mit Update nachmittags
Stuttgart / KarstadtKaufhof / TV-Fußball / Lokaljournalismus
Nach dem Wochenende spielte sich die übliche rechtskonservativ-deutsche Publizitätsagenda ab. Irgendwo randalierte irgendjemand. Darum mehr Polizei, schärfere Gesetze, die Linken sind schuld, Prozess am Hals. Aber irgendwie funktioniert das auch nicht mehr so zuverlässig, wie es all die Jahrzehnte diese (westdeutsche) Republik konstituiert hat.

Stuttgart – wer überrascht und ahnungslos war, war wohl woanders

Zur Wochenendrandale in Stuttgart entsteht sofort die Frage: nie dagewesen? Völlig überraschende Eskalation? Ja, wo waren denn in den letzten Jahren die Stuttgarter Polizei, die Stuttgarter Behörden und Parteien, Medien – die das jetzt alles nicht verstehen? Stuttgart ist nicht Istanbul oder New York, hat keine No-Go-Areas wie Rio oder Johannesburg – das lächerliche Kaff ist gerade mal doppelt so gross wie Bonn. Und alle Genannten waren überrascht, gar überrumpelt? Dann haben sie ja wohl ihre Arbeit nicht gemacht, sondern sich in selbstreferentielle Parallelgesellschaften zurückgezogen. Sowas kommt von sowas. Herzlich willkommen, zurück im wahren Leben! Jetzt schickt Ihr Eure Bullen – nein auf keine Müllhalde – sondern ins Deeskalationstraining. Wenn Mani Stenner noch lebte, würden wir ihn Euch gerne ausleihen.

Die Dummverkäufer rund um KarstadtKaufhof

Ebenso unwitzig ist die allgemein verbreitete Verblüffung über die KarstadtKaufhof-Schliessungen. Kommunalpolitiker*innen mit Wirklichkeitskontakt würden jetzt ihre Pläne aus den Schubladen ziehen, was sie schon immer als Belebung ihrer toten City vorhatten. Ich bin in Essen aufgewachsen, wo, seit ich lebe, oben auf dem Hotel Handelshof vor dem Hauptbahnhof der Slogan prangt: “Essen – die Einkaufsstadt”. Zu Zeiten des strengeren Ladenschlussgesetzes bedeutete das: um 18.30 h war diese City tot. Da wohnte keine*r. Seit ich in Bonn wohne, seit 1976, fragte ich mich, wie lange das mit zwei Warenhäusern am Münsterplatz gutgeht. Seit der österreichische Geldwäscher und Immobilienspekulant die Reste beider Kaufhauskonzerne gefressen hat, war eindeutig Alarm. Doch welche Oberbürgermeister*innen, welche Wirtschaftsminister*innen und -dezernent*inn*en, welche City-Marketing-Schwätzer*innen, und ja, auch welche Gewerkschaft ver.di hat diesen Alarm gehört? Haben Sie alle etwa keine Kinder und Enkel, die schon lange ihren meisten Schrott bei Jeff Bezos kaufen? Oder sind die Genannten selbst alle so bewusstlos, dass sie es selbst tun, und sich jetzt wundern, wie Klimawandelleugner*innen über das Wetter? How dare you? – dass Ihr Euch jetzt vor Mikrofone und Kameras stellt, und falsche Tränen vergiesst? Für wie doof wollt Ihr uns Publikum noch verkaufen?

Die dummen TV-Bosse

Wie gestern die Herren Buhrow und Herres, Vorsitzender und Programmdirektor der ARD. Sie platzten fast vor Stolz vor ihren eigenen Kameras, weil sie den Fußballmilliardär*inn*en unser Geld für ein weiteres Auskommen bis 2025 dazu geworfen haben. Weder haben sie was von der Virusdebatte des letzten halben Jahres bemerkt, nichts von den Fanprotesten, noch nicht einmal ihre eigenen Probleme mit der Erhöhung der Haushaltsabgabe um weniger als einen Euro, und auch nichts von den abstürzenden Einschaltquoten der ARD-Sportschau (weniger als 4 Mio. samstags). DFL-Chef Seifert hat sein zufriedenes Grinsen angestrengt vermieden, aber die Leichenbittermiene angesichts geringfügigst sinkender Einnahmen wollte ihm nicht gelingen. Er weiss weder, wann die nächste Saison beginnen kann, und noch weniger, wann wieder echte Menschen ins Stadion dürfen – aber den Vertrag hat er schon im Sack. Dagegen ist sogar meine minimale Rente unsicherer. Die gesellschaftlichen, politischen, klimatischen Veränderungen sowie das Virusgeschehen der nahen Zukunft werden diese alten Herren hinwegfegen, wie es die Stuttgarter Randale getan hat.

Die Wahrheit über Lokaljournalismus

Und das ist auch das Schicksal des Lokaljournalismus. Alle beteuern seehoferartig wie wichtig er für den Zusammenhalt der Gesellschaft sei. Aber investieren will niemand. Im Gegenteil. Alle Eigentümer*innen haben die Koffer für die Flucht aus dem Geschäft schon gepackt. Die letzten Tropfen aus der Zitronenscheibe nehmen sie noch mit, und dann nichts wie weg. Lesen Sie hier die Wahrheit über Lokaljournalismus in Deutschland, heute.
Update nachmittags: eine sehr konstruktive Abhandlung von Lorenz Lorenz-Meyer “Nachrichtenjournalismus und die Sicherung der digitalen Öffentlichkeit” findet sich heute als Übernahme aus einem guten Buch bei bruchstuecke.info.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net