Die Corona-Krise bringt es endlich ans Tageslicht: gestern berichtete “Fakt”, dass bei Stuttgart 21 türkische Leiharbeiter ohne Schutz gegen Corona dessen Gefahren ausgesetzt sind, in Massenunterkünften ohne Masken und Desinfektionsmittel untergebracht waren. Mindestlöhne wurden nicht gezahlt, regelmäßige Tricksereien mit der Arbeitszeit, die überhöht geleistet, aber nicht gerecht abgerechnet wird, sind offensichtlich an der Tagesordnung. Die Baubranche ist dafür bekannt. Die Verträge werden gerne “Werkverträge” genannt. Das ist ein doppelter Zynismus, der gesetzlich beendet werden muss.
Perversion des Begriffs “Werkvertrag”
“Werkverträge” waren in der “alten Bundesrepublik Deutschland” einmal eine Vertragsform nach § 631 BGB, die den Erfolg eines Vertrages vergütete und die lange einer kleinen Klientel meist überdurchschnittlich bezahlter wissenschaftlicher Mitarbeiter*innen vorbehalten waren, die im Laufe ihrer akademischen Karriere – in Universitäten oder der Wirtschaft – in zeitlich befristeten Forschungs- oder Entwicklungsprojekten tätig waren oder als Assistenten an Universitäten Lehrveranstaltungen abhielten und gleichzeitig Studierende unterrichteten. Bis Mitte der 80er Jahre waren solche Verträge hoch oder zumindest hinreichend dotiert, sodass die Vertragsnehmer*innen wirklich Sozialabgaben und Rentenversicherungsbeiträge selbst abführen konnten und immer noch genügend Spielraum bestand, um Forschungen durchzuführen oder Publikationen abzufassen. Oder es handelte sich um Verträge mit freiberuflichen Ingenieur*innen im Bereich der Wirtschaft unter ähnlichen Bedingungen. Im Mittelpunkt stand das Ergebnis, ein vorzulegendes “Werk” – daher der Begriff. Seit Anfang des 21.Jahrhunderts jedoch ist der Begriff “Werkvertrag” pervertiert zur legalisierten Mietsklavenhaltung.
Sklavenmarkt Bauindustrie
Nicht nur bei Stuttgart 21, auf den meisten Baustellen größerer Projekte werden inzwischen Leiharbeiter beschäftigt. Warum eigentlich? Die Baubranche boomt seit Jahren, die Auftragsbücher sind brechend voll und die Nachholbedarfe auch der öffentlichen Hände an Renovierungen und Instandsetzungen werden nicht nachlassen – auch nach Corona nicht. Also ist doch die Frage, warum immer noch Leiharbeiter? “Weil wir es dürfen” würden viele Unternehmer sagen. Es war Wolfgang Clement, der unter Rot-Grün die Leiharbeit und Arbeitnehmerüberlassung legalisiert hat. Das brachte ihm 2006 einen Aufsichtsratssitz bei der DIS AG und den Vorsitz von dessen Tochtergesellschaft “Adecco Institut” sowie einen Aufsichtsratssitz bei der “Deutschen Wohnen” ein. Trotz mangelnder unternehmerischer Erfahrungen hält sich Wolfgang Clement bis heute für einen in wirtschaftlichen Fragen kompetenten Ansprechpartner und der FDP reicht das schon aus.
Sklavenmarkt Fleischindustrie
In den Fleischereibetrieben bundesweit werden Leiharbeiter beschäftigt, die in Massenunterkünften leben und durch “Corona” populär wurden. Die Profite in den Fleischverarbeitungsbetrieben sind exorbitant. Es wäre also möglich, zumal 25% der Schweineproduktion Deutschlands weltweit bis nach China exportiert werden, die Mitarbeiter*innen in einer solch prosperierenden Branche gut zu bezahlen. Das Schweinefleisch würde geringfügig teurer, aber bliebe bezahlbar. Warum also Leiharbeiter? Weil Unternehmer wie Herr Tönnies ohne gesetzlichen Zwang offensichtlich nicht gewillt sind, auf übelste Ausbeutungsverhältnisse zu verzichten, dass sie ein gestörtes Verhältnis zu Tariflöhnen, Gewerkschaften, Arbeitnehmerrechten und Hygienestandards sowie Gesundheitsvorsorge für Beschäftigte haben. Denn dass derartig erfahrene und quasi den Markt beherrschende Unternehmer nicht wissen, was in ihren Schlachtbetrieben vor sich geht, dass sie nicht wissen, welches Spiel die Subunternehmen betreiben, ist völlig unglaubwürdig. Seine offensichtliche Charakterlosigkeit im Umgang mit Arbeitnehmern versucht Herr Tönnies wie andere Zeit- Berufs- und Gesinnungsgenossen wie z.B. Herr Hopp zu kompensieren, indem er sich als Förderer des Fußballs aufspielt. Welch andere Sprache als die der Gesetze kann solch asozial handelnde Individuen überzeugen?
Sklavenmarkt Saisonarbeiter
Ein dritter Hotspot, den Corona zutage gebracht hat, sind die Arbeitsverhältnisse der Leih- und Saisonarbeiter in der Landwirtschaft. Immer wieder wird deutlich, dass hier Ausbeutungsverhältnisse herrschen, dass wie in der Baubranche mit der Arbeitszeit von Arbeitgebern betrogen wird, dass der Mindestlohn trotz Verträgen nicht bezahlt, sondern durch Tricks und Kickback-Geschäfte und durch völlig überzogene Mieten für menschenunwürdige und Corona-anfällige Massenunterkünfte unterlaufen wird, und dass in diesem Jahr sogar mehrfach versucht wurde, die Flugkosten für eingeflogene Leiharbeiter mit zum Teil illegalen oder erpresserischen Methoden zurückzuholen. Auch im gestern berichteten Fall der Bornheimer-Spargelarbeiter hat sich herausgestellt, dass die vorgegebenen Wohnverhältnisse nicht eingehalten werden. Dass 5-Bettzimmer, in denen keine Abstände eingehalten werden konnten, von Anfang an die Regel waren. Das “Werk” des spargelstechenden, erdbeerpflückenden und pflanzeneinsetzenden Wanderarbeitenden wäre also in kg Spargel und Beeren oder Hektar bepflanzter Agrarfläche bemessen und so reichlich zu dotieren, dass für Rente und Sozialabgaben im Herkunftsland, also Rumänien, Polen oder Bulgarien noch hinreichend Geld übrig bliebe. Das Gegenteil ist auch hier der Fall. “Werkvertrag” ist ein Synonym für Ausbeutung, Massenarbeitskräftehaltung und Corona-Gefährdung. So der Befund im Mai 2020. Das Kilo Spargel kostet derzeit im Rheinland etwa 13 Euro, 500 g Erdbeeren 4 Euro – sie würden auch verkauft, wenn sie jeweils einen Euro teurer würden. Ohnehin ist es der Einfluss der Vertriebsoligopole Aldi, Lidl, Edeka und Rewe, wo welcher Euro ankommt, und auch die verstehen nur die Sprache des Gesetzes.
Sklavenarbeit im Alltag
Die drei von Corona ins Licht der Öffentlichkeit gerückten Bereiche Bauindustrie, Fleischverarbeitung und Landwirtschaft sind nur die Spitze des Eisbergs. In der Nahrungsmittelindustrie packen Leiharbeiter Salate und Konserven Seit an Seit mit tariflich bezahlten Kollegen zu Leiharbeitslöhnen. In der Autoindustrie und bei Zulieferern stehen Werksvertragskollegen neben den Festangestellten und verrichten die gleichen Arbeiten für einen Bruchteil der Tariflöhne.
Es gibt keinerlei Grund für “Werkverträge” und Leiharbeit. Ausbeutung und Gesundheitsrisiken sind keine Errungenschaften, auf die das 21. Jahrhundert stolz sein kann. Sie dienen ausschließlich der Profitsteigerung der nicht an der Produktion beteiligten Verarbeitungs- Vermarktungs- und Handelsketten, und gehen zulasten der abhängig Beschäftigten. Ihr Verbot ist ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit und nun überfällig.
Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich: Denn kaum, lieber Roland Appel, dass Deine Forderung „Leiharbeit jetzt verbieten!“ am frühen Mittwochmorgen im Beueler Extradienst publik wird, steht das Thema auch schon in Berlin auf der Tagesordnung des dort tagenden Bundeskabinetts.
Und bereits zur Mittagsstunde des 20. Mai können die Agenturen vermelden: „Das Bundeskabinett hat nach den jüngsten Ausbrüchen des Coronavirus in der Fleischindustrie ein Verbot von Werkverträgen und Arbeitnehmerüberlassungen in der Branche beschlossen. Von kommendem Januar an dürfen nur noch Mitarbeiter des eigenen Betriebes Tiere schlachten und das Fleisch verarbeiten. Darüber hinaus will die Regierung stärkere Kontrollen veranlassen, um die Arbeitgeber zur Einhaltung der Gesundheitsstandards zu zwingen. Die Unternehmen sollen auch zu einer digitalen Arbeitszeiterfassung verpflichtet werden. Das Bußgeld für Arbeitszeitverstöße soll auf bis zu 30 000 Euro verdoppelt werden.“
Erstaunlich, oder nicht? Per Kabinettsbeschluss kann eine jahrzehntelange Praxis flagranter Ausbeutung von Arbeitskräften – sozusagen mit einem Federstrich – beendet werden? Ich würde es gerne glauben, aber so einfach geht es wohl nicht. Der Deutschlandfunk hat, noch bevor das Bundeskabinett sich dem Coronavirus in der Fleischindustrie widmete, den Co-Vorsitzenden der Grünen Robert Habeck zu diesem Thema befragt. Und in diesem Interview wird deutlich, dass über den Beschluss des Regierungskabinetts hinaus noch einiges passieren müsste (https://www.deutschlandfunk.de/fleischindustrie-habeck-fordert-verbot-von-subunternehmer.694.de.html?dram:article_id=477039 ).
Mich hat übrigens sehr gefreut, lieber Roland Appel, dass Du Dich zu den streikenden rumänischen Beschäftigten des Bornheimer Spargelhofs Ritter aufgemacht hast, um zu sehen, unter welchen Bedingungen sie leben und arbeiten. Mit dem Fahrrad bin ich selbst schon oft durch die Felderlandschaft der Rheinischen Tiefebene gefahren, und daher weiß ich, wo diese Wanderarbeiter untergebracht sind – gleich neben der Kläranlage der Gemeinde Bornheim.
Wer von uns Bonner*innen oder Vorgebirgsanrainer*innen würde da wohnen wollen? Irgendwie schäme ich mich, dass ich seit Langem um diese Verhältnisse weiß, und irgendwie „damit lebe“, ohne irgendetwas dagegen zu unternehmen. Hätte man die rumänischen Kolleg*innen aus dem Vorgebirge – zum Beispiel – nicht einladen können, am 1. Mai in einem machtvollen Demonstrationszug der DGB-Gewerkschaften mitzumarschieren? Leider hat das Ordnungsamt der Stadt Bonn, wie wir wissen, ein solches Unterfangen coronabedingt strikt untersagt. Immerhin kümmert sich inzwischen die Freie ArbeiterInnen Union (FAU) um die Forderungen der rumänischen Wanderarbeiter*innen. Allerdings handelt es sich dabei, wie der Bonner General-Anzeiger geflissentlich berichtet, um eine „anarchistische“ Gewerkschaft.
!!!Prima Beitrag