Der verhüllte Reichstag bescherte vor genau 25 Jahren den Deutschen einen einzigartigen Moment heiterer Selbstreflexion. Heute müsste man das Experiment eigentlich wiederholen
“Ich schaue mir die Sache nicht an.“ Helmut Kohl blieb standhaft. Schon im Februar 1994, bei der historischen Debatte im Deutschen Bundestag um Christo und Jeanne-Claudes Projekt zur Reichstagverhüllung, war der Kanzler der Einheit auf der Seite der 223 Abgeordneten geblieben, die gegen das Projekt gestimmt hatten.

Gewohnt trotzig blieb der CDU-Politiker seiner Ablehnung treu und übte sich in Wahrnehmungsverweigerung, als am Morgen des 24. Juni 1995 – also vor genau 25 Jahren – 90 Profikletterer und 120 Montagearbeiter am Reichstag 100.000 Quadratmeter aluminiumbedampftes Polypropylen-Gewebe losgürteten und die Losung „Dem Deutschen Volke“ darunter verschwand. So entging Kohl, was die Mehrzahl der rund fünf Millionen Besucher in jenem Sommer immer wieder stammelnd in die Vokabel fassten: „Atemberaubend schön!“

Christo und Jeanne-Claudes ­„Wrapped Reichstag“ war der Schlusspunkt eines 24 Jahre währenden Prozesses, der bis heute seinesgleichen sucht. Begonnen hatte alles per Zufall. Das Künstlerpaar war gar nicht speziell an dem deutschen Identitätsbunker interessiert. Bis ihnen Michael Cullen eine Ansichtskarte von dem Bau schickte.

Der in Berlin lebende US-Historiker, der in Charlottenburg die Galerie Mikro betrieb, kannte die Künstler nicht persönlich. 1968 war er durch ihr Projekt „Verpackte Luft“, eine steil aufragende Plastikwurst auf der documenta 4 in Kassel, auf sie aufmerksam geworden. Der Faszination des Baus an der Schnittstelle zweier Welten, den ihm Cullen schmackhaft zu machen versuchte, konnte sich der Ostblockflüchtling Christo dann nicht entziehen.

Das „dramatische Erlebnis von großer visueller Schönheit“, wie Christo und Jeanne-Claude in ihrer offiziellen Pressemitteilung damals das 14-tägige Projekt nannten, machte natürlich Kunstgeschichte. Und es gehört zu dessen Paradoxie, dass die Bilder, die pünktlich zu seiner 25. Wiederkehr nun die Medien wie das Netz fluten, und dass alle Christo-und-Jeanne-Claude-Retrospektiven, wie sie derzeit in einer schönen Schau in Berlins Palais Populaire und im Herbst im Pariser Centre Pompidou zu sehen sind, auch nicht im Entferntesten das unwiederholbare Erlebnis wiedergeben können, das alle Besucher damals so in Bann schlug.

Zu Beginn der 90er Jahre war Berlin, trotz aller Freude über den Mauerfall, noch eine düstere Höhle. Tief hatte sich die Kalte-Kriegs-Mentalität in das Stadtbild und den Habitus seiner Bewohner gegraben.

Der verhüllte Reichstag wirkte da nicht nur wie ein temporärer optischer, sondern auch wie ein atmosphärischer Aufheller. Er gewann diesem Trümmerhaufen der Geschichte mit einem betörenden Kunstgriff ein unerwartetes Gefühl undeutscher Anmut und Leichtigkeit ab – eine psychologische Zeitenwende.

Unvergessen für alle Beteiligten, wie sich jeden Tag neu eine heitere, ebenso zwang- wie absichtslose Öffentlichkeit formierte und die Farb- und Perspektivwechsel an dem Skulptur gewordenen Parlament bestaunte und diskutierte. Diese Vollversammlung im Zeichen der Schönheit überzeugte Zweifler: „Ich habe mich damals geirrt“, gestand selbst der hartnäckige Christo-Kritiker Wolfgang Schäuble 24 Jahre später ein.

Das hedonistische Fanal, das von dem Projekt, neben aller politischen Symbolik, ausging, ebnete auch den Weg für die Love-Parade. Ein Jahr später fand der Geheimtipp für Raver auf dem Kurfürstendamm erstmals als Großveranstaltung um die Siegessäule im Berliner Tiergarten statt. War Letzteres, nach den Worten des Love-Parade-Erfinders Dr. Motte, eine Ode an den Klang, war Ersteres eine Ode an die schöne Gestalt. Hinter der singulären Ästhetik rückt aber in den Hintergrund, dass der „Wrapped Reichstag“ als soziales Projekt einmalig war. Es dürfte kaum einer Feuilletondebatte im Nachkriegsdeutschland je gelungen sein, derart unterschiedliche Akteure in einem über zwei Jahrzehnte währenden Diskussionsprozess zu vereinen. Darin ging es nicht nur um das Für und Wider eines Kunstprojekts, sondern vor allem um nationale Identität.

Wolfgang Volz, Christo und Jeanne-Claudes langjähriger Hausfotograf, hielt auf seinen Fotos damals die Akteure dieses ästhetischen Solidarpakts fest: die Zeit-Journalistin Petra Kipphoff, wie sie mit dem legendären Hamburger Kunsthändler Ernst Hauswedell diskutiert, etwa. Die Christos bringen alle in einen gemeinsamen Diskurs, von Karl Carstens über Rita Süssmuth bis Willy Brandt, von dem Kölner Industriellen Otto Wolff von Amerongen bis zu PDS-Bundestagsabgeordneten.

Im Haus des Zeit-Verlegers Gerd Bucerius konstituiert sich 1978 ein großbürgerliches Kuratorium für Christos Projekt. Der Berliner Bauunternehmer Roland Specker, später Direktor in Christos Büro, etabliert im Juni 1986 den Verein „Berliner für den Reichstag“ und fängt an, Unterschriften für Christo und Jeanne-Claude zu sammeln. Ihr „work in progress“ wird zu einem Nukleus zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation, einer Art Grassroots-Bewegung. Die fortwährende Debatte, die sie anstoßen, wird zu einem Paradigma kommunikativen Handelns.

Welche intellektuelle Herausforderung das Projekt bedeutete, ließ sich daran ablesen, dass ein progressiver Geist wie Günter Gaus, lange der Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, eine „Scheu“ vor dem „Fassadenexperiment“ verspürte. Der große Dramatiker Peter Hacks, selbst ernannter Prophet der „Maßgaben der Kunst“, ließ sich zu dem dümmlichen Vers „Ein Irrer wickelt Lumpen um ein Haus“ hinreißen. Und Die Wahrheit, das Blatt der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, vermutete die US-Firma Standard Oil als Drahtzieher des Projekts.

Die Vorbehalte gegen das Projekt waren immer groß. Es hatte etwas Hilfloses, dass die Konservativen ausgerechnet eine nationale Ikone nicht entehren lassen wollten, die für die Selbstentmächtigung des deutschen Parlamentarismus stand. Befürworter steigerten sich in eine fast religiöse Hoffnung auf Reinwaschung von der widersprüchlichen deutschen Demokratiegeschichte. Wegen seiner Spektakelhaftigkeit stand es dann wieder unter dem Verdacht der nationalen Erbauungsästhetik.

Das Projekt bedeutete eine große intellektuelle Herausforderung. Auch progressive Geister empfanden „Scheu“ davor

Ganz unschuldig daran waren die beiden Gewandmeister, die es so beharrlich verfolgten, freilich nicht. Einerseits sprachen Christo und seine Frau gern von der „subversiven Dimension“ des „Wrapped Reichstag“. Um konservative Politiker auf ihre Seite zu ziehen, versuchten sie es 1977 dann aber auch andererseits mit der Vokabel von der „Apotheose und Respektsbezeugung“ vor einem nationalen Symbol. Und so wie sie einmal die „Ablenkung von den trivialen Sorgen des Alltags“ hervorhoben, um dafür zu werben, fragte sich manche gelegentlich: Kraft durch Freude durch Christo?

Der verhüllte Reichstag als deutsches Lourdes, das die nationalen Gebrechen durch das Auflegen von Silbertuch wundersam heilt?

Spätestens seit dem Jahr 1992 sah man auf Christos Zeichnungen des trutzigen Geschichtssolitärs eine kleine schwarz-rot-goldene Fahne aufziehen, die sich leicht im Wind bläht. Kleine, aber feine Indizien für die Befürchtung, dass der Übergang zur dritten, der berüchtigten „Berliner“ Republik womöglich doch als nationalistischer Kostümwechsel inszeniert würde.

Die Skepsis, ob sich Christo und Jeanne-Claudes über die Jahre immer gefälligere Ästhetik gegen den Sog einer konservativen Deutungskultur behaupten könne, die die symbolische Integration im Zeichen der Nation sucht, offenbARTE freilich immer mangelndes Vertrauen in die Mündigkeit der Betrachtenden. Auf die silbern umwogten Bahnen konnte sich jede:r Besucher:in sein/ihr ganz eigenes Wunschbild von Deutschland projizieren.

Die Kunst als Katalysator entspannter kollektiver Selbstreflexion und Erinnerungsproduzent: Das Bild des silbern umwogten Reichstages hat sich mittlerweile tiefer in das deutsche Kollektivgedächtnis gegraben, als es der rußige Bau des Nachkriegs je vermochte. Fast möchte man das großartige Experiment heute mit demselben Gebäude noch einmal wiederholen.

Erkenntnis durch Verfremdung, die Welt sichtbarer machen durch Verhüllung, schiene heute nötiger denn je. Vielleicht hülfe es einem von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass auf Andersdenkende durchzogenen Land noch einmal dabei, über seinen verdammten Schatten zu springen.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).