Zugegeben, ich bin inzwischen ein paar Tage älter, als manche Verfassungs”schützer”- ebenso wie Seehofer und alle anderen Innenminister – und kann mich noch an den “deutschen Herbst” erinnern. Die RAF hatte einige “Repräsentanten des Staates” wie sie es nannte, entführt und ermordet. Das Ergebnis war, dass ich als Student und Landesvorsitzender der Jungdemokraten etwa dreimal pro Woche auf der B 27 zwischen Tübingen und Stuttgart in die Mündung von mindestens einer “UZI”, damalige Maschinenpistole der Polizei, schauen durfte, ständig wurden Studenten-WGs der mutmaßlichen “Sympathisantenszene” durchsucht, zum Teil unbeteiligte Menschen verhaftet, wie die Frankfurter Studentin Eleonore Pönsgen, die nach dem Mord an Jürgen Ponto unschuldig eingesperrt wurde.

Der Staat griff zu – auch mal die Falschen

Damals kursierte der makabre Witz: Was ist Todesmut? – Auf der Königstrasse in Stuttgart eine Aktentasche abstellen und schnell weglaufen! – Die Anlassgeber staatlichen Belagerungszustandes, umfangreicher Antiterrorgesetze und einer umfassenden Überwachung war eine kleine Gruppe von etwa 25 Personen.  Auch wenn es ein paar hundert UnterstützerInnen in den Gruppen gegeben hat, die die Gefangenen betreuten sowie im familiären Umfeld – der Staat rief gegen eine winzige Minderheit den Notstand aus und war bereit, verfassungmäßige Freiheiten einzuschränken, durch Kontaktsperregesetz, Rasterfahndung, illegale Lauschangriffe wie die “Traube” Affäre und vieles andere mehr. In jeder öffentlichen Einrichtung vom Gericht bis zum Sozialamt hingen damals Fahndungsplakate mit den Köpfen der mutmaßlichen “Rädelsführer”, wie z.B. Susanne Albrecht, Adelheid Schulz, Christian Klar oder viele andere. Makaber wurden die gefassten Terroristen von beamteten Zeitgenossen ausgeiXt oder durchgestrichen. Alles in allem tat die Staatsgewalt und vor allem die “Sicherheitsbehörden” alles, um Tag und Nacht auf die Gefährlichkeit der Splittergruppe hinzuweisen und nicht wenige forderten, ihretwegen den Staatsnotstand auszurufen. Dabei hat diese Splittergruppe niemals die Demokratie auch nur in Ansätzen gefährden können.

Es dauerte viele Jahre, um die Unverhältnismäßigkeit staatlichen Handelns im öffentlichen Diskurs auch nur in Ansätzen begreifbar zu machen. Mitte der achtziger Jahre war der Spuk der RAF vorbei, die überzogenen, Freiheitsrechte einschränkenden  Gesetze wurden nicht etwa zurück genommen. Heute ist es der “Islamische Terrorismus”, der nun die Spirale der immer neuen “Antiterrorgesetze” befeuert, der Vorratsdatenspeicherung, anlasslose Polizeikontollen, KfZ-Kennzeichenauswertung und Staatstrojaner in Handys und auf Computern zu legalisieren möglich macht. All diese angeblich “unverzichtbaren Mittel” stehen den Sicherheitsbehörden heute zur Verfügung. Aber sie werden nicht angewendet – jedenfalls nicht gegen die größte Gefahr für die Demokratie und ein friedliches Zusammenleben seit jahrzehnten – dem rechten Terrorismus und seinem Sumpf der Hetzer, Mitläufer, Symphatisanten und Spender.

Eine Handvoll Durchgeknallter provoziert Überreaktionen

Die RAF hat Menschen getötet und jeder war ein Mensch zuviel, für ihre Taten wurden sie konsequent polizeilich verfolgt und von der Justiz bestraft. Aber sie spielten immer eine Sonderrrolle, man tat, als ob 25 Terroristen den demokratischen Rechtstaat aus den Angeln heben könnten. Ob existent oder nicht, der “Sympathisantensumpf” mußte “ausgetrocknet” werden, auf rechtstaatliche Verfahren pochende Liberale wie der Stuttgarter Intendant Claus Peymann oder gar Bundesinnenminister Baum, der es wagte, mit Ex-Terroristen über die Ursachen zu diskutieren, wurden geächtet, von Kollegen ausgegrenzt. Überhaupt wurde das gesamte politische Umfeld sowie die Angehörigen ausgegrenzt, zum Teil permanent überwacht. Selbst solche, die sich von der Gewalt mit linksradikalen Argumenten distanzierten, wie die Autoren des “Mescalero”-Artikels, auch “Buback-Nachruf” genannt, wurden verfolgt.

Rechter Terror dagegen wird ignoriert, vertuscht, bagatellisert

Was aber geschieht heute stattdessen mit rechtem Terror und seinen Sympathisanten? Bis heute ist der rechte Anschlag auf das Oktoberfest von 1980, mit 12 Toten und 213 Verletzten der größte und brutalste terroristische Anschlag der Geschichte der Bundesrepublik. Er wurde nie wirklich aufgeklärt. Das setzt sich bis heute fort. Wo bleibt die konsequente Verfolgung von Verbrechern, Terroristen und geistigen Anstiftern, die eine ernste Gefahr für die demokratische Zivilgesellschaft zu werden drohen? Wie ist es möglich, dass der NSU-Terror auf eine Dreiergruppe reduziert wird, obwohl es eine offensichtliche Unterstützerszene in NRW, Hessen und Sachsen gibt, die nach wie vor Gewalttaten plant und begeht? Dass Ermittlungsergebnisse verschwanden, zweifelhafte Vorgänge wie die Nähe von Verfassungschützern zur NSU wie in Hessen mittels einer absurden 120-jährigen Aktensperre vertuscht werden. Und das unter einer Grünen Mitregierung! In den letzten Jahrzehnten fanden laut der Amadeu-Antonio-Stiftung (Amadeu Antonio wurde 1992 von Neonazis in Ostdeutschland ermordet) 197 Morde mit rechtsextremem Hintergrund statt. Rechtsextremisten morden weltweit – Anders Breivig richtete ein Massaker an, in USA mordete ein Faschist mit seinem Auto auf offener Straße, in Neuseeland mordete ein Rechtsextremist in einer Moschee und in Deutschland fallen immer mehr Schüsse von rechten Ungeistanhängern.

Vom Mordanschlag auf die Kölner Oberbürgermeisterin, auf andere Kommunalpolitiker bis zur Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten: Wie ist es möglich, dass hunderte von Neonazis Tage später eine “Demonstration” in Kassel abhalten, aber die geistigen Brandstifter und Drahtzieher mit offensichtlich gewaltbereitem oder Gewalt provozierendem Potenzial werden nicht behelligt? Was ist das für ein Signal an die “Szene”, die rassistische Konzerte abhält, bei denen hundertfach der Hitlergruß gezeigt wird, rassistische, volksverhetzende und zu rechtsextremistischen Straftaten  anstachelnde Texte zum Vortrag kommen, wenn eine politische Selbstbestätigung dadurch stattfindet, dass die Staatsmacht all dies duldet, (gerade mal den Bierkonsum einschränkt)?

Rechter Terror und seine Sympathisanten in Watte gepackt

Was ist das für ein Zeichen an die Randalierer, wenn ein Sumpf rechtsextremer Internetportale, die  inzwischen zehntausendfache Anhänger zählen, die den geistigen Kern des Rechtsterrorismus schüren und weiter anfeuern, samt seinem Unterstützersumpf von den Sicherheitsbehörden und der Politik als quasi nicht existent behandelt werden? Nicht auszudenken, es hätte  1980 Rockkonzerte von RAF-Anhängerbands gegeben, zu denen bundesweit Sympathisanten angereist wären, auf denen Bilder, Symbole gezeigt, auf T-Shirts getragen, Demonstrationen, auf denen schwarze Fahnen mit dem Stern und Parolen der RAF gezeigt und bei Durchsuchungen Listen gefunden worden wären, auf denen hunderte von Politikern und Unternehmern gestanden hätten, die man “zur Rechenschaft ziehen” wolle.

Gegenüber dem Naziterror, der genau dies alles macht, passiert als Reaktion des demokratischen Rechtstaates – nichts. Außer dass man bei unterschiedlichen Landeskriminalämtern überlegt, ob man denn nun die Betroffenen solcher Terrorlisten benachrichtigt oder lieber nicht. Der Chefredakteur von “Monitor” bekam eine Morddrohung, nur weil er die Tatsache aussprach, dass die AfD ständig mit Rechtsextremisten wie den “Identitären” zusammenarbeitet und vorschlug, dass diese deshalb auch vom Verfassungsschutz beobachtet werden sollte. Zahlreiche demokratische Kommunalpolitiker*innen stehen auf “Todeslisten” der Rechtsextremisten. Seit Jahren gibt es im Osten “befreite Zonen” in denen der rechte Mob bestimmt, was Recht und Unrecht ist, auch in Dortmund gibt es einen Stadtteil, in dem rechter Terror Anwohner, Journalisten, sogar die Polizei bedroht – ein konsequenter und koordinierter Einsatz von Kommune, Staatsanwaltschaft, Sozialbehörden und Polizei steht aus. Dort wie im Osten.

Ist ein Zufall, dass nach dem Erstarken der AfD als parlamentarischem Arm des Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland, die sich als Speerspitze der Verharmlosung und gleichzeitig als Wegbereiter und Entkriminalisierer der Denk- und Wertekategorien des rechtsextremen Terrors betätigt, rechter Terrorismus und sein Rekrutierungspotenzial mit Samthandschuhen angefasst wird? Wieso sind bis heute die Straftäter, die auf einer “PEGIDA-Demonstration” 2015 Galgen mit Angela Merkel und Sigmar Gabriel stundenlang herumtrugen, öffentlich zum Mord aufriefen, bis heute weder ermittelt, noch strafrechtlich verfolgt, obwohl jede Menge Filmmaterial der Medien vorliegt, das nur ausgewertet werden müsste?

Mitverantwortung des Flüchtlings-Katastrophenjournalismus

Woher kommt die Beißhemmung gerade jener “Journalisten” wie Frank Plasberg, Sandra Maischberger, der “Bild” Zeitung und vieler anderer, die auf der Höhe der Flüchtlingswelle keine Scheu hatten, den rechten Parolen aus Sensationslust und Lust am Tabubruch gegenüber den “Gutmenschen” zweifelhafte Öffentlichkeit zu verschaffen, nun einen Schritt zurück zu treten und zu erkennen, was da gerade in unserem Land stattfindet? Wie rechter Terrorismus bagatellisiert wird, sich die Brandstifter weiter verbreiten? Allen voran das sich selbst demokratisch bemäntelnde Unschuldslamm Meuthen, der immer wieder relativierende Phrasen findet, wenn AfD-Abgeordnete oder -Funktionäre völkische oder andere nationalsozialistische Begrifflichkeiten verwenden oder Taten von Rechtsextremisten verharmlosen? Wissen diese Leute eigentlich, was inzwischen Alltag ist, dass Rechtsextremismusforscher oder Antirassisten, selbst Bürgerrechtler*innen, die in Veranstaltungen für eine offene Gesellschaft werben, nirgendwo ihre Adresse angeben können, weil sie ständig bedroht werden, zwangsweise Postfächer haben, weil ihre Briefkästen zerstört werden? Es ist nicht 1932, wir haben 2019 – allein in meinem Bekanntenkreis trifft das für mindestens fünf Personen zu!

Erkenntnis- und Handlungslücke oder Verstrickung?

Sind die demokratischen Institutionen, insbesondere die Presse nicht mehr fähig, zu erkennen, wenn die Gefahr von Seiten der AfD Ausmaße annimmt, die die Auswüchse und Hochzeiten der NPD, der “Republikaner” und der DVU bei Weitem übertrifft? Haben sich die klassischen Medien vom Geheule der Rechtsextremisten, sie würden benachteiligt und verkannt, so beeindrucken lassen, dass sie nicht mehr sehen, was unter aller Augen offensichtlich ist – die Ausdehnung eines braunen Sumpfs, der alle gesellschaftlichen Bereiche erfasst – sogar Betriebsräte von Großkonzernen?  Wann lernen Journalist*innen, dass “Lügenpresse”-Parolen nicht durch Nachgeben und Kuschen aufhören, sondern ein Anschlag auf die Pressefreihit sind, dem von Anfang an mit allen Mitteln begegnet werden muss?

Am 20 Juli 2019 wurde viel von Widerstand gegen die Nazis und der Verantwortung für die Demokratie gesprochen. Wir reden aus Anlass des Warschauer Aufstands gegen die Nazis von der Verpflichtung gegenüber der Geschichte, wir reden angesichts der Verfolgung der Roma in KZs von der Verpflichtung und der Verantwortung.  Aber was passiert konkret hier und heute gegen rechte Hetze, Gewalt und Nazi-Terror? Ist es nur eine Erkenntnislücke, die durch die tägliche Routine und klein-klein-Arbeit die politisch Verantwortlichen und die zuständigen Ermittlungsbehörden nicht erkennen lässt, wie gravierend und gefährlich die rechte Gewalt und der Naziterror sind, wie tief sich diese Gruppen und ihre Subkulturen bereits in die Gesellschaft hinein gefressen haben?

Rechter Terror Ergebnis von Vorurteilen aus der Mitte der Gesellschaft

Oder ist es vielmehr die Verankerung des Rassismus, der aus der Mitte der Gesellschaft Zustimmung und Nahrung bekommt? Wenn Schalke-Vorstandmitglied Tönnies rassistische Entgleisungen über Afrikaner verbreitet, wenn schon vor Jahren Roland Koch (CDU) Unterschriften gegen doppelte Staatsbürgerschaft sammelte, wenn Horst Seehofer die humanitäre Flüchtlingspolitik der Kanzlerin aus Profilierungsgründen diskreditierte? Wenn Donald Trump immer wieder demokratische Senator*innen mit Migrationshintergrund rassistisch attackiert und diffamiert? Und rassistisch hetzt, um sich zwei Tage später nach einem Anschlag heuchlerisch gegen jeden Rassismus zu wenden? Für wie dumm hält dieser Rassist im Präsidentenamt die Menschen?

Die geistigen Brandstifter des Neonazismus, des Rassismus und des rechten Terrorismus kommen aus der Mitte der Gesellschaft – das macht sie gefährlich! Aber sie sind nur so stark wie die Zustimmung, die sie aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft erfahren. Das zeigt den Weg aus dem Dilemma: Was hier beschrieben wird, ist nicht denkbar ohne eine heimliche Komplizenschaft, Duldung rechtsextremer Ideologie und des rechten Terrors aus der bürgerlichen Mitte der Gesellschaft heraus. 1994, bei der Kampagne von Rechtsextremisten und rechtem Mob sowie Brandanschlägen gegen das Asylrecht in Rostock, Solingen und Hünxe, die letztlich Menschenleben forderte, gelang es, die bürgerliche Mitte einzufangen und zivilisatorische Standards der Mehrheitsgesellschaft gegen besoffene Junggesellenhorden, Schwarz-weiss-rot-reichskriegsbeflaggte Schlägertrupps und professionelle Rechtsextremisten durchzusetzen. Es gilt, den Wankelmütigen und Beeinflussbaren, den Mitläufern der “man wird doch wohl noch sagen dürfen”-Kampagnen klar zu machen, wo die rote Linie verläuft, hinter der der demokratische Rechtsstaat des Grundgesetzes handelt, hinter der der Spaß aufhört und Menschenverachtung und Verfassungsfeindschaft beginnen. Das setzt aber voraus, dass Polizei, Verfassungschutz und die Zivilgesellschaft konsequent und so früh wie möglich handeln. Aber davon ist derzeit nichts zu sehen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net