von Lutz Frühbrodt / Annette Floren – Otto-Brenner-Stiftung
Im Netzwerk der Profis und Profiteure
Handelt es sich bei YouTube um ein basisdemokratisches Medium zur kulturellen Selbstermächtigung, das obendrein Feuerwerke der Kreativität entfacht? Oder ist der Videodienst eine durchkommerzialisierte Werbeplattform, deren Inhalte nur so vor Trivialität strotzen? Diese Fragen leiteten die vorliegende Untersuchung, die zum Ergebnis kommt, dass im Großen und Ganzen betrachtet beides gilt – allerdings mit einer deutlichen Tendenz zu letzterem. Dies wird besonders deutlich, wenn man diejenige YouTube-Angebote wissenschaftlich unter die Lupe nimmt, die von den Mediennutzern am meisten angesteuert werden. Die Autoren dieser Studie haben die 100 deutschen YouTube Kanäle mit den höchsten Abonnentenzahlen mit Hilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet. Ihr Ergebnis: Die große Mehrheit der Kanäle ist inhaltlich von anspruchsloser, oft sogar platter und stark emotionalisierter Unterhaltung geprägt und zudem von Produktwerbung durchzogen.
100 Kanäle – 96 mal Unterhaltung
Dieses Ergebnis steht im Einklang mit der Kernfunktion von YouTube: Entgegen zahlreicher Mythen, die sich hartnäckig bis heute halten, hat die Tochter des US-Digitalvermarkters Alphabet/Google von Anfang an (2006) nach Gewinnmaximierung gestrebt. Nach anfänglichen Konflikten über das Copyright für Videomaterial hat sich YouTube schnell auf die Seite der großen Medienkonzerne geschlagen – und damit gegen die Amateur-Produzenten gewendet, die zum Teil urheberrechtlich geschütztes Material für ihre Videos verarbeitet hatten. Durch den Schulterschluss mit den Medienkonzernen, die seitdem selbst ihren professionellen Content auf YouTube hochladen, sollte ein möglichst werbefreundliches Umfeld geschaffen werden. So hat YouTube schnell eine Monopolstellung bei Online-Videos erlangt – auch in Deutschland. In den vergangenen Jahren hat YouTube zwar zunehmend Konkurrenz von Streamingdiensten wie Netflix oder Amazon Prime Video erhalten, konnte seine starke Stellung bisher aber verteidigen, indem es u.a. eigene kostenpflichtige Angebote und eigene Produktionen eingeführt hat.
In Deutschland nutzen laut ARD/ZDF-OnlineStudie von 2018 zwei Drittel der 14 bis 29Jährigen täglich YouTube, bei Kindern dürfte der Anteil sogar noch höher liegen. Sie wollen sich damit in erster Linie zerstreuen. Die Auswertung der deutschen Top100-Kanäle ergab:
– über ein Drittel bietet Unterhaltung (Comedy, Streiche, Wettkämpfe, Video-Tagebücher)
– ein Viertel sind reine Musikkanäle
– 15% der Angebote sind primär durch Spiele (Gaming) geprägt
– knapp zehn Prozent der Videokanäle sind dem Bereich Beauty & Lifestyle zuzuordnen
– gerade einmal vier Kanäle beschäftigen sich im weiten Sinne mit Politik und Wissen.
Eine herausragende Stellung als Akteure nehmen dabei die so genannten Influencer ein. Diese digitalen Meinungsführer spielen in 56 der Top100-Kanäle die Hauptrolle, unter den Top 20 sind allein 15 Influencer vertreten. Influencer wollen und sollen auf ihr Publikum „authentisch“ wirken, in jedem Fall haben sie Einfluss auf die Identitätsbildung von Jugendlichen und vor allem Kindern. Häufig auf sehr einseitige Weise und – nimmt man die Bildungsansprüche der Aufklärung als Bewertungsgrundlage – meist nicht zum Guten. Während Umfragen zeigen, dass die ‚Jugend von heute‘ weltoffen, pragmatisch und bis zu einem gewissen Grade auch postmaterialistisch eingestellt ist, predigt die große Mehrheit der digitalen Meinungsführer einen ungezügelten Konsum und führt dem jungen Publikum tradierte Rollenbilder von Mann und Frau vor. Auffällig ist zudem die hohe Quote (43 %) von Influencern mit Migrationshintergrund bei den deutschen Top100-Kanälen – ein Hinweis darauf, dass migrantische Publizisten so einen leichteren Zugang zum Mediensystem als über die klassischen Medien finden. Insgesamt zeigt sich, dass die implizit gesellschaftspolitischen Botschaften tendenziell neoliberalen (Konsumismus) oder konservativen Charakter (tradierte Geschlechterrollen) haben.
Ein weiterer Befund der vorliegenden Studie: Unter den deutschen Top100-YouTube-Kanälen sind drei (The Voice Kids, Clips Mix, Surprise Joe) enthalten, die explizit Kinder adressieren. Darüber hinaus zielen zahlreiche Comedy- und Beauty-YouTuber (Die Lochis, Dagi Bee etc.) ganz offensichtlich auf ein sehr junges Publikum und prägen damit Vorlieben und Sehgewohnheiten. Zwei Aspekte erscheinen im Komplex ‚YouTube und Kinder‘ besonders problematisch: Erstens, aus entwicklungspsychologischer Sicht der Trend, bereits (kleinere) Kinder zu YouTube-Stars aufzubauen. Zweitens, der unzureichende Schutz der Kinder vor Werbung. Während in der klassischen Werbung gesetzliche Regelungen dazu dienen sollen, die Unerfahrenheit und Leichtgläubigkeit von Kindern nicht auszunutzen, werden diese Regelungen auf YouTube oft unterlaufen.
Die Vorherrschaft der Influencer
Influencer zeichnen sich in den Augen ihres Publikums vor allem durch ihre Themenkompetenz und durch ihre Glaubwürdigkeit aus. Dies haben auch Unternehmen erkannt und kooperieren deshalb mit den reichweitenstarken YouTubern, um so vor allem jüngere Zielgruppen erreichen zu können. Fast alle Top100-Kanäle sind Teil des ‚Partnerprogramms‘ von YouTube, das den Videos klassische Werbespots vorschaltet. Viele Influencer verkaufen über ihre Kanäle eigene Fanartikel (Merchandising), einige haben zudem eigene Produktlinien – von der Modekollektion bis zum Duschschaum. Manche Top-Influencer versuchen sich als Musiker und Schauspieler (z. B. Die Lochis), andere durchaus mit Erfolg als Schriftsteller (so der Gamer Paluten). Beauty-Influencerinnen treten als Moderatorinnen in Unternehmenskanälen auf.
Werbung überall
Die größte Durchschlagskraft versprechen sich werbungtreibende Unternehmen jedoch vom Influencer-Marketing, bei dem Influencer Werbebotschaften für Produkte in die Handlung ihrer Videos einbetten. Rund zwei Drittel der Top100-Kanäle arbeiten mit dieser hybriden Werbung und mit Produktplatzierungen. Psychologen sprechen bei diesen Formen unterschwelliger Werbung von „Below-the-Line“-Kommunikation, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle wirkt. Diese Praxis muss die gesetzlich vorgegebene scharfe Trennlinie zwischen unabhängig redaktionellen und kommerziell werblichen Content-Komponenten unweigerlich zunehmend aufweichen, wenn nicht gegengesteuert wird – zum Beispiel durch besonders deutliches Kennzeichnen von Werbung in YouTube-Videos. Zu diesem Zweck geben die zuständigen Aufsichtsbehörden, die Medienanstalten der Bundesländer, seit 2015 einen kompakten Leitfaden heraus. Die Medienanstalten behaupten zwar, dass sich seitdem die Zahl der Fälle von nichtgekennzeichneter Schleichwerbung verringert hätte. Doch eine für diese Studie durchgeführte Stichprobe von 30 Videos zu konsumnahen Themen (Luxusuhr, Schulranzen, Bluetooth-Lautsprecher, Fußballschuhe etc.) zeigte, dass neun der 30 Videos Werbung enthielten und nur eines davon angemessen gekennzeichnet war. Nimmt man nicht die bezahlte Kooperation mit einem Unternehmen zum Maßstab, sondern allein die verkaufsfördernde Absicht der Kommunikation, stieg die Zahl der werblichen Videos sogar auf 19.
Die Medienanstalten verfolgen bisher einen eher nachsichtigen Kurs, der auf die möglichst diskrete Ermahnung von schleichwerbenden Influencern setzt. Die Autoren halten diese ‚Regulierung light‘ indes für wenig effektiv und regen deshalb an, mit Hilfe von Präzedenzfällen für mehr Publizität und Abschreckung zu sorgen. Andernfalls könnten die Medienanstalten in den Verdacht geraten, vor allem als Schutzpatron der Influencer-Branche zu wirken.
Die ökonomische Maschinerie dahinter
Fest steht: Influencer sind in den vergangenen Jahren immer mehr zu Unternehmern geworden. Fest steht auch, dass sie in aller Regelnicht alleine agieren, sondern operative und strategische Unterstützung genießen. YouTube-Netzwerke und Agenturen bringen Unternehmen und ihre Marken mit dazu passenden Influencern zusammen, unterstützen die YouTuber bei der professionellen Produktion und Nachbereitung der Videos, helfen ihnen bei der konzeptionellen Weiterentwicklung und greifen ihnen vor allem bei der Erzielung von Reichweite und der Vermarktung der Videos und beworbenen Produkte unter die Arme.
Inzwischen tummeln sich zahlreiche Agenturen und Werbevermarkter im Influencer-Marketing, die größten Player sind jedoch schon seit 2011/2012 am Start. Dazu zählen das Urgestein Mediakraft Networks und Tube One des Werbekonzerns Ströer sowie Divimove der RTL-Gruppe und Studio71 der ProSieben-Sat1-Gruppe. Leitfaden-Interviews mit den Entscheidern dieser YouTube-Agenturen zeigten allerdings, dass die anfängliche Euphorie in der Branche verflogen ist und viele Agenturen rote Zahlen schreiben. Von dem für Deutschland auf rund 500 Millionen Euro geschätzten Markt des Influencer-Marketings (YouTube plus andere soziale Medien) profitieren somit vor allem die YouTuber selbst. Die Branche ist im Vergleich zu anderen Werbemärkten wie dem klassischen Fernsehen immer noch überschaubar, so dass eine fast schon kurios 9anmutende Situation entstanden ist: Kleines ökonomisches Gewicht – enorme gesellschaftliche Auswirkungen.
Dass Tochtergesellschaften von RTL und ProSieben/Sat1 auf YouTube und dem Influencer-Markt sehr aktiv sind, ist darauf zurückzuführen, dass das werbefinanzierte lineare Fernsehen sein jüngeres Publikum zunehmend an Webvideo und StreamingDienste verliert. Aber auch die öffentlich-rechtlichen Sender sind wegen des sehr hohen Altersdurchschnitts ihres Publikums alarmiert. Deshalb haben sie im Oktober 2016 das Online-Jugend-Angebot Funk ins Leben gerufen. Die derzeit rund 65 Funk-Kanäle auf YouTube haben meist informierenden Charakter mit unterhaltendem Einschlag. Die ‚Funker‘ erreichen im Durchschnitt ein Zehntel bis ein Viertel der Top100-Kanäle, deren Abonnentenzahlen zwischen einer und sechs Millionen liegen.
Öffentlich-rechtliche Gegenoffensive
Es sieht nicht so aus, als ob sie mit ihren Inhalten auf YouTube jemals ganz nach oben vordringen können. Dies wirft die Frage nach Alternativen auf. Im September 2018 hat der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, die großen Linien eines europäischen, von YouTube unabhängigen Online Videoprojekts aufgezeigt. Es bleiben zwar noch viele Aspekte offen, so z.B. die Finanzierung und die operative Qualitätskontrolle. Der Vorschlag weist aus Sicht der Autoren dennoch in die richtige Richtung, denn YouTube braucht aus ökonomischen wie kulturpolitischen Erwägungen dringend Konkurrenz.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme (der “Zusammenfassung”) aus der gleichnamigen Studie und mit freundlicher Genehmigung der Otto-Brenner-Stiftung, voller Wortlaut hier.
Letzte Kommentare