Beueler-Extradienst

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Kaum ein Fahrgast stört

Wundersame Bahn XLIII
Jahrzehntelang fühlte ich mich als DB-Stammkunde darauf abgerichtet, dass der Fahrgast das Einzige ist, was den Betrieb stört. Seit das Coronavirus über uns gekommen ist, schien dieses Problem weitestgehend erledigt. Zu hören, zu sehen und zu atmen ist, dass immer mehr Menschen aufs Auto umsteigen, weil sie sich dort scheinbar sicherer fühlen. Ist das Virus vielleicht gar nicht von Bill Gates, sondern von der deutschen Autoindustrie? Hmm …
Gestern habe ich alles mal wieder ausprobiert. Der nette Mann am Fahrkartenschalter in Beuel ist immer noch (oder wieder) da. Keine Warteschlange, freundlichste Bedienung. Ich habe mich dann auch gleich bei dem bedauernswerten Pächter im Beueler Bahnhof mit Reiselektüre eingedeckt. Ein Rätsel, wie der arme Mann in diesem vernachlässigten und weitgehend leer rumstehenden Bahnhof seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Zeitweise sperrt die Bahn sogar den Zugang vom Bahnsteig ins Gebäude, während der Pächter noch geöffnet hat.
Mein IC vom Hbf. nach Essen war im Internet bereits eine Stunde vor Abfahrt mit 9 Min. Verspätung angekündigt. So war es auch und blieb es bis Essen Hbf. Die Platzwahl war – an einem Freitagnachmittag! – so frei, dass jeder Fahrgast sich einen eigenen Grossraum im Grossraumwagen frei wählen konnte. So schaffte es die DB, während der Fahrt sogar zweimal den Fahrschein kontrollieren zu lassen. An normalen Freitagen bleiben die Zugbegleiter*innen lieber in Deckung, um von den Fahrgästen nicht so viel beschimpft zu werden.

Lesen kein Vergnügen

Mit der Reiselektüre hatte ich mich jedoch verrechnet. Mit Mund-/Nasen-Maske und Gleitsichtbrille ist das Lesen der Süddeutschen trotz Ellbogenfreiheit beim Umblättern kein Vergnügen, unabhängig von den Inhalten. Ich schaffte einen Text von Boris Herrmann über eine Karnevalsparty im Bundestag, parallel zu einer Trauerfeier zum Hanau-Attentat, sowie einen klugen Text von Sonja Zekri (nur hinter Paywall) zur Antisemitismus-Verleumdung gegen den kamerunischen, in Südafrika lehrenden Wissenschaftler Achille Mbembe. Angesichts des Nebels auf meinen Brillengläsern hatte ich zu dem Nachruf auf Rolf Hochhuth keine Lust mehr, obwohl er von Willi Winkler war.
In Essen angekommen benötigte ich erst mal einen Espresso im Eiscafe Toscani. Es war geöffnet, und nur wenig besucht, wie die gesamte Essener City. “Essen – die Einkaufsstadt” hiess es früher mal auf dem Hotel Handelshof am Hauptbahnhof. Auch die U-Bahn war zur freitäglichen Feierabendzeit angenehm dünn besetzt und fuhr pannenfrei.
Das hatte ich schon oft, dass die überraschend problemfreie Hinreise mir Illusionen für die Heimfahrt machte.

Immer ist die Rückfahrt das Problem

Zurückreisend musste ich überrascht feststellen, dass es keinen IC-Stundentakt mehr von Essen nach Köln und Bonn gibt. Der 20h-IC fährt von Hamburg kommend nicht mehr Essen Hbf. an, sondern wird über Gelsenkirchen und Oberhausen geleitet. Auch ein Halt in Essen-Altenessen, einem früheren Fernbahnhof, der abgerissen wurde, wo aber noch ein entsprechend langer in der Regel vermüllter und unbemannter Bahnsteig ist, ist in solchen Fällen nicht mehr vorgesehen (und angeblich “nicht möglich”). Sogar Uhren und Bahnsteiganzeigen zu abfahrenden Zügen wurden dort ersatzlos demontiert. Geblieben ist ein S-Bahn-Haltepunkt und Angstraum. Blick vom Bahnsteig aus besteht auf eine jahrzehntealte, nie bezogene Rohbauruine (Video 3 min.) eines “Wohn- und Geschäftshauses”.
Zum Glück war ich früh genug am Essener Hbf. um stattdessen einen ICE mit Abfahrt um 19.51 h zu erreichen. Der fuhr aber nicht ab. Die Zugbegleiterin meldete zunächst “Menschen …”, später “Kinder am Gleis”, weswegen selbiges für uns gesperrt sei. Verspätung: 20 Min. Freundlicherweise verzichtete der Kontrolleur bei mir auf die Erhebung eines ICE-Zuschlages (ich hatte nur IC-Tarif). In Köln musste ich umsteigen. Dort sah ich allerdings nur die Rücklichter der Mittelrheinbahn nach Bonn. Ich ging zurück zu meinem ICE, der in Siegburg halten sollte; von dort wäre eine Heimreise mit der bisweilen lebensgefährlichen Linie 66 möglich. Zurück am Bahnsteig sah ich den ICE noch losfahren, ohne mich natürlich … Danach bestand ein Fahrplanloch von über einer halben Stunde nach Bonn. Obwohl: Beuel wäre eine Möglichkeit. Der Regionalexpress sollte allerdings in Troisdorf enden, wg. der Bauarbeiten an der S13. Gibts keinen Schienenersatzverkehr ab Troisdorf? Ich ging zum entsprechenden Bahnsteig und hielt Ausschau nach Zugbegleiter*inne*n. Fehlanzeige, niemand. Ich lief vor zum Führerstand, um den Lokführer zu befragen. Sein Fenster war allerdings geschlossen, er starrte auf Displays in seinem Cockpit und bemerkte mich nicht (oder wollte es nicht). In Troisdorf mglw. verenden war auch keine Option, hätte Albtraumpotenzial.
Blieb also nur der RE 5, insgesamt über 30 Minuten Wartezeit in Köln Hbf. Aus Langeweile ging ich in die Haupthalle, um die Anzeige der U-Bahnen zu prüfen. Die 16 wurde mit “sofort” angezeigt, bei der Entfernung im Tunnel aussichtslos, die 18 in 15 Minuten, aber die braucht noch länger, also zwecklos. Die Zuganzeige der DB in der Haupthalle war für mich mit Maske und Gleitsichtbrille kaum noch lesbar. Aber zum RE5 kannte ich den Weg auch blind. Immerhin ist der mit den neuen RRX-Zuggarnituren erfreulich schnell, nur noch 4 Minuten langsamer als ein IC, mit zwei Halten (Köln-Süd und Brühl) zusätzlich.

Was ist ein “Verkehrsverbund”?

In Bonn dann folgende Pointe: beim eiligen Weg zur U-Bahn ergab es sich, dass auf dem Roll-Laufband hinunter ein junger Mann mit dem SMSen auf seinem Smartphone so beschäftigt war, dass sich hinter ihm, die Abstandsregeln einhaltend und auf Überholvorgänge verzichtend, ein kleiner Menschenstau bildete. Zu spät erkannte der Mann, dass unten die 66 abfahrbereit stand. Er begann endlich einen Laufschritt, verfehlte die Bahn aber kläglich, und alle hinter ihm durften die Rücklichter bewundern. Kommunikation zwischen DB und SWB um Umsteigen zu optimieren? Verkehrsverbund? Solche Fragen sind witziger als die heute-Show. Ich pflege in solchen Fällen auf dem Bahnsteig eilig durchzulaufen, um an der Thomas-Mann-Str. die erste Gelegenheit von Bahn oder Bus nach Beuel zu nehmen. Auf der elektronischen Anzeige war minutenlang das Phänomen zu betrachten, dass die Reihenfolge der 61 und 62 sich ständig änderte, obwohl beide den gleichen Linienweg haben, auf Schienen! Ist halt nur so eine grobe Orientierung, dieser elektronische Fortschritt.
Endergebnis: von Tür (Essen-Karnap) zu Tür (Bonn-Beuel): 3 Stunden. Passabel ist was Anderes.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net

2 Kommentare

  1. Roland Appel

    Genau – und deshalb fahr ich das mit meinem Euro 5 Diesel mit minimalem Verbrauch und nicht über 120 in knapp 1 Std. Ich brauch noch nicht mal ne Maske und kann dabei Harry Potter “Die Heiligtümer des Todes” hören. Ich bin ja nicht vernagelt, nu lass uns mal überlegen, was alles seitens DB und co. nötig wär, um mich aus der CO² schleudernden Scheißkarre rauszubringen. Nur mich – von der Familie mit zwei Kindern -3 und 7 Jahre alt – wollen wir gar nicht anfangen…

    • Maria Heider

      Ein Anfang wäre dein Umstieg auf einen schlanken Renault Zoe /Elektro, 0 Emission- und die Anschaffung ist vermutlich günstiger als dein Diesel eines bekannten deutschen Autoherstellers, der leider immer noch der Vergangenheit anhängt…und leiser ist er auch noch – besser für Harry Potter 😉 – die Differenz reicht womöglich sogar für die Anschaffung eines Wall Chargers an deinem häuslichen Stellplatz + PV Modul auf dem Dach? Nur so als Anfang… jedenfalls schneller als die Bahnstrukturen zu reformieren … 😉

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