Lange nichts gehört vom britischen Corona-Kasper  – außer dass er weiter auf einen harten Brexit lossteuert. Die letzte Verhandlungsrunde mit der EU war eine Farce. Anscheinend hat sich der Spieler verzockt, Corona hat ihm die Wirtschaft verhagelt und trotzdem spekuliert er weiter. Sollte Donald Trump im Herbst nicht wiedergewählt werden, wofür es erste Anzeichen gibt, könnte auch die Spekulation Johnsons scheitern, zum ökonomischen “Flugzeugträger” der USA zu werden, der vor dem Europäischen Festland mit Dumpinglöhnen, Dumpingsteuern und Dumpingregulierungen ankert und den Europäern ein Mega-Spekulations- und Steuerfluchtparadies bietet, das die Isle of Man, Panama, die Cayman-Inseln und Liechtenstein im Super-Reichenförderungspaket zusammen nicht schaffen.

Unverhofft könnte Johnson ein Diktator in Fernost namens Xi Jingping zu Hilfe kommen. Das gestern in Kraft gesetzte sogenannte “Sicherheitsgesetz” für die ehemalige Kronkolonie Hongkong hat nämlich seine ersten Folgen: Viele Hongkong-Chinesen, die verzweifelt über die demokratische Entwicklung sind, spielen mit dem Gedanken, auszuwandern. Was der EU wenig bekannt ist, ist die Tatsache, dass schon jetzt etwa drei Millionen Honkong-Chinesen einen britischen Pass beantragen könnten. Eine massive Einwanderungswelle hochqualifizierter und gut ausgebildeter Arbeitskräfte könnte durchaus die Rettungsperspektive für die kleine unbedeutende Insel in der Nordsee sein. Allerdings wären da noch der in vielen Jahren gewachsene Alltagsrassismus und die einwanderungsfeindliche Stimmung, auf deren Wogen sowohl UKIP als auch Boris Johnson gesurft sind und Wählerstimmen für den Brexit geködert haben.

Das scheint auch die EU begriffen zu haben, denn schon melden sich die ersten Stimmen, die sich dafür aussprechen, Bürgern Hongkongs auch die Einwanderung nach Europa zu ermöglichen. Eine bessere Chance, hochqualifizierte, gut ausgebildete und überwiegend junge Kräfte, die sich sicher ähnlich leicht integrieren lassen, wie die vietnamesischen “Boat Peaople” nach 1968, hat die EU nicht. So könnte die chinesische Diktatur für eine Einwanderungswelle in Europa sorgen, die im Interesse der Wirtschaft und der Humanität wäre, hier aber auch auf Neonazis und Rechtsextremisten stieße.

Fragt sich nur, wie gut es auch bei den potenziellen Einwandere*innen ankommt, wenn sie feststellen, dass sie als überwiegend gut gebildete, akademische Einwander*innen mit offenen Armen aufgenommen werden, während sich die EU mit Stacheldraht, Grenzsperren, Tränengas und ohne Lebensrettung im Mittelmeer gegen Flüchtlinge aus Afrika abschottet. Oder zugespitzt: Demonstranten und Freiheitskämpfer für Demokratie aus Hongkong sind willkommen, Opfer von Gewalt, Massenvergewaltigung, Genitalverstümmelung, Sklavenarbeit in Lagern und Verbrechen von Boko Haram, IS, Al Khaida, türkischen oder syrischen Despoten haben keine Chance. Aber eine in der Praxis sich entwickelnde Zweideutigkeit des Begriffs “Menschenrechte” scheint im 21.Jahrhundert vielen schon gar nicht mehr aufzufallen.

Über Roland Appel:

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net