Seit Wochen werden Grundrechte eingeschränkt, die Virologen übertreffen sich gegenseitig mit spärlich wachsendem Wissen. Kein Zweifel – bis auf Kleinigkeiten und zum Teil grundrechtswidrige Auswüchse haben die Bundesregierung und die Landesregierungen ganz vieles richtig gemacht. Sie verdienen Anerkennung und auch Nachsicht gegenüber Fehlern. Der Förderalismus hat wesentlich dazu beigetragen, dass es keine diktatorischen einheitsstaatlichen Einschränkungen gab.  Der Föderalismus hatte und hat eine Sternstunde – seine größte Bewährungsprobe seit Bestehen der Bundesrepublik. Dank den Alliierten und den Müttern und Vätern des Grundgesetzes! Aber wo sind die Volksvertretungen, die Parlamente, die der Diskussionsort der Strategie aus der Krise sein müssen, wenn wir doch eine Demokratie haben?

Seit etwa zwei Wochen werden Pressekonferenzen der Regierung immer kryptischer, verkünden Nebensächlichkeiten, wie die Maskenempfehlungen und das Schweigen zu wichtigen Fragen, wie einer Schulstrategie. Während Wirtschafts- und Finanzminister immer neue “Rettungspakete” für Lufthansa und die Automobilindustrie stricken, die keinerlei ökologische und soziale Auflagen enthalten, möchte die Bildungsministerin nicht nur in Not geratene Studenten nur mit Krediten abspeisen. Sie verliert kein Wort darüber, wie es sein kann, dass von den 2019 beschlossenen 5 Milliarden Euro Digitalpakt für die Schulen bisher gerade mal 20 Millionen dort angekommen sind. Und die Verteidigungsministerin liebäugelt in der Corona-Krise mit atombombenfähigen F18 US-Kampfbombern. Die Bundespressekonferenzen nehmen gespenstische Ausmaße an, Fragen werden geschönt vorgelesen, mehrmalige Nachfragen von Journalist*inn*en online abgewürgt. Das ist nicht mehr hinnehmbar.

Freie Bahn für Lobbyisten

Die Lobbyisten tummeln sich in Berlin, dass VW, BMW und Daimler einerseits milliardenschwere Hilfspakete und Prämien erwarten, gleichzeitig aber volle Dividenden ausschütten, davon bei BMW Milliardenbeträge bei den 46% – besitzenden Aktionären – Familie Quandt und Susanne Klatten – landen, die zu den reichsten Bürger*inne*n Deutschlands gehören. Von wegen: “wir müssen Dividenden ausschütten, damit keine Investoren abspringen…!” Wer in der vergangenen Woche gesehen und gehört hat, mit welcher unverschämten Selbstverständlichkeit VW-Chef Diess in den “Tagesthemen” geradezu einen Besitzanspruch auf die Kurzarbeitsgelder der Bundesagentur für Arbeit und die dazu gehörigen Steuergelder geltend machte, dem muss klar werden, dass Interessenverbände und Regierung derzeit drohen, die Politik in Berlin unter sich auszumachen. Die Opposition kommt bei alledem nicht vor. Aber was viel schlimmer ist: das Parlament spielt als Ort des Diskurses, wie eine Öffnung unter welchen Bedingungen stattzufinden hat, keine Rolle. Stattdessen dominieren allein die Regierungen die Öffentlichkeit. Dabei sind weder Kultus- noch Ministerpräsidentenkonferenzen mit der Kanzlerin irgendwo in unserer Verfassung vorgesehen, de facto bestimmen sie aber unsere politische Realität. Und die Medien stellen das auch nicht in Frage – ein Versagen auch der “Vierten Gewalt”.

Fußballmillionäre testen, Flüchtlinge in Sammellagern isolieren

Weder Öffnungen, noch differenzierte Lockerungen werden in den Landesparlamenten diskutiert, alles wird von Regierungen im Verordnungsweg ohne Parlamente beschlossen. Dabei handelt es sich bei Fragen, bei welcher Firmengröße Öffnungen möglich sind, oder ob Hotels oder Gaststätten wann und wie wieder geöffnet werden, um ebenso gravierende Grundrechtseingriffe, wie bei den vielfältigen Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit, der Meinungsfreiheit, um die es sich bei der Auflösung von kleinen Kundgebungen mit Abstandsgebot in NRW bis hin zum Verbot eines Autokorsos mit auf die Fahrzeuge geklebten Plakaten gegen die Flüchtlingspolitik der EU in Berlin handelte. Während es für Fußballmillionäre anscheinend jede Menge Corona-Tests gibt, damit die Milliardengeschäfte von Bundesliga und Championsleague weitergehen können, werden Flüchtlinge in Sammellagern bis zu 850 und mehr Menschen trotz corona-positiv getesteter Personen zusammengepfercht. Ohne Tests, ohne die Möglichkeit, Abstände zu halten, geschweige denn ausreichender sanitärer Verhältnisse, einfach eingesperrt und unter Quarantäne gesetzt. Nichts davon wird derzeit in den Parlamenten erörtert, wo solche Diskussionen hingehören.

Talkshows ersetzen keinen demokratischen Diskurs

Es ist ein bedenklicher, weil schleichender Schaden, den derzeit unsere Demokratie nimmt. Er kann auch nicht durch die zahlreichen “Politiksimulationen” wettgemacht werden, in denen mehr oder minder qualifizierte oder von Quoten- und Proporzbesetzungen bestimmte Runden bei Maischberger, Will, Lanz oder Plasberg wieder die selben Regierungsmitglieder, Virologen plus Wirtschaftsvertreter*innen sitzen, die ohnehin die Öffentlichkeit in ihrem Sinn bestimmen. Mit demokratischem Diskurs hat dies nichts zu tun. Da reicht es auch nicht, dass der Bundestagspräsident eine wichtige Diskussion über Verfassungswerte anstößt, wenn er gleichzeitig versäumt, dass diese Diskussion im Bundestag offen geführt wird. Wo bleibt die Generaldebatte über Ethik in der Krise? Welch eine Sternstunde des Parlaments könnte das werden? Warum machen die Vizepräsident*innen Claudia Roth und Wolfgang Kubicki – immerhin beide alte Radikaldemokraten – nichts? Die Opposition von Grünen, FDP und Linken müsste diese Debatte erzwingen. Über die großen Linien, wohin das Gesundheitssystem, die Wirtschaft  und die Bildung steuern, wie Demokratie in Europa durchgesetzt und nicht Despoten wie Orban und Kaczyński überlassen werden darf. Wie jetzt die Klimaziele einzuhalten und die Wirtschaft ökologisch und nachhaltig im Sinne sicherer Lieferketten erneuert werden kann. Die Parlamente und niemand sonst müssen die Debatten um die Richtungsentscheidungen der nächsten Monate und Jahre dringend führen und notfalls erzwingen. Sie betreiben stattdessen parteipolitische Gartenzwergdebatten über Spiegelstriche und Söder-Laschet Kanzlerspiegelfechterei. “Kleinscheiss” nannte das mal Klaus Matthiesen, SPD-Fraktionsvorsitzender im Landtag NRW, als die noch verdient 46% hatte.

Demokratie und Parlamentarismus sind in akuter Gefahr

Sie müssen die Debatten über den Fortgang der Krise über die Öffnungsstrategien genau dort führen, denn die Weichen für einen ökologischen Umbau während und nach der Krise bis hin zur Frage, ob die ungehinderte Kapitalflucht und Akkumulation von Reichtum in und nach der Krise so weitergehen werden wie bisher, oder ob es jetzt oder nie eine Möglichkeit zur Umkehr gibt, entscheidet sich in den nächsten Monaten. Wo anders als im Parlament sollten diese Debatten geführt werden? In der Geschichte des Parlamentarismus des Grundgesetzes hat es bisher nur eine Krise gegeben, in der die Regierung in ähnlicher Weise das Parlament weitgehend außen vor gehalten hat. Während der Entführung Hanns-Martin Schleyers und in den darauf folgenden Monaten im “Deutschen Herbst” 1977, als in ähnlicher Weise Gesetze im Eilverfahren geschlossen wurden, die zum Teil so tief in Grundrechte eingriffen, dass sie in den folgenden Jahren wieder zurückgenommen werden mussten. “Gesetzgebung im Belagerungszustand” nannten das damals Bürgerrechtler wie der Frankfurter Anwalt Dr. Sebastian Cobler und Otto Schily, Verteidiger von Gudrun Ensslin. Das Zustandekommen des Infektionsschutzgesetzes im Bundestag – ohne Anhörung und unter Verkürzung der Geschäftsordnungsfristen – erinnert fatal an die damalige Verabschiedung des höchst umstrittenen Kontaktsperregesetzes.

Demokratie oder Klassenkampf

Warren Buffet hat vor einigen Jahren gesagt, wir befänden uns im Klassenkampf, und seine, die Herrschende Klasse sei gerade dabei, ihn zu gewinnen. Das gilt in der Corona-Krise unbeschränkt fort. Die Tatsache, dass – jenseits von der inhaltlichen Position zu dieser Frage, auch ich befürworte die dezentrale Lösung – die Oligopole Google (Android) und Apple (iPhone) letztendlich über die demokratischen Regierungen hinweg entschieden haben, welche Version von Corona-App eingeführt werden wird, ist demokratisch ein Akt des Feudalismus und nicht hinnehmbar. In der weltweiten Corona-Krise mit eingeschränkten demokratischen Rechten kann es nicht sein, dass Konzerne, die sich systematisch der Steuerzahlung in den Ländern, in denen sie die höchsten Gewinne machen, entziehen, deren politische Entscheidungen wesentlich beeinflussen oder gar diktieren. Entscheidungen, die mit essenziellen Eingriffen in Bürgerrechte zu tun haben, wie etwa die von Bill Gates promotete Idee eines weltweiten digitalen “Immunitätsnachweises” – einer Mega-Überwachungstechnik, die Milliarden von Menschen betreffen könnte. Sollten das nicht die Parlamente diskutieren und darüber Öffentlichkeit herstellen, könnten solche Pläne früher oder später dazu führen, dass in oder nach der Krise der von Buffet postulierte Klassenkampf ganz offen und nicht mehr demokratisch aufbricht. Jede Menge Faschisten und Wirrköpfe stehen schon bereit. Nicht nur in der AfD. Einige haben in USA schon Regierungsgebäude mit Waffen überfallen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net