Von Günter Bannas

Abgesagt wurden die Gedenkveranstaltungen zum Ende des – von Deutschland herbeigeführten – Zweiten Weltkrieges am 8. Mai vor 75 Jahren, der, was hier bisweilen in den Hintergrund rückt, in Asien noch ein weiteres Vierteljahr ausgetragen wurde: Mehr als 60 Millionen tote Zivilisten und Soldaten, Europa ein zerstörter Kontinent, Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, Millionen Flüchtlinge, Hungersnöte weltweit. Nie wieder gab es eine die ganze Welt erfassende Katastrophe – bis zum Frühjahr 2020. Erstmals seit der Zeit vor 1945 stellen Heimsuchungen alle Lebenswirklichkeiten rund um den Erdball in Frage. Vergleiche werden nun nahegelegt: „Wir sind im Krieg“ (Emmanuel Macron); „Größte Herausforderung seit Kriegsende“ (Angela Merkel). Ein „Weltkrieg 2.0“? Das auch noch angesichts einer heraufziehenden ebenso weltumspannenden Klimakatastrophe? Aber: Die Städte sind nicht zerstört. Die Millionenzahlen von Opfern der Kriegsjahre werden nicht erreicht werden. Nie war die Welt so reich wie heute. Doch das Virus hat nicht nur die Überforderung von Gesundheitssystemen mit ihren Opfern zur Folge. Weltweit. Es hat die Köpfe erfasst. Auch weltweit.

Die „Trümmerfrauen“, die den Schutt zerbombter Städte wegräumten, wurden einst zum Symbol von Wiederaufbruch und vom Traum einer besseren Zukunft. Das Kennzeichen dieser Tage ist der Mundschutz, obwohl es doch Zweifel gibt, ob die Gesichtstücher wirklich Schutz bieten. Die Menschen 1945 standen Schlange, weil es tatsächlich an allem mangelte. 2020 tun sie es aus Furcht, es könnte sein, dass der Nachschub nicht geliefert wird. 1945 ging es um Zigaretten, Brot und Butter. 2020 um Klopapier und Desinfektionsmittel. Der Unterschied hinter dem Unterschied: 1945 war das Schlimmste ausgestanden. Nun herrscht die Angst, das Schlimmste komme noch – als befänden wir uns nicht im Jahr 1945, sondern 1939. Angst essen Seele auf. Die Nachkriegsgeborenen der Industrienationen und der freien Welt erleben erstmals, was „Hamstern“ in der Praxis bedeutet. Erstmals auch machen sie Erfahrungen mit (digitalen) Schwarzmarkthändlern und Denunzianten – von wegen „Abstandsgebot“. Rosinenbomber und amerikanische GIs, die Schokolade verteilten, waren 1945 der Nachweis von Hilfsbereitschaft und davon, der 8. Mai sei nicht der Tag der Kapitulation, sondern der Tag der Befreiung. 2020 ist der Traum vom „American Way of Life“ ausgeträumt.
Günter Bannas ist Kolumnist des HAUPTSTADTBRIEFS. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus “DER HAUPTSTADTBRIEF AM SONNTAG in der Berliner Morgenpost”, mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion. © DER HAUPTSTADTBRIEF

Über Guenter Bannas / Gastautor:

Günter Bannas ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Beiträge sind Übernahmen aus "Der Hauptstadtbrief", mit freundlicher Genehmigung.