Ein ganz normaler Freitag
Ich wusste ja vorher, dass es ein Abenteuer wird. Dennoch kann die Bahn mich immer noch überraschen. Gegen 15 h traf ich am Hbf. von Bonn ein. Verspätungen wurden für das komplette Angebot angezeigt. Der RE5 nach Oberhausen meldete 30 Min., der IC nach Emden über Oberhausen nur 15 Min. Da fiel die Wahl nicht schwer. In Essen-Altenessen sollte er jedoch nicht halten. Die Strecke Duisburg-Essen Hbf. wird wg. Bauarbeiten in den Sommerferien komplett nicht bedient, die vermutlich meistbefahrene Strecke bundesweit mit entsprechendem Verschleiss. Das Ruhrgebiet ist Deutschlands grösste Stadt, es weiss es nur nicht. Durch die Teilung seiner politischen Macht wurde und wird es von niemandem ernstgenommen, und hat sich selbst an seine Underperformance gewöhnt.
Einst nach Moskau und Athen, heute: ICs nur gucken – nicht einsteigen!
So kann es geschehen, dass Essen, das mit der grossen Zahl der dort ansässigen “Dax-Konzerne” prahlt, sechs Wochen lang vom Fernverkehr durchfahren, und dennoch abgeschnitten wird. Von seinem Bhf. Altenessen konnte man noch zu meinen Lebzeiten nach Kopenhagen, Stockholm, Moskau, Athen und Palermo fahren. Heute ist das Bahnhofsgebäude niedergelegt, der Bahnsteig nur durch eine Angstraumunterführung zu erreichen. Zu einer Bahnsteiganzeige hat es nicht mehr gereicht, zu leibhaftigem Personal sowieso nicht. Vermutlich haben Kommunalpolitiker*innen der Stadt mit der Deutschen Bahn seit 50 Jahren kein Wort mehr gewechselt, und schon gar nicht irgendwelchen Einfluss auf Bundesverkehrspolitik ausgeübt. Die Ruhrgebiets-SPD war so ausgelastet mit der aussichtslosen Verteidigung alter Industrien, dass es für Gedanken über moderne Verkehrssysteme seit dem Krieg nicht mehr gereicht hat.
Der Bahnsteig in Altenessen ist immer noch so lang wie früher, ein über 10 m langes Stück sieht sogar wie frisch gemacht und noch nie betreten aus, aber die Bahn konstruiert dennoch irgendwelche Ausreden, warum ICs dort durchfahren statt anhalten müssen. Um mein Ziel im Norden von Essen zu erreichen, musste ich also in Oberhausen umsteigen, um in Altenessen die aussergewöhnlich tief vergrabene U-Bahn zu erreichen. Die endet jedoch ebenfalls wg. Bauarbeiten bereits dort, wo sie das Tageslicht erblickt. Für das letzte Stück war ein Umstieg auf “Schienenersatzverkehr” erforderlich. Ein Gelenkbus erwartete die Fahrgäste nach Karnap und Gelsenkirchen-Horst. Ich war im Pulk relativ weit vorne. Als ich mich umdrehte, dachte ich: oweh, wie sollen die alle da reinpassen?
“Sind hier Engländer dabei?” und “Altenessener Solidarität”
In der U-Bahn witzelten zwei Männer bereits über die englische Durchsage, dass der Zug hier ende: “Sind hier Engländer dabei?”, worauf der Andere antwortete: “Auf jeden Fall ist diese Bahn aus England.” Die Essener Verkehrs-AG (EVAG, Essener sprechen das “Efack”, oder, für Engländer: “A-fuck”) hatte zahlreiche Gebrauchtfahrzeuge der Londoner U-Bahn erworben. Die meiste Zeit stehen sie allerdings in der Werkstatt.
Im vollgepackten Bus kam es nun zu folgender Szene. Aufgrund seiner starken Personenlast war die Schrägneigung zugunsten von Kinderwagen und Rollstühlen vor der Abfahrt nicht aufzuheben. Der Fahrer bat “die Hälfte der Fahrgäste” nochmal auszusteigen, weil nur dann die Mechanik zur Abfahrtbereitschaft funktioniere. Es dauerte natürlich ein paar Minuten, bis die Fahrgäste Klarheit für sich gewannen, wer nun zu welcher Hälfte gehöre. Das Manöver gelang, der Bus erreichte seine Aufrechtstellung, die ausgestiegene Hälfte trat wieder ein. Die Fahrt begann. Bemerkenswert: die aggressionsfreie Gelassenheit der Fahrgäste: sie bedauerten den Fahrer dafür, dass er zu diesem Manöver nun an jeder Haltestelle gezwungen werde. Ein älteres Ehepaar stand an der Tür. Es hatte sich freundlich für die “Altenessener Solidarität” bedankt, die sich in zahlreichen Sitzplatzangeboten ausdrückte: “Wir steigen die Nächste aus.”
Altenessen müssen Unkundige wissen, wurde in den letzten Jahren von Journalist*inn*en, die es vermutlich noch nie gesehen haben, beständig und schlagzeilengeil als “No-Go-Area” diffamiert. Das scheint seine Bewohner*innen zusammengebracht zu haben. Leider war der Busfahrer, vermutlich von einem privaten Monopolisten nur an die EVAG ausgeliehen, auch nicht ortskundig. Er fuhr nämlich an der Folgehaltestelle durch, weil niemand “den Knopf gedrückt” habe. Ich frozzelte zu dem Ehepaar “am besten während der Fahrt abspringen”. Der Bus überquerte Emscher und Rhein-Herne-Kanal. Auf der Brücke waren die stillliegenden Gleisarbeiten zu sehen und an der nächsten Haltestelle der Bus für die Gegenrichtung. Da hätte es nun nahegelegen, auf das zuvor am Ausstieg gehinderte Ehepaar zu warten, damit es wieder zurückfindet. Doch das Naheliegende lag schon zu fern. Zu “meiner Schulzeit” in den 60ern, frozzelte ich erneut, “hatten die Busfahrer sowas Altmodisches wie Sprechfunk”, über den sie sich verständigten. Manches war also früher tatsächlich besser.
Bilanz meiner Hinfahrt: Start: 15 h, Ankunft: kurz vor 18 h. 3 Stunden für 110 km. Ist das ein “Industrieland”? Oder wie sollen wir das nennen?
Wenigsten einen RE “pünktlich” durchbringen
Zur Rückfahrt wurde ich zum Bhf. Altenessen gebracht. Dort war der RE1 versprochen, der meistfrequentierte Zug NRWs. Er sollte mich umsteigefrei bis Köln bringen. Zuvor brauste noch ein verspäteter IC aus Gelsenkirchen durch, der sich mit einer rabiaten Hupe Respekt auf dem Bahnsteig verschaffte. Der RE1 traf dann mit 15 Min. Verspätung ein. Ich glaubte, das reicht, um in Köln den RE5 nach Bonn zu erreichen, der im Fahrplan auf der Rheinstrecke 20 Min. hinter dem RE1 verkehrt. Zwischen Oberhausen und Duisburg mussten wir jedoch erneut auf freier Strecke warten, weil der IC in Oberhausen zu lange aufgehalten wurde, und erneut überholen musste. Hinter Duisburg, kurz vor Düsseldorf-Flughafen kamen wir erneut zum Stehen. Und wer überholte uns? Der RE5! Das kannte ich noch nicht: ein gleich”wertiger” RE überholt einen verspäteten RE vor ihm. Was könnten die Motive der in einem Computerraum fern der Strecke regierenden Disponenten sein? Der eine RE könnte als “pünktlich” in die Planwirtschaft der DB eingehen, während der andere, meiner, sowieso nicht mehr zu retten war. Der RE5 muss ausserdem hinter Köln auf die enge Rheinstrecke einfädeln, die sowieso mit zu geringer Gleiskapazität verkehrsüberlastet ist. Wenn er das verspätet tut, zieht das eine riesige Kettenreaktion bis hinein in den Güterverkehr nach sich.
Wie ist es wohl “auf dem Land”?
Kurz: den habe ich verpasst. In Köln gestrandet grübelte ich nun, ob ich lieber Bonn Hbf. oder Beuel anfahren soll. Verspätung hatte alles, ausser Beuel (und ausser dem RE5, der war weg). Dann kam der National Express nach Mehlem mit 15 Min.; eine Überholung durch den folgenden IC drohte nicht, der hatte noch 10 Min. mehr.
Von Essen-Altenessen bis Beuel waren es am Ende erneut ziemlich genau 3 Stunden. Wie es wohl “auf dem Land” ist?
Bin froh, dass Du heil zurück bist. habe ja versprochen vor 12 zu schauen. Sag doch noch was die „normale“ Fahrzeit ist….Großartiger Text!
Eine umsteigefreie IC-Fahrt von Bonn nach Essen dauert planmässig, ohne Baustellenbetrieb, 1 St. 11 Min; hinzuzurechnen wären 20 Min. für die U-Bahn in Essen, und 10 Min. für die Fahrradfahrt von Beuel zum Hbf., also zusammengerechnet “von Tür zu Tür” 1:45. Das wäre der Idealfall mit den heute aktuellen Verkehrsangeboten. Meine These: an einem Werktag mit dem Auto, den Kölner Ring als Teil des Weges, die Baustelle Ruhrtalbrücke – das würde selbst Roland Appel kaum unterbieten können. Man nennt es Infrastruktur.
Das ist die multible Krise des öffentlichen Verkehrs in Deutschland. Seit Jahrzehnten unterfinanziert, gepaart mit Fachkräftemangel und fehlender politischer Unterstützung. Das kann ins Desaster führen!