von Diego Ballestero
Reflexionen zu Museen, Dekolonisierung und Interkulturalität

Noch vor wenigen Jahrzehnten waren ethnologische Museen Orte, wo Ideologie und Praxis des Kolonialismus und Neokolonialismus kaum oder gar nicht hinterfragt wurden. Die Darstellung von indigenen, als „fremd“ markierten Gesellschaften (teilweise noch bis in die sechziger oder gar siebziger Jahre als „Wilde“ bezeichnet) basierte auf den Perspektive von Forscher*innen und Kurator*innen von Institutionen, deren Entstehung untrennbar mit der Geschichte des Kolonialismus verbunden sind. Inzwischen haben sich Sprachregelungen und Diskurse der „Welt“-Museen grundlegend verändert, (Selbst-)Kritik ist Teil ihres neuen Selbstverständnisses und es kommen andere Praktiken zum Einsatz, mit denen sich die Museen den asymmetrischen Machtverhältnissen als permanente Herausforderung annehmen.

1989 unterzog der britische Kunsthistoriker Peter Vergo in seinem Buch The New Museology, die bisherige Museumspraxis einer grundlegenden Kritik. Die vorgestellten Fälle, die sich fast ausschließlich auf den britischen Kontext beschränkten, brachten Elemente in die internationale Debatte ein, die wir heute als grundlegend für die Definition der primären Funktionen und Ziele eines Museums betrachten: die politische Bedeutung von Objekten, die Rolle der Besucher*innen, Kommunikationsstrategien und die Diskussion über das Kulturgut von Museen (Mairesse und Desvallées 2010; Vergo 1989).

“Global Turn”

Die aufgeworfenen Fragestellungen waren nicht neu, sondern Teil einer breiten sozialen Bewegung, die sich mindestens bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen lässt. In Bosnien und Herzegowina, Libanon, Algerien, Kuba, Tibet, Ruanda und anderen von den Zentralmächten verbannten Randgebieten der Welt wurde eine strukturelle Veränderung der etablierten sozialen, politischen und kulturellen Hierarchien und Werte gefordert (Dussel 2015; Fanon 1961). Unter den Intellektuellen kristallisierte sich diese große soziale Unzufriedenheit zu dem heraus, was als „global turn“ bekannt wurde. Sie forderte von den Wissenschaftler*innen einen transdisziplinären Ansatz und eine globale Perspektive, um die wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Dimensionen zu berücksichtigen, die ihre Studienobjekte betreffen. Innerhalb der Museen führte dies zu einer tiefen Infragestellung der Autorität ihres Diskurses, der ausschließlich auf der vermeintlichen Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnisse und der abstrakten Figur der Institution beruht.
1971 wurde auf der neunten Konferenz des Internationalen Museumsrates (ICOM) die Notwendigkeit einer Erneuerung und Überwindung des derzeitigen Zustands der Museen formuliert, die als veraltete, elitäre und von der Gesellschaft völlig isolierte Institutionen beschrieben wurden (Hudson 1977; ICOM 1972). Die „Rasse“, die „Nation“ und andere traditionelle Themen von Museumsausstellungen wurden als ideologisch-kulturelle Konstrukte einer bestimmten historischen Konjunktur neu interpretiert. Gleichzeitig begann man, historisch verweigerte oder vernachlässigte Themen wie ethnische Minderheiten oder die Unabhängigkeitskämpfe der so genannten „Dritte-Welt“-Länder zu untersuchen (Bachmann-Medick 2009; Ballestero et.all 2020; Macdonald 1999).
Diese Veränderungen bildeten einen Diskurs, der dazu diente, die fiktive Barriere zwischen „alter“ und „neuer“ Museologie zu errichten. Während der 90er Jahre gewann dieser neue Diskurs in der westlichen Wissenschaft an Bedeutung und drang in das weite Feld der so genannten postkolonialen Studien ein. Auffallend ist, dass europäische und nordamerikanische „postkoloniale“ Wissenschaftler*innen kaum oder gar nicht auf die intellektuellen Erfahrungen Lateinamerikas Bezug nahmen, die seit den frühen 1970er Jahren verschiedene praktische und theoretische museologische Alternativen vorschlugen und weiterführten.

“Integrales” Museum

Bereits 1972 fand in Santiago de Chile dazu ein UNESCO-Seminar statt. Der Runde Tisch zur Entwicklung und Rolle der Museen berichtete über die gravierenden sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Probleme Lateinamerikas. Neben der intensiven Infragestellung der Bildungs- und Kulturpolitik und der „offiziellen“ Geschichte, die von staatlichen Institutionen gefördert werden, wurden die Rolle und die soziale Verantwortung der Museen betont. Mit Schwerpunkt auf geographische Regionen und historisch marginalisierte soziale Sektoren wurde vorgeschlagen, dass das Museum ein integrales Instrument zum Verständnis und zur Lösung der oben genannten Probleme sein sollte. Ohne die Bedeutung der bestehenden Museen zu leugnen, lauteten die wichtigsten Schlussfolgerungen, dass das Museum sich an die Anforderungen der Gesellschaft anpassen, neue Perspektiven und Stimmen in die Forschung und Ausstellung seiner Sammlungen einbeziehen und insbesondere die „Rettung“ des kulturellen Erbes intensivieren sollte, um als Instrument der sozialen Transformation zu dienen (Final Report 1973).
Ein „integrales“ Museum in verschiedenen Ausdrucksformen entstand als Antwort auf den kulturellen Zentralismus der Museen in den Hauptstädten. Gemeinden, Bezirke und Nachbarschaften förderten Museen, die verschiedene Wissenszweige aus alternativen Perspektiven und Themen abdeckten. In Mexiko, Brasilien, Nicaragua, Ecuador, Kolumbien und Costa Rica entstanden Gemeindemuseen mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Didaktik, die die Rettung des verleugneten oder unterdrückten traditionellen Wissens vorschlagen und die Wertschätzung des Kultur- und Naturerbes jeder Gemeinschaft und dessen Bedeutung für die Konstruktion von Identität fördern (Decarolis 2011; ICOFOM 2009). Diese Initiativen wurden zu musealen Alternativen hinzugefügt wie den „Nachbarschaftsmuseen“ in den Vereinigten Staaten, den transdisziplinären Erfahrungen des Musée national Boubou-Hama in Niger und den „Ökomuseen“, die seit den 1970er Jahren in Kanada, Frankreich, Spanien, Portugal, der Schweiz und Mexiko entstanden sind (Dos Santos und Primo 2010; Rivière 1978).
Insbesondere die von der lateinamerikanischen Diaspora entwickelten Erfahrungen können sich als strukturelle Versuche einer Dekolonisierung der Museumspraxis und der Institution Museum beschrieben werden. Nicht umsonst fanden sie in dem turbulenten politischen Umfeld der Mitte der 1960er Jahre in Lateinamerika statt, einer Zeit, in der die ersten dekolonialen Argumente in dem Versuch epistemologische Instrumente für den Aufbau einer „anderen“ Welt synthetisiert wurden.

Dekolonialer Wendepunkt

Wie bereits erwähnt, wurde die „neue“ westliche Museologie mit den postkolonialen Studien in Verbindung gebracht, die seit der Veröffentlichung des Buches Orientalismus (1978) des palästinensischen Kulturtheoretiker Edward Said (1935-2003) konsolidiert wurden. Inspiriert von den Werken des französischen Philosophen Michel Foucault (1926-1984), der Schriftsteller Frantz Fanon (1925-1961) und Aimé Césaire (1913-2008) aus Martinique sowie C. L. R. James aus Trinidad (1901-1989) zeigte Said auf, wie das Konzept des „Ostens“ ein historisches diskursives Regime war, das bestimmte Machtbeziehungen zwischen Europa und dem „Westen“ strukturierte, arrangierte und gewährleistete (Said 1978). Ohne den unbestreitbaren Beitrag von Saids Werk und den als „postkolonial“ bezeichneten Folgeproduktionen zu den Diskussionen über die Beherrschungsbeziehungen zu leugnen, greifen diese nicht den tiefen Kern der Kolonialmacht an.
Der Kolonialismus wurde als eine Form der politisch-administrativen Herrschaft verstanden, die auf militärischem und/oder religiösem Zwang basierte. In diesem Sinne wäre die Dekolonialisierung ein Prozess der Überwindung dieser Etappe, die mit den Kämpfen der politischen Unabhängigkeit der amerikanischen Kolonien am Ende des XVIII. Jahrhunderts und der afrikanischen und asiatischen Kolonien während des XX. Jahrhunderts verbunden ist (Castro-Gómez und Grosfoguel 2007; Mignolo 2003). Diese analytischen Kriterien wurden von Intellektuellen aus Südamerika und der Karibik in Frage gestellt, betonen, wie der „westlichen“ Institutionen und des Publikationsmarkts zur Hegemonie der postkolonialen Kriterien beigetragen haben (Mignolo 2005; Rivera Cusicanqui 2006). Über mehr als zwei Jahrzehnte brachte diese heterogene Reflexionsgruppe einen Korpus von Konzepten, Kategorien und Argumenten hervor, der als dekolonialer Wendepunkt bezeichnet wurde (Mignolo 2007).
Der dekoloniale Wendepunkt distanziert sich epistemisch und geopolitisch von „postkolonialen“ Studien, indem sie sich auf die Befreiungstheologie, die Befreiungsphilosophie, der Dependenztheorie und den Debatten über die Postmoderne bezieht. Für die Autoren des dekolonialen Wendepunkts wurde der Kolonialismus nicht überwunden, wie der „Postkolonialismus“ behauptet. In diesem Sinne ziehen sie es vor, von „Kolonialität“ zu sprechen und verstehen sie als ein tiefes historisches Phänomen, das in der Gegenwart weiterwirkt und durch die Naturalisierung territorialer, biologischer, sozialer und epistemologischer Hierarchien Herrschaftsverhältnisse vervielfältigt. Auf diese Weise wird Dekolonialität nicht als ein neues Paradigma vorgeschlagen, das versucht, den „Postkolonialismus“ zu ersetzen, sondern als eine Form des „anders Wissens“, das dezentralisiert, pluridivers und interkulturell ist.

Erhebliche Fortschritte

Bis heute hat die Museologie sowohl in Amerika als auch in „westlichen“ Institutionen auf theoretischer, methodischer und praktischer Ebene erhebliche Fortschritte gemacht. Veränderungen in den anthropologischen Ausstellungen, die Einbeziehung von Perspektiven der indigenen Völker und die Zusammenarbeit mit ihnen bei der Erforschung ihrer materiellen Kultur wurden als Ergebnisse der „Dekolonialisierung“ der Museen beschrieben. Sie sind jedoch wörtlich und metaphorisch in die Institutionen verschlossen. Bedingt durch politische, wirtschaftliche und soziale Ziele innerhalb und außerhalb der musealen Institutionen stellen diese Veränderungen keine radikale Überwindung der kolonialen Struktur.
Die Forschung in Zusammenarbeit mit den indigenen Völkern entspricht letztlich den spezifischen Bedürfnissen der Forscher*innen. Das Wissen der indigenen Völker, weit davon entfernt als eine andere Form der Wahrheit/des Wissens zu gelten, dient als „Informationen“, die von dem „Hauptinformant“ bereitgestellt werden, um die Lücken im westlichen Wissen zu füllen. Die Veränderungen in den anthropologischen Ausstellungen entsprechen nicht in ihrer Gesamtheit der Perspektive der pueblos originarios, die mit dem Ziel (Ausrede?), eine effektive Kommunikation mit dem anwesenden Publikum zu erreichen, letztendlich durch die vorherrschende akademische Perspektive unterrepräsentiert wird.
Ein sehr kontroverser Punkt betrifft die Repatriierung der menschlichen Überreste der pueblos originarios und die Rückgabe von Objekten ihrer materiellen Kultur. Während in einigen Fällen der Erwerb (durch Mittel und in Kontexten, die kritisch diskutiert werden müssen) solcher Gegenstände durch Museen ihr materielles Verschwinden verhinderte und den Herkunftsgemeinschaften die Möglichkeit bot ihrem Erbe (wieder) zu begegnen, doch, die Hindernisse, die die Museen der Verminderung und/oder Erweiterung der Rückgabe/Repatriierung errichten, verurteilen die Herkunftsgemeinschaften zu einem tatsächlichen Aussterben, indem sie ihnen die Möglichkeit verweigerten ihre Erinnerung, Identität und Geschichte zu vervollständigen.
Die „neue“ westliche Museologie muss hinterfragt, überwunden und dekonstruiert werden. In diesem Sinne wird der dekoloniale Wendepunkt nicht als ein neues Paradigma dargestellt, das die Institutionen hegemonisieren will, sondern als eine ständig (selbst-)kritische Position, nicht West-/Ost-zentralisiert, aus historisch subalternisierten Räumen, Erfahrungen und Individuen aufgebaut, geopolitisch verortet und grundsätzlich interkulturell. Wie die Intellektuelle Catherine Walsh verstehen wir, dass dieses letzte Konzept die „Interaktion zwischen Menschen, Wissen und kulturell unterschiedlichen Praktiken“ sucht und die den sozialen Beziehungen innewohnenden Machtasymmetrien anerkennt (Walsh 2002: 205).

Gegenhegemonialer, pluridiverser und interkultureller Raum

Ausgehend von diesen Elementen glauben wir, dass das Museum ein Raum sein sollte, der
1) die Begegnung, den Dialog und die Verbindung zwischen Individuen, Wissen und verschiedenen Praktiken fördert;
2) die horizontale partizipatorische Demokratie auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung fördert;
3) die politischen Absichten hinter der Produktion und Förderung ihres Wissens deutlich macht;
4) transdisziplinäres und interkulturelles Wissen produziert;
5) die Rolle der „Professionellen“ bei der Übersetzung und Vermittlung des Wissens der indigenen Völker kritisiert;
6) die historisch zum Schweigen gebrachten Gegendiskurse und Perspektiven der „Anderen“ rettet;
7) ihre eigene Geschichte in kritischer Weise darstellt;
8) die Kolonisierung des Wissens, des Seins und des Körpers kritisch darstellt und anprangert;
9) jedes Zentrum anprangert, das aus der (Re-)Produktion von theoretischem Wissen und hegemonialer Museumspraxis kapitalisiert.
Diese Punkte mögen utopisch erscheinen. Auch decken sie nicht die gesamte Debatte über die Dekolonialisierung von Museumsinstitutionen ab, sind nicht der einzige Weg oder ein systematischer Plan, um diese zu erreichen. Mehrere dieser Punkte wurden von bolivianischen Bauern- und Indigenenversammlungen, von politischen Bewegungen wie der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) oder von Projekten wie Amawtay Wasi von der Interkulturellen Indigenen Universität CONAIE in Ecuador in die Praxis umgesetzt. Diese Beispiele zeigen, dass es möglich ist sich geopolitisch zu positionieren und die Diskussionsbedingungen festzulegen, um koloniale Hegemonien herauszufordern.
Es gibt keine und möglicherweise keine idealen dekolonialen Museen. Das ist nicht das Ziel des dekolonialen Wendepunkts und wird es auch nie sein. Letzterer ist ein Instrument unter vielen anderen, das es uns ermöglicht das Museum („neu“ oder „alt“) in einen gegenhegemonialen, pluridiversen und interkulturellen Raum zu verwandeln, in den alle möglichen Welten passen.

Diego Ballestero ist Anthropologe und ist derzeit Lehrbeauftragter an der Abteilung für Altamerikanistik der Universität Bonn. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 432 Feb. 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

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