeitenden ehren- und hauptamtlichen Funktionär*innen (Erschließungsse-kretär*innen/Hauptamtliche/betriebliche Aktive) im Bezirk Baden-Württemberg. Deutlich wurde, dass es eine hohe Akzeptanz des eingeschlagenen Weges gibt. Besonders stark ausgeprägt ist dieser Veränderungsimpuls bei den Erschließungssekretär*innen. Dazu gehört aus ihrer Sicht eine weitere Professionalisierung der Mitgliedererschließung, zu der Organizing beitragen könne. Durchaus ambivalent sind allerdings die Einschätzungen hinsichtlich der Erfolgsträchtigkeit des eingeschlagenen Weges. Obwohl eine große Mehrheit sehr positiv eingestellt ist, artikuliert etwa ein Drittel der Befragten Zweifel. Auffallend ist auch, dass trotz des vorhandenen Veränderungsbewusstseins und einer Akzeptanz der damit verbundenen strategischen Ausrichtung bei vielen der Wunsch besteht, nicht enger in die Prozesse der Erschließungsarbeit eingebunden zu werden.
Hinsichtlich der Ziele und der methodischen Vorgehensweise der Mitgliederstrategie gibt es unterschiedliche Selbstverständnisse und Herangehensweisen. Während die Organisations- und die Mitgliederentwicklung in hohem Maße als zentrale Ziele akzeptiert sind, wird die Erschließungsarbeit kaum mit der Personalentwicklung innerhalb der IG Metall in Verbindung gebracht. Die Mitgliederorientierung wird zwar grundsätzlich positiv wahrgenommen, schöpft aber aus Sicht der Befragten ihr Potenzial noch nicht aus. Diese Ansicht vertreten besonders stark die Ehrenamtlichen in den Betrieben, so dass die Aktivierungsbestrebungen des GEPs Chancen auf Resonanz bei der Basis haben. Hinsichtlich der Mitgliedererschließung gibt es keine einheit1liche Haltung: Eine größere Minderheit geht von der Auffassung aus, dass dies nicht ihre eigentliche Aufgabe sei. Da diese Einschätzungen aber am Anfang der Arbeit des GEP stehen, könnten sich diese Positionen im weiteren Verlauf verändern. Trotz der insgesamt positiven Einbettung divergieren die Einschätzungen darüber, ob der eingeschlagene Weg am Ende wirklich zu einem Erfolg führen wird. Hier stehen sich – was für den weiteren Reformprozess positiv herausfordernd ist – Optimist*innen und Skeptiker*innen gegenüber, wobei die erste Gruppe deutlich überwiegt.
Es lassen sich thesenartig zwei divergente Rollenverständnisse bei den Erschließungssekretär*innen identifizieren und voneinander abgrenzen: Einerseits ein eher pragmatischer, mitgliederorientierter Typus, der auf eine professionelle Rekrutierungsarbeit zielt, die stark arbeitsteilig ausgerichtet ist, und zwischen kurz- und längerfristigen Zielen zu pendeln weiß. Andererseits ein Typus, der eher grundsätzlich die Organisationskultur verändern will, auf längerfristige und strukturelle Ziele setzt, dabei seine politische und handlungsorientierte Eigenständigkeit stärker betont und eher skeptisch ist gegenüber kurzfristigen, quantitativen Zielen und Steuerungsmethoden. Möglicherweise können sich beide Typen gut ergänzen, nicht zuletzt, weil sie auch die innerorganisatorische Heterogenität abbilden. Denkbar ist aber auch, dass sie sich wechselseitig blockieren und somit nicht nur Friktionen generieren, sondern auch eine schlechtere Performanz. Auf der Basis dieser Untersuchung lässt sich dies nicht klar beantworten. Hierfür wären weitere Analysen notwendig.
Bei der Problemwahrnehmung der Akteur*innen treten vor allem die Methode (Umsetzungsprobleme) sowie die Arbeitsorganisation (Kommunikation und Vernetzung, Zuständigkeiten) in den Vordergrund. Das deckt sich mit dem Wunsch der Akteur*innen nach einem engeren Erfahrungsaustausch und dem verstärkten Kennenlernen von Organizing-Methoden.
Grundsätzlich kann konstatiert werden, dass es einer Schärfung des Verständnisses von Erschließung bedarf. Eine diffuse Vorstellung davon ermöglicht zwar in einem gewissen Maße die Integration heterogener Herausforderungen der Erschließungspraxis, doch kann sie bei einer Überdehnung auch dazu führen, dass Professionalisierungsprozesse gebremst werden und sich im Hinblick auf die Mitgliedergewinnung ineffiziente Praktiken herausbilden. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, sollten Ziele, Instrumente und Grenzen des Erschließungsprozesses wie auch der Regelarbeit in den Geschäftsstellen kontinuierlich reflektiert und präzisiert werden. Hierbei ist wichtig, die quantitativen Zielkategorien um geeignete qualitative Zielindikatoren zu erweitern, um negativen Effekten einer eindimensionalen Zielfokussierung entgegenzuwirken und nachhaltige Erfolge sichern zu können.
Wirkungen auf die IG Metall und die Arbeitsbeziehungen
Welche Folgen könnten die gewählten Strategien zur Bewältigung des Wandels für die IG Metall nach sich ziehen? Welche Folgen haben diese Aktivitäten außerdem für die Institution der Sozialpartnerschaft, also für das Netzwerk der Arbeitsbeziehungen?
Die institutionenpolitische Arbeitshypothese der neuen Mitgliederprojekte kann man wie folgt umschreiben: Die neu aufgestellten Projekte haben die Aufgabe, Mitglieder zu aktivieren und zu gewinnen und eine bessere Struktur der Mitgliedererschließung und -betreuung zu generieren. Letzteres sollte auch institutionelle Folgen für die Arbeit in den Geschäftsstellen haben, insbesondere an den Schnittstellen zu den Betrieben. Gegenwärtig bestehen mit Blick auf die Performanz der neuen mitgliederorientierten Erschließungsarbeit sowie hinsichtlich des Wandels der Organisationskultur vielfältige Unklarheiten. Diese betreffen vor allem die Frage, ob und wie die Erschließungsprojekte mit den Geschäftsstellen – abgesehen von der rein strukturellen Verbindung mittels der Erschließungsbeauftragten – verzahnt sein sollten. Erstens scheint unklar zu sein, wie eine für alle transparente Verzahnung zwischen den Erschließungsstrukturen und den Geschäftsstellen überhaupt aussehen könnte. Zweitens besteht auch bei den konkret agierenden Akteur*innen eine gewisse Unklarheit hinsichtlich der Aufgabenteilung. Besonders deutlich wird dies bei der Frage, ob die langfristige Einindung der durch das GEP gewonnenen Mitglieder im Bereich der Geschäftsstelle sichergestellt sei. Nur 40,5 Prozent beantworten dies mit „ja“, 19 Prozent mit „nein“ und 40,5 Prozent mit „weiß nicht“. Dies spricht nicht nur für eine unklare Aufgabenverteilung, sondern auch für eine suboptimale Steuerung. Mangelnde Gewissheit über die eigene Rolle und die eigenen Aufgaben in einer arbeitsteiligen Organisation kann hinsichtlich der Bindung von Mitgliedern problematisch werden. Sie hat aber auch negative Auswirkungen auf das Konzept der Beteiligungsorientierung, das arbeitsteilige Rollenklarheit und eine langfristige Einbindung voraussetzt. Drittens besteht keine hinreichende Einbeziehung der Verwaltungsangestellten und weiterer Teile des politischen Personals in das bisherige Konzept („blinder Fleck“, int. GEP-Leitung), wodurch die Wirkung des GEPs geschwächt wird.
Die Arbeitgeberverbände verfolgen die Erschließungsprojekte der IG Metall mit Interesse, sehen bisher aber keine weitreichenden Auswirkungen auf ihre Arbeitsweise. Wenn der Prozess erfolgreich verläuft, könnte dies auch aus ihrer Sicht dazu beitragen, dass die betroffenen Unternehmen wieder ein größeres Interesse an einer Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden entwickeln. Einen grundsätzlichen Wandel, der ihrerseits Reaktionen herausfordert, erkennen sie aber gegenwärtig nicht.
Organisationslernen
Welche Lernprozesse haben zur Etablierung der systematischen gewerkschaftlichen Erschließungsprojekte geführt? Wo lassen sich bei der Neujustierung Problemfelder identifizieren und wie versuchen die Verbände, diese lernend zu bewältigen? Wie erfolgt organisationales Lernen im Wandel? Welcher Typ von Organisationslernen liegt im hier untersuchten Fall vor?
Seit den 1990er Jahren lassen sich unterschiedliche Ansätze des Verbesserungslernens in der IG Metall beobachten. Dazu zählen eine Professionalisierung der Rolle der Gewerkschaftssekretär*innen, was sowohl in einem eigenen Traineeprogramm (seit 2000) als auch in Fort- und Weiterbildungsaktivitäten seinen Ausdruck findet. Im Zentrum der neuen Entwicklung steht eine Stärkung der Projekt- und Kampagnenarbeit. Vor allem besteht das Ziel einer systematischeren Mitgliederpolitik, die darauf abzielt, einzelne Bausteine zu integrieren und dieser Arbeit insgesamt einen anderen Stellenwert beizumessen. Die einzelne Arbeitsschritte der Mitgliederpolitik, die teilweise vorher auch schon angewandt wurden, sollen nunmehr systematisch aufeinander bezogen werden. Damit einher geht eine finanzielle, institutionelle und politische Aufwertung des Politikfeldes Mitgliederpolitik. Mit den bezirklichen Erschließungsprojekten werden systematische Ansätze des reflexiven Lernens institutionalisiert, die allerdings unbedingt weiterentwickelt werden müssen. Beginnend mit den statistischen Grundlagen bis hin zu den Rollenbildern sind hinreichend viele offene Fragen zu klären.
Der hier untersuchte Wandel in der Mitgliederpolitik ist das Ergebnis organisationaler Lernprozesse. Zentral ist dabei die Bereitschaft, die lange bestimmenden Handlungsdeterminanten der gewerkschaftlichen Mitgliederpolitik zu relativieren und sich auf partielle Neujustierungen einzulassen. Dazu zählt vor allem die bis Ende der 1990er Jahre vorhandene Verengung, die in der Annahme bestand, dass tarifpolitischer Fortschritt, aktive Mitgliedergewinnung durch Betriebsräte und individuelle Serviceleistungen ausreichen sollten, um eine erfolgreiche Mitgliederpolitik zu erreichen. Mit den seit 2014/15 in allen Bezirken initiierten Erschließungsprojekten sind weitere Ansätze aufgenommen worden, um Mitgliedergewinne professioneller zu generieren und strukturell deren Bindung abzusichern. Da diese Prozesse allerdings erst am Anfang stehen und es sich bislang nur um eine überschaubare Zahl empirischer Fälle handelt, ist die Reichweite und Wirkung dieses angestrebten Wandels offen. Anvisiert wird jedenfalls nicht nur eine weitere Dimension der Mitgliedergewinnung, sondern auch der Versuch, die Organisationsstrukturen insgesamt so zu verändern, das die Tarifpolitik, die Serviceangebote und die politische Kommunikation mittels offensiver Ansprache- und Partizipationsformen, wozu auch eine stärkere Konfliktorientierung zählt, organisch mit dem Thema der Mitgliederpolitik verbunden werden.
Die neue, systematische Mitgliederpolitik zielt darauf, separierte Projektansätze zu einem vernetzten Politikansatz zu entwickeln. Im Verlauf der Erschließungsprojekte wird sich zeigen, ob und wie es der IG Metall – als einer treibenden und innovativen Kraft im deutschen Gewerkschaftsmodell – damit gelingt, ihre Integrationskraft angesichts der sich ausdifferenzierenden Arbeitswelten und der sich entkoppelnden drei Welten der Sozialpartnerschaft zu erweitern. Die bewusste Anerkennung dieser Welten ist ein wichtiger Schritt zu einer erfolgreichen Bewältigung des systematischen Umbaus der Organisation.
Die Ergebnisse unserer Untersuchung stärken die eingangs formulierte These, dass organisationale Lernprozess auch dazu beitragen, ein eigenständiges Politikfeld „Mitgliederpolitik“ zu generieren. Es geht dabei nicht nur um eine programmatische, sondern auch um eine strukturelle Aufwertung mitgliederbezogener Strukturen und Aktivitäten. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten die mitgliederpolitischen Aktivitäten als eigenständiges – aber gleichwohl hoch vernetztes – neues Politikfeld neben der Betriebs-, Tarif- und Gesellschaftspolitik verstanden und ausgestattet werden.
Die eingeschlagene Strategie, neue Wege in der Mitgliederpolitik zu gehen, verläuft gegenwärtig über systematisch angelegte Projektstrukturen. Diese Studie zeigt, dass mit den Erschließungsprojekten neue Handlungsmuster praktiziert werden. Vor allem geschieht dies durch eine innovative Kooperation zwischen den Erschließungsprojekten, den Geschäftsstellen und den betrieblichen Akteuren. Dazu gehört auch eine stärkere Aktivierung von Mitgliedern und eine Revitalisierung bestehender Arbeitsstrukturen. Im Hinblick auf die Zahl der gewonnenen Neumitglieder gelang es den Erschließungsprojekten bisher, die angestrebten Mitgliedergewinne zu erzielen.
Für eine abschließende Bewertung der vorliegenden Ergebnisse ist es dennoch zu früh. entscheidend bleibt, ob und wie sich die Ergebnisse der Projekte langfristig in die Regelarbeit einbinden lassen. Damit eng verbunden ist die Frage, welche Veränderungen in den Geschäftsstellen, in den Bezirksleitungen und in der Vorstandsverwaltung der IG Metall zusätzlich stattfinden müssen, um die innovativen Impulse der Erschließungsprojekte dort strukturell und dauerhaft zu verankern. Offensichtlich ist, dass eine bundesweit agierende Organisation, die föderal strukturiert ist, auch in der Mitgliederpolitik zu einer klugen Arbeitsteilung zwischen den Ebenen finden muss. Wenn pro Jahr etwa 120.000 neue Mitglieder*innen gewonnen werden müssen, um das quantitative Mitgliederniveau zu halten, muss die Mitgliederrekrutierungs-, -haltungs- und -aktivierungspolitik auf allen Ebenen, vom Betrieb bis in die IG Metall-Zentrale, erfolgreich ineinandergreifen. In einer Organisation, in der die Zentrale eine besondere Rolle einnimmt, sind nicht zuletzt auch die dort zu erbringenden Leistungen wichtig und in der Gesamtschau zu berücksichtigen.
Wir haben uns vertieft mit dem Gemeinsamen Erschließungsprojekt im Bezirk Baden-Württemberg befasst. Zeitversetzt wurden ähnliche Erschließungsprojekte auch in allen anderen Bezirken gestartet, die auf einen Zeitraum von neun Jahren angelegt sind. Trotz mancher Unterschiede zwischen den Bezirken und Projekten geht es bei der Gesamtanlage der IG Metall-Mitgliederprojekte darum voneinander zu lernen. Deshalb sollten bezirksübergreifende Unterstützungsmaßnahmen gestärkt und aus erfolgreichen Konzepten gelernt werden, ohne die jeweiligen spezifischen Kontexte zu ignorieren.
Dieser Beitrag ist die Wiedergabe des Kapitels “Fazit” der in der Überschrift genannten Studie der Autoren für die Otto-Brenner-Stiftung, Wiedergabe hier mit ihrer freundlichen Genehmigung. Den vollen Wortlaut finden Sie hier. Aus dem Inhaltsverzeichnis:
Einleitung
Perspektiven gewerkschaftlicher Mitgliederstrategien
Hürden gewerkschaftlicher Organisierung
Mitglieder- und Partizipationsverständnis
Organizing
Institutionelle Grundlagen
Organisationslernen
Bedingungen der Mitgliederpolitik als Politikfeld
Perspektivwechsel hin zur Mitgliederpolitik
„Partizipatorische Revolution“ der Gesellschaft
Vorgeschichte der Mitgliederpolitik
1. Phase: Tariferfolge und betriebliche Ansprache
2. Phase: Mitgliederverluste und „Fusionitis“
3. Phase: Experimente und erste Ansätze systematischer Erschließungsarbeit
Zwischenfazit
Etablierung des Politikfeldes Mitgliederpolitik
Vorgeschichte der bezirklichen Erschließungsprojekte
1. Etappe: Initiierung eines strategischen Veränderungsprozesses
2. Etappe: Weiterentwicklung durch Pilotprojekt
3. Etappe: Implementierung der Gemeinsamen Erschließungsprojekte (GEP)
Erschließungskonzepte: Systematisierung einer neuen Mitgliederpolitik
Ziele
Organisation
Steuerung
Zwischenfazit
Praxis der neuen Mitgliederpolitik
Bedingungen organisationaler Veränderung
Problembewusstsein und Handlungsdruck
Konzepte und Ressourcen
Vertrauen in und Kenntnis der Projektziele
Organisationswandel
Professionalisierung
Binnenstruktur und Steuerung
Projekt- und Regelstruktur
Verändertes Akteurshandeln
Anforderungen an und Rekrutierung von Erschließungssekretär*innen
Rollenverständnis der Erschließungssekretär*innen
Personalentwicklung als Teil des GEPs
Spannungen zwischen Projekt- und Regelakteur*innen
Merkmale der Betriebsauswahl
Zwischenfazit
Reaktionen der Arbeitgeber: Auswirkungen auf die Sozialpartnerschaft
Fazit
Anhang
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Literatur
Hinweise zu den Autoren
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