Burkhard Hirsch war ein aufrechter, unbeugsamer Liberaler, ein Individualist und nicht immer einfach. Er war immer klar in seinen Ansichten und ging keinem Streit aus dem Weg. Er war nicht immer nur Linksliberal. Auf dem FDP-Richtungsparteitag 1977 stritt er an Gerhard Baums Seite. Als Jungdemokraten haben wir 1978 heftig mit ihm über Berufsverbote gestritten, die er als NRW-Innenminister für richtig hielt, und haben uns auf dem Parteitag in Mainz gegen ihn durchgesetzt. Da kämpfte er schon gemeinsam mit Horst-Ludwig Riemer gegen den “Schnellen Brüter” in Kalkar. Und er hatte gegen Rechts immer eine klare Haltung. Die formulierte er so gekonnt, dass seine eigenen Zeilen mehr über ihn sagen, als viele von uns schreiben könnten. 1930 geboren und aufgewachsen in Halle beschreibt er selbst seine frühen politischen Jahre im 2019 erschienenen Band “Grundrechte verwirklichen-Freiheit erkämpfen – 100 Jahre Jungdemokrat*innen” so:
“…Der ersten Jugendorganisation wurde ich beigetreten. Es war das “Jungvolk” der Hitler-Jugend und ich “Pimpf” Gau Mitte, Mittelland. Zuhause wurde über Politik nicht gesprochen, nicht einmal, als ich als “Pimpf” in dieser merkwürdigen Uniform auf der Straße fast mit einer alten Frau zusammenstieß, die sich vor mir Kind ängstlich zur Seite drückte und einen großen gelben Stern am Mantel hatte. Ich würde sie heute noch wiedererkennen. Niemand wollte mir erklären, was es mit dem Stern auf sich hat. …
…Dann waren die Russen plötzlich gekommen als Besatzungsmacht. Als die Schule wieder begann, waren es dieselben Lehrer wie zuvor. Aber während sie früher mit strammem “Heil Hitler” in die Klasse gekommen waren, taten sie nun so, als ob sie das Wort noch nie gehört hatten. Einer, der Direktor wurde, dessen Namen ich nicht durch Nennung beehren will, ließ uns antreten und hielt eine Rede über “unsere Freunde von der Roten Armee” deren Plünderungen, Verschleppungen und Ermordungen wir erlebt hatten und wussten, dass der Mann erbärmlich log. …
…In meinem damaligen Alter reißt man das Maul auf und sagt, was man so denkt. Das ging nicht lange gut. Eines Tages begannen die Russen, sich nach mir zu erkundigen…In West-Berlin frage mich ein Beamter, den ich um ein Flugticket nach Hannover anbettelte, ob ich denn belegen könne, dass die Russen mich festnehmen wollten? Dem habe ich gesagt: “Ich habe an alles mögliche gedacht, nur nicht zu ihnen zu gehen und es mir bescheinigen zu lassen.” Dann bin ich in die Zone zurückgefahren und habe eine lange Fußwanderung durch den Harz gemacht. Im Mai ’49 bin ich in Marburg angekommen und natürlich in die FDP eingetreten, so um 1950 herum, in die Deutschen Jungdemokraten und in den Liberalen Studentenbund. …
Dass die FDP August Martin Eulers und Albert Dederichsweilers für mich keine Offenbarung war, ist naheliegend. Beide Altnazis, in der Waffen-SS und euler setzte sich schon 1950 für die Beendigung der Entnazifizierung ein. Ich fand mich in einer Welt wieder, die mir völlig fremd war. Die Gesellschaft befand sich im Kalten Krieg. Sie einte über alle sozialen Grenzen hinweg die Angst vor und der Hass auf die Sowjetunion, die Kommunisten, die Ablehnung jeder Abrechnung mit der Vergangenheit – sie hätte ja zu unangenehmen Einsichten geführt. Deutsche Kriegsverbrecher nannte man “Kriegsverurteilte”. Natürlich gab es niemanden, der für irgendetwas verantwortlich gewesen war, und keinen “Nestbeschmutzer”. Man produzierte “Persilscheine”[Entnazifizierungsbescheinigungen d.Hg.] , die größte Lügensammlung der deutschen Geschichte.”
Hirschs Karriere begann als Kommunalpolitiker und Landesratspräsident der Jungdemokraten in Düsseldorf, schon damals mit Gerhart Baum befreundet.
“Das war der Weg durch die Institutionen beginnend mit der Kommunalpolitik und dem Ziel Bundestag: Nie wieder die Politik anderen überlassen. … Da war der Kampf gegen erneute Spaltungen, aber auch gegen Alt-Nazis, Reaktionäre und Erzkonservative bei uns und in den “bürgerlichen” Parteien. da ging es uns um eine realistische Wiedervereinigungspolitik, also auch um eine Anerkennung der Oder-Neiße Linie, die Überwindung der Hallstein-Doktrin, Kontakte zur LDPD und die Bürgerbewegung in der DDR, den faktischen Abbau von Grenzen, die Überwindung des Rüstungswettlaufs der Großmächte und die Schlussakte von Helsinki. Es ging um eine moderne Umweltpolitik, um den sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft, eine aktive Sozialpolitik und den Ausbau der Europäischen Gemeinschaft mit dem Ziel eines Europäischen Bundesstaates: sich nie wieder zu isolieren. Und es ging um das Freiburger Programm und seine Weiterentwicklung in einer Perspektivkommission “Aktuelle Perspektiven des Sozialen Liberalismus”, um Demokratie, Bürgerrechte, Datenschutz mit einem Schlussbericht vom 25.7.1977, der heute noch lesenswert ist. Wir scheiterten am Wirtschaftsflügel der FDP auf dem Kieler Parteitag und schließlich auf dem Parteitag 1982 in Berlin mit dem Ende der sozialliberalen Koalition.”
Aus einer kleinen Minderheit heraus hat Hirsch zusammen mit Gerhart Baum weiter erfolgreich für radikaldemokratische, rechtsstaatliche Positionen gekämpft, zumeist vor dem Bundesverfassungsgericht. 1998 stimmte er im Bundestag gegen den Kriegseinsatz im Kosovo. Und er ärgerte sich darüber, dass ihm seine Fraktion verweigerte, seine Abschiedsrede über die Revolution von 1848 zu halten. Sie bestimmte Otto Graf Lambsdorff zu ihrem Redner wie 1977 – Wirtschaftsflügel gegen den politischen Liberalismus. Den “Großen Lauschangriff” der schwarz-gelben ebenso wie das “Luftsicherheitsgesetz” der Rot-Grünen Koalition brachten sie zu Fall, der Staatstrojaner im NRW-Polizeigesetz fiel ebenso, wie die uneingeschränkte Vorratsdatenspeicherung dank Hirschs und Baums Klagen. Burkhard Hirsch war bis zuletzt voll Tatendrang, pflegte zu Hause liebevoll seine kranke Frau. Das letzte Mal traf ich ihn 2019 im Foyer des Landtages in Düsseldorf: er hatte es eilig, war auf dem Weg zu einer Anhörung, stinksauer über das neueste Polizeigesetz von Herbert Reul mit dem unbestimmten Rechtsbegriff der “drohenden Gefahr”. Am 29.5. wäre er 90 geworden. Wir werden ihn vermissen.
Ich verneige mich in Respekt vor einem freimütigen Wahrheitssucher.
Danke. Ein sehr gelungener Nachruf. Es ist gut, sich noch lange an ihn zu erinnern.
Mit Hirsch verbindet sich für mich ein politbiografisches Trauma. Am 1. April 1973 wurde ich in Essen in die FDP aufgenommen. Als Aprilscherz entpuppte sich das erst 1982, als ich die Partei wieder verliess. Nur ein einziges Mal habe ich sie auch gewählt (sonst nie, ich wusste zuviel, z.B. darüber:
https://extradienst.net/2020/02/06/die-braune-last-der-fdp/ )
: bei der NRW-Landtagswahl 1980, Spitzenkandidat Burkhard Hirsch. Die FDP erhielt bei dieser Wahl 4,971 % und schied aus dem NRW-Landtag aus. 1990 wählte ich erstmals in meinem Leben bei einer Bundestagswahl die Grünen. Sie wollten nicht über die deutsche Einheit, sondern über Klimapolitik reden. Ergebnis: Rausflug (im Westen) aus dem Bundestag. Ich bringe also immer der Partei, die ich wähle, grösstmögliches Unglück. Dachte ich lange.
Burkhard Hirsch habe ich von1980 – 1996 als Mitglied im Bundesfachausschuss Innen und Recht erlebt und überwiegend aus den o.g. Gründen geschätzt. Nach der „Kohlschen Wende“ 1982 war der BFA der Sammelpunkt des linksliberalen Flügels der FDP mit Baum und Hirsch, später noch mit Leuthäuser- Schnarrenberger.
Über Kreuz lag ich mit Hirsch in den ganzen Jahren nur in einem Punkt: Er lehnte meine rechtspolitischen Aktivitäten zugunsten einer Strafbarkeit der ehelichen Vergewaltigung rundweg und auf Dauer ab. Sein Argument: Der Staatsanwalt habe im Ehebett nichts zu suchen. Da war für ihn als Macho die Grenze der Liberalität erreicht.
Dr. Dierk Helmken
Heidelberg
De mortuis… Dennoch: alles irgendwie FDP… Die zuletzt wieder mit der afd stimmte. Diesmal im Bundestag-gegen die dringende Verschärfung des waffenrechts…