.. ungeordnete Gedanken zu autoritärem Denken in der Corona-Krise am 8.Mai 2020.

13 Millionen Menschen in Deutschland sind über 70 Jahre alt. Zu Beginn der Corona-Pandemie haben Wissenschaftler*innen beobachtet, dass Menschen über 60 Jahren, so hieß es in den entsprechenden Publikationen, häufiger und schwerer an Covid-19 erkranken, die Verläufe komplizierter sind und die Mortalitätsrate höher als beim Gesamtdurchschnitt. Daraus leiteten die politisch Verantwortlichen in Bundes- und Landesregierungen zurecht ab, dass es besonderer Schutzmaßnahmen für diese schnell bezeichneten “Risikogruppen” geben müsse.

Kontaktverbote und Ausgangssperren für Menschen in Alten- und Pflegeheimen waren die erste – und zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich einzig wirkungsvolle – Reaktion. Menschen über 70 waren in den vergangenen Wochen viel häufiger und stärker von massiven Einschränkungen ihrer Grund- und Freiheitsrechte betroffen. Nach ihrer Meinung dazu gefragt jedoch hat die alten Menschen in der Regel niemand. Das Recht auf Menschenwürde, auf Meinungsfreiheit, Freizügigkeit und freie Entfaltung der Persönlichkeit, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, stehen aber allen Menschen gleichermaßen zu. Das garantiert der Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Und das garantiert, Wolfgang Schäuble hat zurecht darauf hingewiesen, die Menschenwürde aus Artikel 1 GG allen gleichermaßen.

Nicht “Lockerungen”, die Grundrechtseinschränkungen bedürfen der Begründung

Freilich gelten diese Grundrechte nicht uneingeschränkt, aber in sie darf nur in Form eines Gesetzes eingegriffen werden und dieser Eingriff muss verhältnismäßig und zeitlich begrenzt sein. Wegen der Pandemie mit Covid-19 wurden aufgrund des Infektionsschutzgesetzes vorläufige Maßnahmen getroffen, die allerdings immer nur für 14 Tage gelten und laufend überprüft werden müssen. Weil in der Öffentlichkeit fälschlicherweise immer wieder von “Lockerungen” gesprochen wird, entsteht bei vielen Menschen der falsche Eindruck, – und das erklärt auch manche Unmutsreaktion aus Unkenntnis – als müsse man die Regierungen und den Staat bitten oder nötigen, nun endlich wieder Freiheiten “zuzulassen”. Völlig falsch. Die Regierungen und der Staat müssen immer wieder sorgfältig neu begründen, warum eine eventuelle Fortdauer der Grundrechtseinschränkungen erforderlich und verhältnismäßig ist. Das erfolgt deutlich nicht hinreichend.

Weil dieses Verhältnis zumeist weder von der Politik, noch in den Medien so vorgetragen und richtig erklärt wird, entsteht derzeit ein gefährlicher Nährboden für alle arten von Verschwörungstheorien, absurden Unterstellungen und überwiegend rechtsextremistischen Inszenierungen.  Die von sogenannten “Corona-Demos” oder Aktionen rechter Sektierer wie “Widerstand2020” und anderer zum Teil von bekannten und verurteilten Volksverhetzern, Antisemiten und Nazis, Reichsbürgern und AfD-Parteigängern inszenierten Aktionen und Diskussionen verteidigen weder das Grundgesetz, noch haben sie irgendwelche Achtung vor den Grundrechten. Sie instrumentalisieren das Grundgesetz, um Verwirrung zu stiften und Desorientierung zu verbreiten, um ihrem eigentlichen Ziel näher zu kommen, die Demokratie zu destabilisieren, womit “Prepper”, Bernd Höckes, Reichsbürger und Wehrsportgruppen, die angestrebte nächste Stufe des gewaltsamen Angriffs auf die verhaßte freiheitliche Demokratie oder den “linksgrün versifften Staat” herbeiphantasieren möchten.

Individuen fühlen sich zu Objekten degradiert

Das notwendige – und am 8. Mai 2020, 75 Jahre nach der Befreiung vom NS-Regime um so wichtigere – Signal muss deshalb sein, genau und sorgfältig zu überprüfen und zu erkennen, inwieweit Spuren autoritären Denkens sich in der Krise bis in die Mitte der Gesellschaft eingeschlichen haben, um im besten Sinne “den Anfängen zu wehren”. Das beginnt nicht erst bei der Überprüfung bestimmter Konzepte, sondern bereits in der verwendeten Sprache, denn Sprache ist der Ausdruck unserer Gedanken. Wann immer wieder von den “Risikogruppen” und “den alten” oder “Vorerkrankten” die Rede ist, die in der Corona-Krise besonders geschützt werden müssen, fehlt es oft an der Empathie, die Betroffenen einzubeziehen und als Subjekte zu behandeln. Bei keinen anderen Bevölkerungsgruppen wurde derart tiefgreifend in Grundrechte eingegriffen. Kneipenwirte durften wenigsten noch zuhause ihre Familie sehen, Kinder durften nicht auf Spielplätze, aber niemand wurde praktisch so in Einzelhaft genommen, wie die Insassen von Altenheimen.

Das verbale Degradieren einer Gruppe von Menschen zu Objekten – und sei es aus wohlmeinendem Beschützerinstinkt – beinhaltet eine subtile Verletzung der Menschenwürde und Ungleichbehandlung, die derzeit unmerklich zur Normalität wird. Zumal viele Alte eine ganz andere Priorität setzen würden, wären sie gefragt. Um eine besondere Form der Grundrechtsverletzung hat sich dabei ein Bürgermeister verdient gemacht, dessen Namen hier zu nennen, ihm zuviel Ehre erwiese. Seine Äußerungen beinhalten die Grundzüge eines Denkens, das den Wert und die Menschenwürde am Nutzen des Individuums für die Gesellschaft bemisst. Wer alten Menschen Verzicht auf Selbstbestimmung zumutet und dies quasi als Vertrag versteht, den schwache, zu versorgende versorgte Alte mit einer jungen, starken Mehrheitsgesellschaft schließen, damit diese unbeschränkt ihre Grundrechte ausleben kann, hat den ersten Schritt – die erste Schwelle des Denkens vollzogen, das bei den Nazis in der Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben gipfelte. Beurteilen Sie selbst den Satz des Herrn P.: “Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Dieser Art des Denkens sollte ganz früh und konsequent entgegengetreten werden, denn es verletzt Artikel 1, die Menschenwürde.

Selbstbestimmung unverhältnismäßig eingeschränkt

Dabei soll es hier gar nicht darum gehen, eine Unwerterklärung gegenüber Einzelpersonen abzugeben, sondern vielmehr aufzuzeigen, dass gerade in der gegenwärtigen Krise autoritäre Konzepte nicht nur den Willen der einzelnen Menschen zur Selbstbestimmung mißachten, sondern im Besonderen auch die Gefahr steigern, Reaktionen von der falschen Seite zu provozieren. Als etwa NRW-Innenminister Herbert Reul mitten in der Krise zeitweise alle Demonstrationen verbieten wollte, schürte er eben nicht nur den berechtigten Unmut der Friedens-. und Ökobewegung oder  “Fridays for Future” – er schaffte ungewollt Anlass, Raum und Bühne für die “Anti-Corona-Agitation” rechtsextremer Sektierer, die seit Wochen das Thema Grundrechtsverletzung versucht, für ihre Zwecke zu instrumentalisieren und zu mißbrauchen.

Wenn aus gutem Willen und zum Nutzen der Menschen eine Gates-Stiftung nicht nur die Suche nach einem Impfstoff unterstützt, sondern gleichzeitig Anstrengungen unternimmt, die digitale Identität aller Menschen von der Wiege bis zur Bahre zu erfassen, dann darf es nicht verwundern, dass ein derartiges, letztlich totalitärem Denken nahestehendes Vorhaben bei Demokraten Anlass zur Sorge und Zweifeln an der Glaubwürdigkeit, Redlichkeit und Demokratietauglichkeit der sie betreibenden Institutionen gibt. Darüber hinaus jedoch werden derartige Pläne auch zwangsläufig zum Ausgangspunkt und dienen der Rechtfertigung zahlreicher Verschwörungstheorien und irrationaler Befürchtungen politischer Wirrköpfe.

Unseliger Hang zu totalitären Rezepten

Das trifft gleichermaßen auf den “Immunitätsnachweis” zu, den Jens Spahn in der vergangenen Woche vorgeschlagen hat – nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass die Gates-Stiftung ähnliches in Form ihres Programms einer “Digital Identity Alliance” oder “ID2020” verfolgt. Dabei sollte Spahn aus der Auseinandersetzung um die “Corona-App”, die er zunächst mit nicht hinnehmbaren Grundrechtseinschränkungen versehen wollte, klüger geworden sein.

Wir Deutschen sollten aus unserer Geschichte gelernt haben, dass eine totalitäre Erfassung der biometrischen und gesundheitlichen Merkmale, Krankheiten und möglicherweise weitergehender Informationen ohne strengste demokratische Kontrolle zu Mißbrauch als Instrument totalitärer Herrschaft geradezu einladen. So dienten die Daten der Volkszählungen vom 16.6.1933 und 17. Mai 1939 als bürokratische Grundlage zur Durchführung der Deportationen und Vollendung des Holocaust durch das NS-Regime.

Weltweite Gesundheitsdaten in Händen eines Privatkonzerns oder von Regimen wie Duterte, den Ajatollahs, Saudis wäre ein nicht wieder einzufangenes Instrument für alle erdenklichen Zwecke. Die Möglichkeit zur Diskriminierung aufgrund von Herkunft, Abstammung, Krankheit oder Immunität und natürlich Rückschlüsse auf ethnische Identitäten wären mannigfaltig. Das gilt um so mehr in einer gegenwärtigen und kommenden Phase der Menschheitsgeschichte, in der weitere Krisen, sei es durch neue Viren oder aufgrund der Erderwärmung vorhersehbar geworden sind. Also gilt es weiter: Wehret den Anfängen!

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net