von Muriel González Athenas und Maria Baumeister
Es wird fallen, das Patriarchat! Der 8. März 2020 in Santiago de Chile: Zwei Kölner*innen berichten

Die Ankunft in Santiago de Chile ist bewegend, die Stadt hat sich enorm verändert: die Innenstadt voller Slogans und wunderschöner Gemälde an den Wänden. Unübersehbar ist aber auch die Zerstörung von Machtsymbolen. Die Wut über 40 Jahre Unterdrückung und Ausbeutung hat sich ihren Weg gebahnt. Das Land ist in Arm und Reich gespalten. In der Rebellion seit dem 18. Oktober gibt es ein klares Bewusstsein von den Wurzeln des Neoliberalismus, die auch in der brutalen Kolonialgeschichte der Spanier liegen, in der Respektlosigkeit gegenüber der Bevölkerung, den Indigenen und ihrem jahrhundertealten Kampf. Die christliche Religion brachte die Entwertung der Frauen ins Land, die Respektlosigkeit gegenüber der Natur, die Sklaverei und vieles mehr. Deswegen sind die Mapuche-Fahnen auf den Demonstrationen zu sehen, auf den Balkonen, auf die offiziellen Symbole der Stadt gesprüht, auf den T-Shirts. Die Statuen von Pedro de Valdivia, dem spanischen Eroberer, sind vom Sockel geholt worden.

Ich war seit einigen Jahren nicht mehr in Chile. Bei früheren Aufenthalten besuchte ich meinen Vater und reiste in die Wüste. Mein Geburtsland hatte mich 1973 mit meiner Familie verfolgt, verängstigt und mittellos in Europa ausgespuckt. Seitdem habe ich die historisch-politische Entwicklung in Chile mit Argwohn und einer tiefen Trauer beobachtet. Im Laufe der vielen Jahre im Exil ist das neue Ankunftsland zu meinem Zuhause geworden, besser gesagt, die Stadt, in der ich ausgespuckt gelandet war. Für mich wurde Chile zu einem fremden Land, einer fremden Kultur, die ich nicht verstand. Präsident oder Präsidentin, alle entsprangen sie einer bestimmten ökonomischen, politischen und sozialen Elite. Alle bereicherten sich in ihrem Amt, keine*r brachte auch nur ansatzweise eine Verstaatlichung des Bildungs- und Gesundheitswesens auf die Agenda. Das wäre nach der Diktatur so dringend nötig gewesen. Im Gegenteil, immer weitere Teile der gesellschaftlichen Grundversorgung wurden privatisiert, bis hin zum Wasser. Sebastián Piñera wurde sogar ein zweites Mal zum Präsidenten gewählt, jemand, der sich während und nach der Diktatur im Zuge der Privatisierungen derart bereichert hatte?! So konnten die im letzten Oktober ausgebrochenen Proteste nicht verwundern. Sie wurden immer stärker. Und sie stoppten auch nicht, nachdem der Ausnahmezustand verhängt worden war.
Die Bilder in den Nachrichten erinnern mich an die Zeit nach dem Militärputsch, der Widerstand aber auch. Als ich im Februar 2020 in Chile ankomme, bin ich verblüfft. Ganz Chile scheint auf der Plaza de la Dignidad versammelt. Schon der Weg dorthin führt an einem langen Wandgemälde vorbei, das liebevoll den Widerstand zeigt. Viele Menschen verkaufen T-Shirts, veganes und vegetarisches Essen, Vermummungstücher, Sticker, Aufkleber, Taschen, Fanzines und Zeitschriften. Etwas Großes ist passiert und setzt sich fort. Allmählich weicht meine Skepsis und macht Platz für Hoffnung und Euphorie.

Etwas Großes ist passiert

Wir wollen mehr erfahren und uns beteiligen. So nehmen wir an der ersten lesbofeministischen Asamblea teil. Hier sprechen die Freundinnen der Territorios. Das Wort Territorio kommt aus dem indigenen Kampf. Es bezeichnet die Gebiete, die den Indigenen von der Kolonialverwaltung und ihren Nachfolgern, den demokratischen Regierungen, weggenommen wurden und die sie zum Teil zurückfordern. In der sozialen Bewegung samt ihren zahlreichen feministischen Kämpfen ist dieser Begriff für die politische Arbeit in den Vierteln übernommen worden. Schließlich stellt die Einteilung der administrativen städtischen Einheiten koloniales Erbe dar. Der Zusammenhang territorialer sozialer Beziehungen steht im Vordergrund bei der Organisierung. Darin zeigen sich antikoloniales Bewusstsein und das Zusammenbringen verschiedener Kämpfe. In den Territorien leben die Menschen und pflegen die nachbarschaftlichen Beziehungen; einige davon sind vor vielen Jahren besetzt worden. Hier bilden sich Nachbarschaftskomitees, die über Forderungen und Strategien des politischen Kampfes diskutieren und sie in politische Aktionen umsetzen.
Wir haben sehr überzeugte Menschen getroffen, vor allem FrauenLesben, QueerFeministinnen, die die Zärtlichkeit der Menschen betonen, um die Leidenschaft der Kämpfe wissen, ein ausgeprägtes Klassenbewusstsein haben, das über das klassisch marxistische Verständnis hinausgeht. Sie kennen die Ausgebeuteten, sie ermächtigen sich selbst und andere, eine alte feministische, vielleicht auch indigene Weisheit.
Die autonomen Feministinnen, die sich in mehreren Plena zentral organisieren, aber auch in ihren jeweiligen Territorios, haben eine dichte Agenda für die Mobilisierung rund um den 8. März auf die Beine gestellt. Schon Tage vorher werden Workshops, Veranstaltungen, Lesungen, Beratungen, Selbstverteidigung, Proteste und Feste organisiert. Die autonomen und anarchistischen Feministinnen wollen sich aber nicht an der großen offiziellen Demo beteiligen, es gibt Kritik am institutionalisierten Feminismus und dessen Zusammenarbeit mit dem Staat. Deshalb organisieren sie nun entlang der Demoroute andere Aktivitäten. Und alle begegnen sich solidarisch bis schwesterlich, wenn es um den gemeinsamen Widerstand gegen die Carabineros geht.
Der 8. März ist gigantisch: Frauen, Mädchen, Lesben, Trans- und Interpersonen jeder Altersklasse, mit und ohne politische Erfahrung sind auf der Straße, kaum Männer. Weibliche Pacos stehen vor zu schützenden Gebäuden, in den abgesperrten Seitenstraßen sind männliche Pacos postiert, mutig stehen die Demonstrantinnen vor ihnen und schreien sie an. Bis zu 1,8 Millionen weibliche Personen in der Innenstadt von Santiago – wow! Die Größe, die Vielfalt und die Kraft sind kaum zu erfassen. Uns läuft immer wieder ein Schauer über den Rücken angesichts der Entschlossenheit und Freude der Beteiligten. Es gibt keinen einzigen Lautsprecherwagen, aber Sprechchöre ohne Ende, hier eine kleine Auswahl: Alerta, alerta, alerta machista, que todo el territorio se vuelve feminista! (1) oder Mujer que se organiza, no plancha mas camisa! (2).

Für den 9. März ist zum Frauenstreik aufgerufen worden. Auf der Plaza de la Dignidad strömen am Abend die Frauen zusammen und protestieren lautstark gegen die herrschende Politik. Die Polizei antwortet mit Tränengas und Pfefferspray. Obwohl wir uns am Rande aufhalten, atmen wir in diesen Tagen in Santiago so viel Tränengas oder Schlimmeres ein wie noch nie in unserem Leben. Die Luft auf dem Platz ist gesättigt mit Reizgas. Aber die Menschen lassen sich davon nicht abschrecken. Ihre Wut, Erfahrungen und die politische Analyse lassen sie nach vorne gehen, niemals zurück. Zwei Generationen sind mit dabei, die keine Putsch- beziehungsweise Diktaturerfahrungen haben. Sie haben keine Angst, wie sie es formulieren. Die Zahl der Student*innen und Schüler*innen ist immens groß, auch ganz junge Aktivistinnen sind zu sehen. Das zeigen auch die Themen auf der Straße: Sexualisierte Gewalt, Legalisierung von Abtreibungen, Gewalt gegen Lesben, Diskriminierung in der Schule, an der Uni und am Arbeitsplatz aufgrund von Geschlechterzuschreibungen, Transphobie und vieles mehr finden sich an den Wänden und in Demosprüchen thematisiert, skandalisiert und angeprangert. Überhaupt sind Lesben und lesbisches Leben viel stärker in der Öffentlichkeit als noch vor ein paar Jahren, obwohl es seit Diktaturzeiten autonome und linksradikale lesbische Aktivistinnen gibt. Heute gehen sie offensiv mit ihrer Sexualität um, mit ihren Lebensformen, ihren politischen Forderungen nach Gewaltprävention, feministischer Körperpolitik und ihrer Kritik am neoliberalen Agieren der Regierungen. Sie setzen sich auch zusammen mit den Bewohnerinnen der Territorios und fordern ein Ende der machistischen Gewalt sowie der gesellschaftlichen Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen/Lesben und Mädchen als Zurichtungsinstrument. Auch wegen dieser Zustände lehnen Teile der feministischen Bewegung den offiziellen Aufruf zum 8. März ab. Sie wollen nicht mit Strukturen wie der neuen „Feministischen Partei“ (Partido Alternativo Feminista, PAF) zusammenarbeiten, da sie sich auf das perfide Spiel der Regierung eingelassen hat, das im November begann und im Dezember in das sogenannte „Friedensabkommen“ mündete. Mit dieser Vereinbarung sollen Teile der sozialen Bewegung befriedet werden, wofür ihnen Geld und Posten angeboten wurden.

Erstes Opfer von Corona: die Rebellion?

Und nun ist COVID-19 da. Die von uns interviewten Frauen sind davon überzeugt, dass das erste Opfer der Corona-Krise die Rebellion ist. Schutzmaßnahmen seitens des Staates wird es wegen Corona nicht geben, außer Ausgangssperren, die sich die arbeitende Bevölkerung aber nicht leisten kann. Niemand zahlt ihnen etwas. In Chile tragen seit Beginn der Corona-Krise zwei Drittel der Leute einen Mundschutz, aus Selbstschutz. Auf den Straßen findest du an jeder Ecke eine/n Verkäufer*in mit Masken und Desinfektionsmitteln. Hier mischen sich Ökonomie und Sinnhaftigkeit. Die feministischen Treffen gehen nach einer kurzen Pause weiter. Insbesondere herrscht jetzt die Sorge um die politischen Gefangenen aus Diktatur-, aber auch aus Aufstandszeiten. Aufgrund der Besuchssperre werden die Gefangenen mit Briefen, Essen, Kleidung, Medikamenten und Literatur versorgt. Lesbisch-feministische Aktivistinnen sind im Gefängnis physischer und psychischer Folter ausgesetzt. Fast täglich gibt es nun Solidaritätsbekundungen vor den Knästen.
Auf die Frage, ob Corona die Bewegung schwächen oder beenden wird, sagen die meisten: Nein, das werden sie nicht schaffen. Für Piñera kam das Virus wie gerufen, am 22. März rief er den Katastrophenzustand aus und ermächtigte das Militär, die Kontrolle über das Land zu übernehmen. Die Pacos regeln wieder den Verkehr an den zerstörten Ampelanlagen. Der Reiter Manuel Baquedano steht als traurige Figur ohne Farben und Sprüche auf seinem Platz. Aber wie lange? Die Erfahrungen in den Territorien werden nicht im Nichts verschwinden, sondern sich andere Wege suchen, davon sind die meisten überzeugt. Corona wird die soziale und ökonomische Situation von Millionen Chilen*innen verschärfen, was Anlass für weitere Kämpfe sein wird. Mit seinen ersten Maßnahmen hat Piñera die Arbeitgeber gestärkt. In Corona-Zeiten sind fristlose Kündigungen und erzwungene Mehr- und Kurzarbeit wieder möglich und legal. Die meisten Straßenverkäufer*innen bekommen bis heute keine Unterstützung. Aber die Feministinnen, die Primera Línea, Schüler*innen und viele mehr erobern sich allmählich die Straße zurück. Ihnen ist bewusst, dass der Lockdown nur eine Unterbrechung ihrer Kämpfe ist.

1) Sei wachsam, Macho, denn das ganze Territorium wird feministisch!
2) Die organisierte Frau bügelt keine Hemden mehr
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 435 Mai 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

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