Warum die beleidigten Reaktionen der politischen Klasse und von uns Medienleuten auf den wütenden Meinungsbeitrag des YouTubers Rezo falsch waren

Jemand sagt seine Meinung im Internet. Das ist Alltag. Mehr als sieben Millionen Menschen interessieren sich dafür. Das ist erstaunlich. Infolgedessen befällt Schnappatmung weite Teile der politischen Klasse. Das wiederum könnte als überraschend gewertet werden, aber es war zu erwarten. Spätestens seit den hysterischen Reaktionen auf einige grundsätzliche Überlegungen des Juso-Vorsitzenden Kevin Kühnert. Leider.

Gerechtigkeitshalber muss gesagt werden, dass nicht nur die CDU wenig souverän auf die Kritik des Influencers Rezo an ihrer Politik reagiert hat, sondern auch viele Medien keine Scheu davor zeigten, sich zu blamieren. Dem 26-Jährigen wurde vorgeworfen, Untersuchungen zu benutzen, die seine Meinung stützten. Wenn das ein Beleg für mangelnde Seriosität sein soll, dann können wir unsere Kommentare und Analysen in den Müll werfen. Alle. Weil wir lieber Studien glauben, die uns bestätigen.

FAZ-Autorenteam bemüht um “Faktencheck”

Besonders gut hat mir ein Artikel in der FAZ gefallen, den die Zeitung als Faktencheck bezeichnet. Darin bemüht sich ein ganzes Autorenteam darum, unter anderem die These zu widerlegen, dass die Armen in Deutschland immer weniger Geld haben. Ihr Beweis: absolute Zahlen. Die sich beispielsweise mit der Frage befassen, wann die Armutsgefährdung beginnt. 2006 war der Betrag für eine vierköpfige Familie deutlich niedriger als heute. Hurra! Und die Inflationsrate? Wird gar nicht thematisiert. Seriös geht anders.

Bento, ein Ableger von Spiegel Online für Jüngere, fragte den Influencer, was er an dem Video verdient habe. Gar nichts, antwortete der. Weil er keine Werbung geschaltet habe. Und wenn er Geld damit verdient hätte – wäre das verwerflich? Wenn ich einen Text verfasse, dann verlange ich ein Honorar. Weil ich damit meinen Lebensunterhalt verdiene. Arbeiten die Kolleginnen und Kollegen von Bento umsonst?

Aber Rezo äußert ja nur seine Meinung. Das sei „kein Journalismus“, erklärte ein CDU-Politiker. Ist er sicher? Es gibt gute Gründe dafür, dass die Berufsbezeichnung in Deutschland nicht geschützt ist. Weil der Staat nämlich keinerlei Einfluss darauf nehmen soll und darf, wer sich als Journalistin oder als Journalist bezeichnen darf. Das hat übrigens etwas mit Pressefreiheit zu tun.

Bedeutet allerdings nicht, dass unser Berufsstand keinerlei handwerkliche Regeln kennt. Wäre es anders, gäbe es keine Volontariate und keine Schulen, die dieses Handwerk lehren. Profis, die das Video von Rezo anschauen, merken schnell, dass er nicht vom Fach ist. Er formuliert ungenau, er macht sich angreifbar. Na und? Das tun Leute am Stammtisch auch. Mehr als eine wütende Stammtisch-Tirade ist dieses Video ja auch nicht.

Inhaltlich würde ich die gern zerlegen. Es würde mir Spaß machen. Aber die hochnäsigen Reaktionen zwingen mich in eine Solidarität, die ich eigentlich gar nicht empfinde.

Wenn Amthor 30.000 Klicks bekommen hätte …

Es ist übrigens ziemlich billig, sich darüber lustig zu machen, dass der CDU-Jungstar Philipp Amthor ein Video produziert hat, das Rezo hätte vernichten sollen. Und das dann doch nicht veröffentlicht wurde. Wenn Amthor 30.000 Klicks bekommen hätte – es wäre ein Desaster gewesen. Vielleicht hat die Spitze der Union in den letzten Tagen gelernt, dass auch die Produktion eines erfolgreichen Beitrags auf YouTube einer gewissen Expertise bedarf.

Offenbar herrscht Friedhofsruhe in Deutschland. Wäre es anders, gäbe es inhaltlich bedeutende Diskussionen: Unvorstellbar, dass das wütende Video eines Einzelnen auf so viel Interesse stieße. Aber es stieß auf Interesse. Und wie reagiert die politische Klasse? Beleidigt. Das wird nicht helfen. Jedenfalls nicht der demokratischen Auseinandersetzung.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.

Über Bettina Gaus:

Bettina Gauss ( † ) war politische Korrespondentin der taz. Von 1996 bis 1999 leitete sie das Parlamentsbüro der Zeitung, vorher war sie sechs Jahre lang deren Korrespondentin für Ost-und Zentralafrika mit Sitz in Nairobi. Ihre Beiträge sind Übernahmen von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag.