von Alix Arnold
Genderkämpfe in Argentinien – Bücher mit Geschichten von Rosa Hilfe über Trans-Formationen bis Punk

Die feministischen und Genderbewegungen haben in den letzten Jahren in Lateinamerika eine enorme Stärke entwickelt. Seit der ersten Kundgebung unter dem Motto #NiUnaMenos 2015 in Buenos Aires hat sich die Bewegung gegen Gendergewalt über den ganzen Kontinent verbreitet. Im Jahr 2018 eroberte die „Grüne Flut“ für die Legalisierung von Abtreibungen die Straßen. Schon 2012 wurde in Argentinien zum ersten Mal auf der Welt die freie Wahl der Geschlechtsidentität in einem Gesetz festgeschrieben. Drei 2019 erschienene Bücher beleuchten die lange Vorgeschichte der Bewegungen und ihrer Erfolge.

Elend illegaler Abtreibungen inspiriert Selbsthilfenetzwerke

Abtreibungen sind in Argentinien immer noch bis auf wenige Ausnahmen strafbar. Das Gesetz zur Legalisierung wurde im Juni 2018 im Parlament angenommen, verfehlte jedoch bei der zweiten Abstimmung im Senat knapp die Mehrheit. Aber die Bewegung, die seitdem mit grünen Halstüchern im Alltag präsent ist und Massen mobilisiert, lässt sich nicht mehr übergehen. Und sie organisiert die Selbsthilfe. Ausgehend von dem 2001 in Neuquén gegründeten feministischen Kollektiv Colectiva La Revuelta ist ein Netz von Socorristas entstanden, von Unterstützerinnen oder Retterinnen, die bei Abtreibungen mit den Medikamenten Mifepriston und Misoprostol Beratung und Begleitung anbieten. Laura Rosso hat die Erfahrungen in dem Buch „Estamos para Nosotras“ – Wir sind für uns da – zusammengefasst und lässt dabei viele Stimmen zu Wort kommen. Neben nüchternen, aber beeindruckenden Zahlen finden sich poetische und persönliche Anmerkungen sowie Geschichten von Beteiligten. Häufig werden diejenigen, die wegen einer ungewollten Schwangerschaft zur Rosa Hilfe kommen, später selbst Socorristas. La Revuelta gründete 2009 zuerst die Violette Hilfe, um Frauen bei Prozessen zu begleiten und der Justiz Druck zu machen, damit sexistische Gewalt verfolgt wird. Auslöser war ein Urteil von lediglich vier Jahren Haft gegen einen ehemaligen Polizisten, der eine 11-Jährige vergewaltigt und geschwängert hatte. Ein Jahr später entstand im Zusammenhang mit der landesweiten Kampagne für legale, sichere und kostenlose Abtreibung die Rosa Hilfe, Socorro Rosa. Auch hier stand am Anfang eine einzelne Erfahrung. Ein junger Mapuche hatte sich an seine ehemalige Lehrerin bei den Revueltas gewandt, weil seine 19-jährige Freundin schwanger war. Die Revueltas begleiteten das Paar zu dem Abtreibungstermin und erlebten mit den beiden das Elend illegaler Abtreibungen, die nicht nur gefährlich und teuer, sondern auch mit schlechter und demütigender Behandlung verbunden sind. Dies war der Beginn des Selbsthilfenetzwerkes, zu dem mittlerweile Gruppen im ganzen Land gehören. Im Jahr 2014 begannen sie, ihre Unterstützung systematisch zu dokumentieren. Zwischen 2014 und 2018 begleiteten die Socorristas 19 361 Abtreibungen. Besonders 2018, in dem Jahr der Debatte um das Gesetz, hatten die Gruppen großen Zulauf. In diesem Jahr bewahrten sie 1159 Jugendliche (90 davon noch unter 14 Jahren) vor ungewollter Mutterschaft.

Statt der anfänglichen Einzelberatungen finden jetzt Gruppenberatungen statt, nicht nur aus Gründen der Zeitersparnis, sondern zwecks kollektiven Austauschs von Wissen und Erfahrungen, ohne Bevormundung oder Hierarchie. Es gilt das Prinzip der „Sororität“, der schwesterlichen Solidarität, und es geht um die Politisierung des Themas. Treffen finden auf öffentlichen Plätzen statt. Anfangs wurden die Notrufnummern mit Graffiti und Zetteln bekannt gemacht. Heute informiert eine Website über Kontaktadressen und über die Methoden der Abtreibung mit Medikamenten. Anfang März hat Argentiniens Präsident Fernández einen neuen Entwurf für ein Abtreibungsgesetz angekündigt. Die Socorristas werden weitermachen, auch wenn das lange erkämpfte Gesetz endlich durchkommt: „Damit Abtreibungen feministisch, liebevoll und frei sind“.

Das Leben von Trans*personen in Argentinien ist trotz des fortschrittlichen Gesetzes zur Geschlechtsidentität bis heute von Armut und Gewalt geprägt. Die Lebenserwartung transsexueller Personen liegt bei 35 Jahren. Etwa drei Viertel der Trans-Community lebt von Prostitution. Nur wenige haben einen Schulabschluss. Besonders die Älteren haben Erfahrungen mit extremer Polizeigewalt und wurden noch bis Ende der 1990er-Jahre immer wieder wegen Prostitution, Homosexualität oder Transvestismus inhaftiert. Für die vielen kleinen Schritte und Kämpfe auf dem Weg zu Anerkennung und Rechten war sehr viel Mut nötig. Das Medienkollektiv Lavaca hat verschiedene Artikel, die zwischen 2007 und 2019 in der Monatszeitschrift MU erschienen sind, in einem Band zusammengestellt, der inzwischen kostenlos zum Download steht. Die Geschichten von Projekten und Protagonist*innen zeigen die Vielfalt der Bewegung.

Eine der bekanntesten Aktivist*innen war Lohana Berkins, Gründerin der ersten Organisation für den Kampf um die Identität von Trans*personen. Später war sie an der Gründung der Textilkooperative Nadia Echazú, des ersten selbstverwalteten Betriebes von Trans*, sowie der selbstorganisierten Schule Bachillerato Popular Trans Mocha Celis beteiligt, die Schulabbrecher*innen ermöglicht, den Abschluss nachzuholen. Beide Projekte sollen Auswege aus der Prostitution fördern und sind nach verstorbenen Mitkämpfer*innen benannt. Auch Marlene Wayar hat Prostitution und Gewalt erlitten, nachdem sie als Jugendliche beschloss, nicht mehr der Sohn zu sein und damit ohne Familie, Wohnung und Schule dastand. Sie hat es geschafft, sich daraus zu befreien, zu studieren und die Leitung der ersten Trans-Zeitschrift Lateinamerikas, El Teje, zu übernehmen. Andere Projekte sind Selbsthilfegruppen bei Facebook oder die Trans*-Jugendlichen, die sich bei Instagram gegen den Adultozentrismus1 organisieren.

Luana – das erste Transmädchen

Beeindruckend sind die teils sehr persönlichen Geschichten einzelner Menschen. Gabriela Mansilla ist die Mutter von Luana, dem ersten Transmädchen, das als Minderjährige ihren Ausweis nach dem neuen Gesetz ändern konnte. Schon als es die ersten Worte sprechen konnte, hatte das Kind geäußert, dass sie ein Mädchen, eine Prinzessin sei. Aber der Psychologe riet der Familie, die männliche Identität notfalls mit Zwang durchzusetzen. Dies bedeutete Schläge, kalte Duschen und Einsperren. Die Mutter hatte das Wort Trans noch nie gehört, aber nachdem sie Informationen im Internet und psychologische Hilfe bei einer Organisation von Homosexuellen gefunden hatte, akzeptierte sie den selbstgewählten Namen Luana. Mit einer Pressekampagne konnte sie die Identitätsrechte nach dem neuen Gesetz, die ihrer Tochter als Minderjähriger zunächst verweigert wurden, durchsetzen.

Andere Eltern berichten von dem schwierigen Prozess, den sie durchmachen mussten, um die Transfrau, die ihr Sohn liebt, als Schwiegertochter akzeptieren zu können. Der bekannte Anwalt Cristian Hendrickse, der in Patagonien mit Umweltorganisationen gegen den Bergbau aktiv war, hat aus Angst, seine Familie zu verlieren, jahrelang nur heimlich Frauenkleider und Schminke gekauft, und seine Geschlechtsidentität nur im weit entfernten Buenos Aires ausgelebt. Nun lebt die Anwältin Cristina Montserrat Hendrickse dort mit ihrer Familie und kämpft für die Trans-Quote bei Arbeitsplätzen.

Nach dem Gesetz kann in Argentinien jede Person ihr Geschlecht frei wählen, geschlechtsangleichende medizinische Behandlungen sind kostenlos und erfordern keine psychiatrischen Gutachten. In der Praxis muss dies aber oft erst durchgesetzt werden. Und wie die Künstlerin Susy Shock sagt, geht es um mehr: „Wir kommen nicht, um der Gesellschaft zu sagen: ‚Ich will einen Platz an deinem Tisch‘. Wir kommen, um euch zu fragen, was ihr da für einen Tisch gebaut habt. Denn in dieser binären Konstruktion Mann / Frau seid ihr gleichzeitig Stützen und Opfer. Wir kommen, um zu sagen: ‚Mann oder Frau zu sein, so wie es gefordert wird, ist einfach deprimierend‘.“

Und was hat Punk damit zu tun? Das erfahren wir aus dem Buch von Nicolás Cuello und Lucas Disalvo über „Punk-Gegenkulturen und Sexualpolitiken in Argentinien 1984-2007“. Als Patricia Pietrafesa, eine der Protagonist*innen der damaligen Bewegung, die Autoren kennenlernte, war sie begeistert von dem Projekt und dem guten Gespür der beiden für diese Geschichte, zu deren Beginn sie noch gar nicht geboren waren. Pat hat ab 1984 das Fanzine Resistencia herausgegeben und spielt seit Ende der 80er Jahre in Bands. Mit Pilar Arrese, die ebenfalls in dem Buch zu Wort kommt, gründete sie 1996 die bis heute existierenden She-Devils und später die auch hier inzwischen sehr beliebten Kumbia Queers. Sie stellte ihr in vielen Kartons aufbewahrtes Archiv von Fotos, Flyern und Fanzines und ihre eigenen Erinnerungen zur Verfügung und brachte das Buch in ihrem Verlag Alcohol y Fotocopias heraus. Aus dieser Zusammenarbeit ist ein vielschichtiger Überblick entstanden, der zeigt, wie sich die Energie des Punk gegen staatliche Gewalt und Normen, aber auch immer wieder gegen Machismus, Homophobie, Anpassung und Verbürgerlichung innerhalb der Bewegungen richtete. Denn wie es der queere Punk Eduardo „El Profe“ Valenzuela, dem das Buch gewidmet ist, in einer seiner „Selbstkritiken“ 1990 schrieb, ist der Feind auch in uns drin: Wir sollten nicht glauben, dass wir außerhalb des Systems stehen. Die vielen Geschichten aus der Subkultur werden in Beziehung zu den jeweiligen politischen Ereignissen und Debatten gestellt und auch zu Entwicklungen in anderen Ländern, denn Punk war von Anfang an internationalistisch.

„Wenn es nur einen Weg gibt, werde ich ihn nicht gehen.“

Der Beginn des Punk in Argentinien nach dem Ende der Diktatur 1983 wurde mit heftigster Repression verfolgt. Immer wieder endeten Konzerte mit Razzien und Verhaftungen. Pilar berichtet, dass sie selbst nach einer Verhaftung auf der Wache zum ersten Mal die Brutalität gegenüber Trans* miterlebte. Punk wurde zu einem Anziehungspunkt für andere Verfolgte, für Homosexuelle, Trans* und Prostituierte. Die Offenheit für „Dissidenzen“, wie nicht-heteronormative Sexualitäten in Argentinien genannt werden, ging jedoch verloren. Besonders mit dem Aufkommen von Hardcore und Straight Edge setzten sich in der Szene Machismus, Homophobie und Lustfeindlichkeit durch. Die wenigen Frauen, die sich auf Bühnen wagten, wurden beschimpft und bespuckt. Aber nach dem Motto der She-Devils „Sei kein Opfer, verteidige dich“ eroberten sie mit eigenen Fanzines und Festivals den Raum. Gegen die Haltung von Straight-Edge-Bands, die Abtreibungen verurteilten, brachten She-Devils mit der Band Fun People 1997 die Split-EP „Die illegale Abtreibung ermordet meine Freiheit“ heraus. Die Idee, eine Platte mit politischem Motto und Informationen zu machen, hatten sie von der Anarcho-Punkband Crass aus England. In der Folge bekamen sie Einladungen, bei feministischen Veranstaltungen zu spielen, hatten aber zu der oft bürokratischen und parteipolitischen Funktionsweise der etablierten Frauenbewegung, die wiederum mit Pogo nichts anfangen konnte, ein distanziertes Verhältnis. Sie organisierten lieber „Travesti Punk“ und Homocore Festivals. „Keine gerade Linie, kein einfacher Weg“ heißt ein Lied der She-Devils, das dem Buch den Titel gegeben hat: „Wenn es nur einen Weg gibt, werde ich ihn nicht gehen.“ Die hier versammelten Erfahrungen machen Lust, an diesen queer-punkigen Widerstand gegen die herrschende Normalität und an diese Kämpfe um ein ausschweifendes Leben in einer freien Gesellschaft anzuknüpfen.
www.traficantes.net/libros/estamos-para-nosotras
https://socorristasenred.org/
http://lavaca.org/media/pdf/trans-formaciones.pdf
https://alcoholyfotocopiasediciones.blogspot.com/
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 436 Juni 2020, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Gastautor:innen (*):

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.