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Die SPD und das unmenschliche-Lügen-Gesetz

Als Theodor W. Adorno 1948 “Die Dialektik der Aufklärung” veröffentlichte, ging es ihm um die scheinbar aufgeklärte Gesellschaft, die durch Werbung, Manipulation und Mißbrauch von Medienmacht trotz angeblicher freier Information ständig tiefer in ideologisch einseitige Wertungen gedrängt wird, die letztlich in einer Art Gegenaufklärung endet. Von oberflächlicher Werbung zu Manipulation geprägte Sprache täuscht über den wahren Sinn und Gehalt von Dingen und Sachverhalten hinweg – und seit einigen Monaten auch über den wahren Charakter von Gesetzen. Gesetze sollen sachlich sein und ihre Bezeichnung soll darüber aufklären, welches Recht sie schaffen, verändern oder abschaffen. Es ist nicht ihre Aufgabe, Reklame für sich selbst zu machen. Das “gute Kita Gesetz” war die erste Sünde gegen die Aufklärung, deren Titel ausschließlich dazu dienen sollte, die Regierung im guten Licht dastehen zu lassen und die Opposition dagegen zu diffamieren. Das ist einer Demokratie unwürdig, dieser Verstoß gegen gute Sitten, Aufklärung und Fairness ist eine Schande für die beteiligten Sozialdemokraten und ein Verrat an ihren Wurzeln, die in der Aufklärung liegen. Sie haben wesentlichen Anteil am Identitäts- und Glaubwürdigkeitsverlust der SPD.

Die SPD vergeht sich an der Aufklärung und damit an sich selbst

Denn Sozialdemokraten sind aufgeklärte Menschen, die SPD baut seit 150 Jahren auf das kritische Bewusstsein ihrer Mitglieder und WählerInnen – an einem ideologischen Mummenschanz wie dem “geordneten Rückkehr Gesetz” mitzuwirken ist der Verrat jeder intellektuellen Substanz, ein unglaublicher Schritt der Verblödung der eigenen WählerInnenschaft und eine skandalöse Verschleierung einer Beteiligung der SPD an einen gesetzgeberischen Machwerk, dessen Einzelheiten ein gesammelter Angriff auf die rechtstaatlichen Garantien des Grundgesetzes darstellen – und das genau zwei Wochen und einen Tag nach dessen 70-jährigen Jubiläum. Dieser sozialdemokratische Affront gegen Grundrechte und Demokratie hätte sowohl Vätern und Müttern des Grundgesetzes wie Carlo Schmid und Elisabeth Selbert, aber auch Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel, Hertha Däubler-Gmelin oder Ex-Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhardt die Schamesröte ins Gesicht getrieben.

Die sogenannte “geordnete Rückkehr” des benannten Gesetzes besteht z.B. vor allem darin, Verwaltungsbehörden ohne Prüfung der Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit die Möglichkeit zu geben, gegen Ausreisepflichtige Abschiebehaft zu verhängen. Besonders erschwerend tritt hinzu, dass diese Haft auch in “normalen” Haftanstalten gegen Männer, Frauen und Kinder verhängt werden kann, ohne dass sie sich ernsthaft wehren können. Diese Norm ist nicht nur nicht verhältnismäßig, sie ist ein Affront gegen die Rechtstaatlichkeit. Seit Jahren beweisen zahlreiche Ausländerbehörden, indem sie z.B. gut integrierte, in Arbeit befindliche Flüchtlinge, die von ihren Unternehmen dringend gebraucht werden, z.T. sogar in Krisengebiete wie Afghanistan abschieben, dass sie bereit sind, im Sinne des Populismus die Menschenrechte mit Füßen zu treten.

Etikettenschwindel als sozialdemokratisches Markenzeichen

Nicht ohne Grund haben sich etwa in Baden-Württemberg Unternehmer wie Trigema-Chef Grupp und viele andere Mittelständler an die Politik gewandt, mit derartigem Unsinn aufzuhören. Eine in diesem furchtbaren Gesetz vorhandene Norm, die die Abschiebezeitpunkte geheim hält und Menschen unter Strafe stellt, die diese mitteilen, trägt die Züge eines Unrechtsstaates, der sein unrechtmäßiges Handeln durch Sanktionierung der Öffentlichkeit vertuschen will. Die Koalition tut so, als ob es “nur” darum ginge, widerborstige “Abschüblinge” vom Kaliber Anis Amri außer Landes zu schaffen. Dass diese jedes Rechtsmittel hindern sollende Norm letztlich den Rechtsweg auch für Familien verkürzt, die unter Umständen auseinandergerissen werden oder im Einzelfall auch Jugendliche und Kinder oder einen Elternteil treffen kann, die im Gegensatz zur Restfamilie keinen Schutzstatus genießen, wird böswillig unterschlagen. Wer die Rede des sozialdemokratischen Abgeordneten, der hier nicht genannt werden soll, beobachtet hat, wie er mit unendlichem Zynismus diese Norm gerechtfertigt hat, den wundert das Abschneiden der SPD bei der Europawahl nicht mehr. Mit Rechtstaatlichkeit i.S. des Grundgesetzes hat das alles nichts mehr zu tun. Dass so etwas im 70. Jahr unserer Verfassung dank SPD-Mittäterschaft möglich ist, muss alle Demokraten alarmieren.

Wer nicht an der eigenen Identitätsfeststellung mitwirkt soll sanktioniert werden – noch ein Gesetzeselement und in Wirklichkeit ein Einfallstor für Behördenwillkür. An dieser Stelle sei Dr. Burkhard Hirsch aus seinem Artikel in “100 Jahre Jungdemokraten” zitiert, wo er beschreibt, wie er 1949 aus der DDR flüchtete: Er wurde von den russischen Besatzern in seiner Heimatstadt politisch verfolgt, fuhr also nach Berlin und versuchte den Beamten in Berlin (West) davon zu überzeugen, ihm einen Flug nach Hannover oder Frankfurt zu finanzieren.  Der Beamte fragte Hirsch, ob er denn einen Beweis vorlegen könne, dass die Russen hinter ihm her wären: Hirsch antwortete, “er habe leider versäumt, seine Verfolger um eine entsprechende Bescheinigung zu bitten”. …um anschließend nach seinen Worten “eine längere Wanderung durch den Harz in den Westen” zu unternehmen. Ähnlich wird es Asylbewerbern gehen, die politischen Häschern wie den Herren Assad, Assisi, Erdogan oder Prinz Salman von Saudi-Arabien sowie den iranischen Mullahs entkommen. Sie sollen also in die Konsulate ihrer Verfolgerländer gehen und an der Identitätsfeststellung oder auch nur der Besorgung von Papieren mithelfen? Dieses Gesetz ist absurd, es ist jenseits jeder Fluchtbiografie, es ist unmenschlich und rassistisch und letztlich nichts anderes, als ein Kotau vor der AfD. Und es ist mit sozialdemokratischen Stimmen beschlossen worden. Dafür sind 12% in Umfragen noch ein gnädiges Ergebnis. Der Absturz der SPD ist hausgemacht, wohlverdient und solide begründet.

Sie hat sich selbst enthauptet. Dass sogenannte “Parteilinke” wie Ralf Stegner angesichts dieses moralischen und politischen Desasters der Sozis noch dazu versteigen, den Grünen und Linken für mögliche Bündnisse “Bedingungen” stellen zu wollen, zeigt, wie tief gestört die Eigenwahrnehmung der einstigen Arbeiter-, Aufklärungs- und Demokratiepartei inzwischen ist. Die SPD wird sich im Bund wie in Baden-Württemberg an die Juniorpartnerrolle in Koalitionen mit den Grünen erst noch gewöhnen müssen. Dann hat sie vielleicht noch eine Chance, zu überleben. Ob sich die Situation bis 2021 durch “Aussitzen” und “Weitermachen” für Scholz und Co. verbessert, darf bezweifelt werden.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net

6 Kommentare

  1. Michel

    … und der Verrat begann mit Schröder und Münte!

  2. Reiner Löffel

    ….. zu mir zu einfach und zu durchschaubar, alles auf SPD abzuladen.
    Erinnert mich an den Rudi-Carell-Song: “….. Schuld ist nur die SPD” !

  3. Reinhard Kaiser

    Ja.

  4. rudolf schwinn

    Der Rekurs auf Adorno erinnert daran, dass die Aufklärung Vernunft und Humanität im Handeln gebietet. Wer sich davon – in der Annahme, mehrheitsfähig zu werden – willentlich entfernt und Populisten andient, befördert damit die schubweise Vernichtung der Menschenrechte.
    Der von gerechtem Zorn gezeichnete Text von Roland Appel sollte Sozialdemokraten anregen, sich aus der Erinnerung an ihre Wurzeln dem von der Grossen Koalition herbei geführten Anpassungsdruck lebhaft zu widersetzen.
    rudolf schwinn, Bonn-Castell.

    Lieber Martin, Respekt vor dem Verfasser und Dir als Redakteur.
    Herzlich,
    rudolf.

    Herzliche Leser-Grüsse,
    rudolf

  5. Reiner

    Lieber Rudolf,
    das bestreitet niemand.
    Wäre nur schön, wenn sich alle an Deine Worte halten würden.
    Mir wäre auch lieber gewesen, wenn sich die SPD dem allgemeinen äußeren und inneren Druck widersetzt – und sich nicht schon wieder in die Rolle des Prügelknaben der GroKo begeben hätte!
    Sie wäre möglicherweise heute, als stärkste Kraft in der Opposition, in der Rolle der Grünen.
    LG Reiner

  6. Hanspeter Knirsch

    Sehr schön, lieber Roland. Die Verantwortung der Parlamente ist größer denn je und billige Propaganda in Gesetzesüberschriften leistet den Feinden der Demokratie Vorschub. Das gilt auch für die Qualität von Gesetzen. Sie sollten verfassungskonform und gesetzestechnisch gut sein. Ein besonderes übles Kapitel ist die Gesetzgebung der CDU/FDP Regierung in NRW mit Herrn Laschet an der Spitze. Deren Gesetze sind so offensichtlich von parteipolitischen Interessen geprägt, dass es geradezu peinlich ist. Nur ein Beispiel: Im Januar sind Neuregelungen zum kommunalen Haushaltsrecht in Kraft getreten, die so konfus sind, das jetzt eine Kommission tagt, um die Fehler optisch zu korrigieren. Selbstverständlich tagt diese Kommission geheim und die Ministerin hat sich das letzte Wort vorbehalten. So stärkt man das Vertrauen in die Demokratie und die Parlamente! Die Abschaffung der Stichwahl bei den Oberbürgermeisterwahlen dürfte der CDU nach dem Ergebnis der Europawahlen noch leid tun.
    Die Liste der Beispiele ließe sich noch lange fortsetzen. Das Gute Kita-Gesetz und das Geordnete Rückkehr Gesetz sind nur die augenfällige Spitzen eines zum Himmel stinkenden Eisbergs.

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