Es kam, wie es kommen musste. Zu Beginn der Corona-Krise profilierte sich NRW-Ministerpräsident Laschet (CDU) als Vorreiter für die Öffnung des Lockdown. Als sie einsetzte, war die Erleichterung groß. Dann aber wurden ihre unangenehmen Begleiterscheinungen sichtbar. Vorreiter Laschet befindet sich plötzlich auf dem Rückzug. Seine guten Sympathiewerte sind über die Öffnung rapide gesunken.

Lob aus der Wirtschaft

Während der Isolation wuchs in der Bevölkerung mit jedem Tag die Sorge um das Wohl von Wirtschaft und Gesellschaft. Laschets unablässiges Drängen, über die Rückkehr zur Normalität nachzudenken und zu ihr zurückzukehren, trug dazu bei, den Stillstand zu verkürzen und ihn zu beenden.

Viele Menschen waren Laschet dankbar, vor allem Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Freiberufler, deren wirtschaftliche Basis zu bersten drohte. Sie nahmen gerne in Kauf, dass sein Vorgehen nicht ganz selbstlos war. Er kam den Wünschen der Wirtschaft entgegen, die unter großen Verlusten litt und den Zusammenbruch befürchtete.

Laschet inszenierte sich mit Bedacht als Anwalt der Wirtschaft. Diese Rolle entriss er seinem Parteifreund Merz, mit dem er um den CDU-Vorsitz konkurriert. Laschets Rechnung schien aufzugehen. Die Wirtschaft lobte ihn. Von Merz, der ihr in der Pandemie nicht helfen kann, rückte sie ein Stück weit ab.

Missratene Öffnung

Die Öffnung der Beschränkungen ist auch deshalb eng mit Laschet verbunden, weil sich sein CSU-Kollege Söder kräftig von ihm abgrenzte. Söder mahnt unablässig zur Vorsicht. Er hat die Wähler im Blick. Sie honorieren behutsames Vorgehen bei Gefahr. Seine Sympathiewerte stiegen stark an.

Laschet dagegen gewann mit seinem Öffnungskurs womöglich Anhänger in der CDU. In der Bevölkerung aber verlor er an Sympathie. Die fortschreitende Öffnung nährt die Sorge, die Corona-Krise könne sich erneut verschärfen. Gegen Laschet hat sich Unmut aufgestaut, auch weil die Öffnung ausgerechnet in NRW, den Land ihres Vorreiters, miserabel vorbereitet war.

Mit der Masseninfektion beim Fleischfabrikanten Tönnies und dem Lockdown für die Kreise Gütersloh und Warendorf gerät Laschet nun noch stärker unter Druck. Bisher stand nur die vage Vermutung im Raum, seine Öffnungspolitik könnte eine zweite Corona-Welle begünstigen. Nun muss er gegen Eindruck ankämpfen, sie sei in Ostwestfalen längst im Gange.

Sich angreifbar gemacht

Damit nicht genug, hängen Laschet auch die skandalösen Missstände im Unternehmen Tönnies nach, ebenso wie die Fehler und Versäumnisse im Umgang mit ihnen. Die schmalbrüstige Opposition im Düsseldorfer Landtag kann ihr Glück kaum fassen: Über seinen Öffnungskurs hat sich Laschet angreifbar gemacht.

Nun gewinnen auch jene Vorwürfe der Opposition an Gewicht, die bisher an ihm abzuprallen schienen: die mangelhaften Zustände in den NRW-Schulen etwa oder die misslungene Bemühung, die NRW-Städte von ihren horrenden Alt-Schulden zu befreien.

Mit der Öffnung, die Laschet betrieb, zerbrachen der Konsens und die Kooperation der Parteien im Kampf gegen das Virus. Mit dem ersten Schritt aus der Isolation wurde die Pandemie zum Gegenstand parteipolitischer Konfrontation. Sie verschärft sich zunehmend. Die Kritik an Laschet wird härter und lauter, nicht nur in der Politik, sondern auch in den Medien. Sein Krisenmanagement fängt an, in Verruf zu geraten.

Skandalöse Versäumnisse

Der Treiber ist dabei, zum Getriebenen zu werden. Statt souverän zu agieren, muss er immer häufiger auf unangenehme Sachverhalte reagieren, die mit der Öffnungspolitik erst möglich wurden. Auch Laschet mahnt zur Vorsicht. Seine Aufrufe aber klingen so, als fürchte er, dass ihm die schlimmen Folgen, die sich hier und da aus der Öffnung ergeben, ganz und gar entgleiten könnten.

Der Opposition bieten sich nun unerwartete Chancen. Sogar die seit Jahren vor sich hindösende NRW-SPD, die immer noch unter der bleiernen Starre der Ära Kraft leidet, wittert plötzlich Morgenluft. Die Partei krebst trotz passabler Arbeit ihrer Minister in der Bundesregierung nach wie vor auf niedrigem Niveau herum. Nun heißt es, Laschets Vorlagen zu nutzen, um sich zu berappeln.

Die SPD attackiert ihn heftig und lautstark. Sie prangert seine Versäumnisse an. Dabei lässt sie außer Betracht: Auch sie trägt Schuld an den skandalösen Bedingungen, unter denen viele ausländische Tönnies-Beschäftigte in Ostwestfalen arbeiten und leben müssen.

Ein Zugpferd gesucht

Diese Missstände tragen dazu bei, das Virus zu verbreiten. Nicht nur die CDU-Ministerpräsidenten Rüttgers und Laschet versäumten, die Verhältnisse in der Fleischindustrie grundlegend zu verbessern. Auch ihre SPD-Kollegen Clement, Steinbrück und Kraft sowie die in diesem Jahrhundert berufenen SPD-Arbeitsminister im Bund und in den Ländern haben die Missstände hingenommen, ebenso wie ihre Kabinettskollegen und die zahllosen Abgeordneten, die seit der Jahrtausendwende in den Parlamenten saßen und sitzen.

Die jüngsten Krisen beleuchten grell die Versäumnisse der Abgeordneten. Sie agieren nicht auf der Höhe der Zeit. Die Einwanderungsbehörden waren auf Zuwanderung nicht vorbereitet, die Verkehrsbehörden nicht auf die Defekte der Infrastruktur, die Gesundheitsbehörden nicht auf die Pandemie, die Schulbehörden nicht auf das Computerzeitalter, die Wirtschaftsbehörden nicht auf die Digitalisierung, die Polizei nicht auf den Kampf gegen Mafia, Clan-Kriminalität, Pädophilie und Terror von rechts und links.

Am 13. September finden in NRW Kommunalwahlen statt. Ein schwaches CDU-Resultat wäre ein schlechtes Omen für Laschets Ambition, CDU-Chef und Merkels Nachfolger im Kanzleramt zu werden. Wer wird dann glauben, er tauge als Zugpferd für die Bundestagswahl 2021? Wie viele Unionsanhänger mögen mit Blick auf die noch ferne Wahl wohl heute bedauern, dass die CDU- und CSU-Funktionäre in den vergangenen Monaten Merkel zum Abschied getrieben haben?
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.

Über Ulrich Horn (Gastautor):

Begonnen hat Ulrich Horn in den 70er Jahren als freier Mitarbeiter in verschiedenen Lokalredaktionen des Ruhrgebiets. Von 1989 bis 2003 war er als Landeskorrespondent der WAZ in Düsseldorf. Bis 2008 war er dann als politischer Reporter in der Essener WAZ-Zentralredaktion tätig. Dort hat er schon in den 80er Jahren als Redakteur für Innenpolitik gearbeitet. 2009 ist er aus gesundheitlichen Gründen ausgeschieden. Seine Beiträge im Extradienst sind Crossposts aus seinem Blog "Post von Horn". Wir bedanken uns für die freundliche Genehmigung zur Wiedergabe an dieser Stelle.